Sonntag, Oktober 6

«Dann platzen ja die Hoden irgendwann!» – Männer kennen ihren Körper zu wenig. Das schadet auch den Frauen.

Vor einigen Wochen redete ich mit einem Freund über etwas, was Männer eigentlich nie ernsthaft besprechen: Penis und Hoden. Ich hatte für eine Reportage über Verhütungsmethoden für Männer recherchiert und erzählte dem Freund vom sogenannten Verhütungsring. Einem Silikonring, den man sich über den Penis rollt, den Hodensack hindurchzieht, so dass die Hoden rückwärts in den Bauchinnenraum geschoben werden. Weil es dort wärmer ist, stellen sie die Spermienproduktion ein.

Der Freund reagierte irritiert: «Sind die Hoden nicht im Hodensack festgemacht?»

Die Frage scheint berechtigt. (Antwort: Manchmal, ja, etwa nach einer Operation, meistens aber nicht.) Aber müsste Mann so etwas über sein Geschlechtsorgan nicht wissen?

Einem anderen Freund erzählte ich von einer Verhütungsmethode, die in den USA und Australien erforscht wird. Dabei lässt man sich ein Gel in den Samenleiter spritzen. Dieses spannt eine Art Netz auf, dessen Maschen so eng sind, dass Spermien nicht hindurch gelangen. (Die Methode war in ersten Versuchen sehr effektiv.) Der Freund fragte überrascht: «Und was passiert mit all den Spermien? Wenn die zurückgehalten werden, platzen die Hoden ja irgendwann!»

Vielleicht finden nun einige Leserinnen und Leser diese Reaktion doch etwas absurd, aber glauben Sie mir: Diese zwei Freunde waren keineswegs Ausnahmen. (Die Hoden platzen übrigens nicht, der Körper absorbiert nicht ejakulierte Spermien nach einer Weile einfach.)

Aber was hatte ich denn vor der Recherche über meine Geschlechtsorgane gewusst? Und war mein Unwissen ein Problem gewesen?

Um ehrlich zu sein, hatte ich einfach eine gute Geschichte gewittert. Alle paar Jahre las ich von Verhütungsmitteln für Männer, die angeblich bald auf den Markt kommen und Pille, Spirale & Co für die Frau oder das Kondom überflüssig machen sollten. Verfügbar ist bis heute keines. (Wieso, lesen Sie in der ausführlichen Reportage hier.)

Eine elendigliche Situation, schliesslich kenne ich mehr als genug Freunde und Freundinnen, die mit den vorhandenen Verhütungsmethoden aus unterschiedlichen Gründen unglücklich sind: Sie fürchten Stimmungs- und Gewichtsschwankungen wegen der Hormone oder haben schlicht «keine Lust auf das Kondom».

An einem Sommerabend hatte mir eine Freundin erzählt, dass ihr Freund eine sehr simple Haltung zum Thema Verhütung habe:

«Er findet Kondome scheisse.»
«Ja, gut, das finden noch viele. Aber du nimmst ja die Pille nicht, oder?»
«Nehm ich nicht, nein.»
«Also . . .?»
«Ja, wir versuchen halt aufzupassen.»
«Und wenn du schwanger wirst?»
«Findet er, ich müsse abtreiben.»

Wen diese Haltung schockiert, der sollte sich bei Frauen in seinem Freundeskreis umhören – das zumindest rieten mir andere Frauen, nachdem ich schockiert reagiert hatte.

Natürlich hätte die Haltung des Freundes, die von einer gewissen Vaterschaftsfurcht (und Verantwortungslosigkeit) zeugte, dazu führen können, dass er sich für männliche Varianten der Verhütung umso mehr interessiert. Hätte, könnte. Texte über männliche Verhütungsmittel müssen im Konjunktiv geschrieben werden, seine Haltung erschien mir da fast schon konsequent.

Die Recherche zu Verhütungsmitteln für Männer war eine enttäuschende Erfahrung. Kurz: Die Sache ist kompliziert. Entweder fehlen noch weltweite Tests (teuer und langwierig), die Methode ist nicht reversibel (ungünstig, wenn man doch noch Kinder bekommen will), oder die Sache ist so kompliziert, dass sie niemals massentauglich sein wird (ein Ventil, das in den Samenleiter implantiert wird? Kaum das nächste Ozempic.)

Prägender war die Lernkurve, die jeder erlebt, der über Verhütung und Geschlechtermedizin schreibt: Wieso wurde das alles bis jetzt nur für Frauen entwickelt? Warum gibt es hier so wenige Experten? Wieso gibt es Frauenärztinnen, aber keine Männerärzte? Ah, es gibt Männerärzte (Andrologen, nicht dasselbe wie ein Urologe)? Was machen die genau? Wieso wusste ich das nicht? Wieso weiss ich, bis wann Frauen fruchtbar sind, habe aber von den Wechseljahren der Männer noch nie gehört?

Die Recherche machte mir bewusst, wie wenig wir Männer über unsere Geschlechtsorgane wissen. Und wie unangenehm es war, darüber zu reden, obwohl über Sex sonst heute sehr ungehemmt diskutiert wird. Ich hatte mir ein medizinisches Vokabular angeeignet, das mir half, relativ schamlos über Hoden, Penisse und Ejakulat zu reden, wodurch ich eine Weile bei Apéros und Feierabendbier eine wie ich fand durchaus unterhaltsame Ergänzung darstellte; andere hingegen gaben mir zu verstehen, dass die Gesellschaft ganz und gar nicht so schambefreit sei wie ein von seinem Wissensgewinn euphorisierter Journalist.

Mehrere Freundinnen aber dankten mir für meine Recherche. Die blosse Existenz dieses Textes schien ihren Anspruch zu legitimieren, dass sich auch ihre Partner dafür interessieren sollten, was ihrem Körper durch Verhütungsmethoden widerfährt.

Eine andere Freundin erzählte mir, dass sie ihren Freund schon lange aufgefordert habe, sich vasektomieren zu lassen. Dieser fand das mässig lustig und überhaupt nicht sinnvoll. Die Freundin glaubte, die Vasektomie sei ganz einfach rückgängig zu machen, der Freund wusste, dass dem keineswegs so ist. Immerhin ist das gefährliche Halbwissen, was die männlichen Fortpflanzungsorgane und deren medizinische Handhabe angeht, geschlechtergerecht verteilt.

Ich fragte mich während all der Gespräche, wer hier wie viel Schuld trägt. Hätten wir Männer uns mehr um die Informationen bemühen sollen? Oder hätte man sie uns nicht bereits in der Schule beibringen können?

Eisprung, weiblicher Zyklus, wann sich ein Ei einnisten kann, wie es befruchtet wird und Weiteres – das alles lernten wir im Biologieunterricht. Was wir nicht lernten: wie lange es dauert, bis ein Spermium produziert ist (etwa drei Monate), dass es erst im weiblichen Körper zu schwimmen beginnt, dort ein Botenstoff diese zielgerichteten Schwimmbewegungen auslöst und daher beispielsweise ins Wasser ejakulierte Spermien keine Chance haben, irgendein Ei zu befruchten. (Dieses Wissen wiederum hätte während der Gymi-Zeit einigen Urban Legends die Faszination genommen.)

Ich finde: Männer sollten das alles wissen. Natürlich angefangen bei der Frage, was Verhütung für Frauen bedeutet. Mehr noch, wie sie biologisch abläuft, welches Hormon im Frauenkörper was verändert. Wieso? Weil es sie schliesslich auch betrifft. Und weil man es ja nicht nur für sich selbst macht. Zumindest in einer Partnerschaft.

Natürlich wird das nichts daran ändern, dass es auf dem Markt nach wie vor – ausser dem Kondom – keine Verhütungsmethode für Männer gibt, die einfach und sicher ist. Aber eine solche fehlt auch deshalb, weil es immer heisst, Männer würden sich gar nicht dafür interessieren. Ein Zirkelschluss, der Pharmakonzernen als Ausrede dient.

Der Verhütungsforscher Michael Zitzmann, der vor ein paar Jahren die grosse WHO-Studie zur Pille für den Mann in Deutschland geleitet hatte, sagte mir, dass dieses Gerede vom fehlenden Willen der Männer sowieso überholt sei. Als sie damals Paare für die Versuche gesucht hätten, schalteten sie einen Aufruf online. «Innert drei Tagen hatten wir sechzig Paare. Das ist schnell! Sehr schnell!» Zitzmann ist ein sehr nüchterner Mann. Seit zwanzig Jahren forscht er an Verhütungsmethoden für Männer, er hätte auch verzweifeln können. Aber Zitzmann sagt: «Das Interesse war noch nie so gross wie jetzt.»

Manchmal verursacht das Unwissen auch viel Schmerz. Unnötigen Schmerz.

Während der Recherche landete ich in einer Art Online-Seminar, der sogenannten Spermanence: einer Beratungsstunde für junge Männer, die sich für die Methode der thermischen Verhütung mit dem zu Beginn erwähnten Ring interessieren. Durch die Spermanence führte der Franzose Maxime Labrit, der auch die entsprechenden Ringe produziert und verkauft.

Zwei Männer hatte er an jenem Abend schon beraten, da schaltete sich ein dritter junger Mann in die Online-Sitzung. Er hatte seine Kamera abgeschaltet. Eine gewisse Scham war mir beim Thema Verhütung durchaus vertraut, aber das hier war anders. Der junge Mann sagte, dass er schon vor drei Monaten in der Spermanence gewesen sei und er Labrit die Resultate seines Spermiogramms gezeigt habe. Seine Werte seien aber «nicht gut gewesen». Nun habe er die Ratschläge von Labrit befolgt und sein Sperma erneut getestet. Ich hörte etwas verwirrt zu. Was meinte er mit «nicht gut»? Was für Ratschläge hatte ihm Labrit gegeben?

Nun, er habe weniger Party gemacht, weniger getrunken, weniger geraucht, sich besser ernährt. «Ich weiss natürlich nicht, ob es mit den Pestiziden am Gemüse und so . . .» Langsam dämmerte mir, worauf er hinauswollte.

Er hatte Labrit bereits die Resultate seines neuen Spermiogramms geschickt und wartete jetzt gebannt auf dessen Einschätzung. «Hm . . .» Labrit machte eine längere Pause. «Ja, das sieht nicht gut aus. Wirklich. Also», wieder eine Pause, «die Beweglichkeit ist gering, sowieso die Zahl sehr tief, aber das Hauptproblem, die Köpfe, sie könnten gar nicht in ein Ei eindringen. Also, es tut mir leid, aber ich muss dir sagen: Du bist wahrscheinlich unfruchtbar.»

«Ich hatte das befürchtet», sagte der junge Mann. Ich konnte an seiner Stimme nicht erkennen, ob ihn die Botschaft mitnahm. Er erzählte, dass er Mitte zwanzig sei, dass er bis dahin nicht gewusst habe, ob er irgendwann Kinder wolle. Er hatte das Spermiogramm nur gemacht, weil er mit seiner Partnerin eine neue Verhütungsmethode ausprobieren wollte. Verantwortung übernehmen wollte. «Aber jetzt stelle ich mir natürlich schon Fragen: Was, wenn ich mit 30 doch Kinder will? Soll ich noch versuchen Spermien einzufrieren?»

Ich fand das eine erstaunlich abgeklärte Reaktion. Ich hatte mich, wie wohl die meisten Männer, immer wieder gefragt, ob ich nun doch auch Kinder haben sollte, aber eine Frage hatte ich mir nie gestellt: ob ich überhaupt Kinder haben kann. Weil ich automatisch davon ausgegangen war, dass dem ohnehin so sein würde? Oder weil ich der fatalistischen Meinung anhing, dass zu viel Wissen auch nicht unbedingt glücklicher macht?

In der Spermanence wurde mir klar, wie viel Leid erspart werden könnte, wenn Mann bereits in seinen Zwanzigern wüsste, dass die Spermienqualität nicht für eine natürliche Zeugung reicht. Bei Paaren, die Mühe haben, ein Kind zu zeugen, ist die Schuldige meist immer noch zuerst die Frau, dabei weiss man heute, dass bei 50 Prozent der unfruchtbaren Paare der Mann zumindest mitverantwortlich ist, weil seine Spermienqualität zu schlecht ist. Ein einfaches Spermiogramm könnte da immerhin Klarheit schaffen. Wer will, kann Spermien einfrieren und sein Glück später mit einer In-vitro-Befruchtung probieren. Oder einer neuen Partnerin immerhin offen sagen, dass Verhütung gar nicht notwendig sein wird. (Immerhin das Kondomproblem wäre gelöst.)

Klingt das zu transaktional? Vielleicht vor allem deshalb, weil es etwas ist, worüber man kaum spricht. Ich bin 36, manche meiner Freunde haben Kinder, andere nicht. Ich weiss von keinem Freund, der jemals ein Spermiogramm gemacht hätte (oder bei einem Andrologen war). Aber vielleicht meldet sich ja nach diesem Artikel einer und beginnt zu erzählen.

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