Donnerstag, November 28

Der Basler sagt, warum er an der EM den Fans in die Augen schauen musste. Und wie er seine Entwicklung vom Verlierer zum Nationalhelden sieht.

NZZ am Sonntag: Murat Yakin, zum Auftakt in der Nations League hat die Schweiz im September zwei Mal verloren. Jetzt geht es am Samstag auswärts gegen Serbien, es ist wegen der Vorgeschichte ein brisantes Duell. Gehen Sie das Spiel deshalb anders an?

Murat Yakin: Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube, das sind alte Geschichten. Es wäre nicht intelligent, das Ganze aufzukochen. Für uns ist die Vergangenheit kein Thema mehr, wir thematisieren das auch intern nicht mehr.

Granit Xhaka war in den Spielen gegen Serbien stets eine zentrale Figur. Gegen Dänemark hat Xhaka die rote Karte erhalten, es hat sich gezeigt: Es gibt ihn noch, den alten, impulsiven Xhaka. Wie nehmen Sie ihn wahr?

Er war nach der roten Karte sehr selbstkritisch, hat sich beim Team entschuldigt und ist anschliessend bis zum Schluss des Zusammenzugs bei uns geblieben.

Hat es Sie überrascht, dass er so überreagiert, dass das immer noch in ihm schlummert?

Nein. Er ist ein Gerechtigkeitstyp, und was in Kopenhagen passiert ist, dieses dänische Tor, obwohl Breel Embolo verletzt am Boden lag, hat ihn extrem gestört. Klar war seine Reaktion nicht ideal. Aber für mich ist das abgehakt.

Die Schweiz hat in Dänemark verloren und dabei fast eine Halbzeit in Unterzahl gespielt. Dann war sie im Heimspiel gegen Spanien ab der 20. Minute in Überzahl – und hat dennoch 1:4 verloren. Welche Aussagekraft haben die Spiele aufgrund der besonderen Umstände?

Es ist in beiden Begegnungen vieles gegen uns gelaufen. Ich fand es brutal, ein 1:4 gegen Spanien zu erklären, bei dem wir zum Beispiel nicht wussten, ob der Ball beim ersten spanischen Tor überhaupt die Linie überschritten hatte und warum unser 2:2 nicht gezählt hat. 2:2, ein Mann mehr: Da wäre das Spiel ganz anders gelaufen.

Eigentlich ist es sowieso ziemlich egal, was in der Nations League passiert, oder nicht?

Nein, egal ist es sicher nicht, etwa mit Blick auf den personellen Umbruch, den wir bewerkstelligen müssen.

Klar, ein Abstieg in der Nations League wäre nicht ideal. Aber die WM-Kampagne danach ist deutlich wichtiger.

Die Nations League hat auch ihre Bedeutung, finanziell und sportlich, mit Blick auf die Weltrangliste. Und jetzt, mit dem neuen Modus, dank dem die ersten zwei in die Final Four kommen können, ist die Nations League noch interessanter geworden.

Wie haben Sie die Zeit seit den letzten Länderspielen verbracht, haben Sie Spiele und Spieler besucht?

Nein, der Herbst ist weniger geeignet für solche Besuche, weil es eine intensive Zeit ist für die Spieler. Der Assistenztrainer Giorgio Contini, der Video-Analyst Kevin Ehmes und ich schauen uns die Spiele im Fernsehen an und teilen auf, wer welche Spiele verfolgt. So können wir mehrere Fussballer gleichzeitig beobachten.

Wie muss man sich ein solches Weekend vorstellen, sitzt Murat Yakin die ganze Zeit zu Hause vor dem TV?

Man kann Spiele auch aufnehmen, aber am liebsten schaue ich sie mir schon live an. Wenn ich eine Aufnahme anschaue, kenne ich das Resultat, dann schaut man nicht mehr mit der gleichen Spannung hin.

Gibt es gewisse Spieler, die Sie in letzter Zeit besonders im Blick hatten?

Das Gerüst des Teams steht. Wenn jemand wie Gregory Wüthrich ausfällt, dann schauen wir uns vielleicht auf der Innenverteidiger-Position ein paar Spieler etwas genauer an. In der Offensive beobachtet man, wie sich etwa ein Zeki Amdouni nach seinem Wechsel zu Benfica Lissabon schlägt.

Gibt es auch Spieler, bei denen Sie denken: Warum ist der in der Nationalmannschaft nicht so gut wie im Klub?

Das ist ja kein neues Phänomen, und manchmal ist es auch umgekehrt. Auf wen spielen Sie an?

Auf Denis Zakaria. Er wird in Frankreich mit Lob überschüttet, ist Captain beim Spitzenklub Monaco. In der Nationalmannschaft tut er sich seit Jahren meist schwer.

Wir haben gerade auf dieser Position im zentralen Mittelfeld so viele gute Spieler, vor allem auch Fussballer, die in unserem gegenwärtigen System etwas bewegt haben, allen voran Granit Xhaka und Remo Freuler. Denis konnte leider keinen grossen Beitrag leisten, weil er vor der EM verletzt war. Unser Spiel ist nicht ganz auf ihn zugeschnitten. Der Spielaufbau und unser Kombinationsfussball funktioniert mit Freuler und Xhaka sehr gut. Denis ist zudem ein anderer Spielertyp.

Trotzdem ist es erstaunlich, dass Zakaria seit Jahren nicht richtig ankommt im Nationalteam.

Es wird einfach schwierig für einen anderen Spieler, wenn ein Duo in unserer taktischen Ausrichtung so gut funktioniert wie Freuler und Xhaka. Denis hat ein anderes Profil. Er spielt derzeit in Frankreich, das ist eine Liga, in der athletischer gespielt wird. Dort kommen seine Dynamik und seine Vertikalität besser zum Zug als beispielsweise in Italien, wo der Fokus mehr auf der Defensive liegt.

Ein Spieler, der in letzter Zeit viel zu reden gab, ist der Milan-Stürmer Noah Okafor. Nun gehört er erneut nicht zum Aufgebot, obwohl Ruben Vargas verletzt fehlt. Weshalb?

Wir hatten nach der EM ein gutes und offenes Gespräch. Er hatte letzte Woche auch eine kleine Verletzung. Deshalb steht er diesmal auf der Pikettliste. Wir haben uns für diesen Zusammenzug entschieden, weil wir anderen Spielern eine Chance geben wollen, die wir auch beobachten möchten. Die Tür ist aber nach wie vor offen für Noah.

Als im August bekannt wurde, dass Okafor nicht zum Kader gehört, hat er auf Instagram angedeutet, dass er sich unfair behandelt fühlt. Wie haben Sie das aufgenommen?

Am Schluss liegt es an ihm, auf dem Platz eine Reaktion zu zeigen. Alles andere interessiert mich weniger.

Und diese Reaktion von Okafor haben Sie in letzter Zeit vermisst?

Wir beobachten ihn sehr genau, und bei den Einsätzen bei Milan hat man gesehen, dass er Gas gibt, selbst wenn er nur wenige Einsatzminuten hat. Das ist der richtige Weg, um sich wieder ins Team zu spielen.

Sie haben vom Umbruch gesprochen, der nach den Rücktritten von Yann Sommer, Fabian Schär und Xherdan Shaqiri nötig ist. Wen vermissen Sie am meisten?

Jeder hatte seine Rolle. Den Erfahrungsverlust kann man nicht so schnell wettmachen. Aber das waren Entscheidungen, die sie getroffen haben. Am Ende vermisse ich jeden guten Spieler, das ist klar. Aber es ist auch eine Chance für andere Fussballer.

Bei den Rücktritten gab es Nebengeräusche. Shaqiri kommunizierte sogar kurz vor der Pressekonferenz zu Ihrer Vertragsverlängerung, das war eine Provokation. Schärs Rücktritt, das sagten Sie danach, hat Sie überrascht und persönlich getroffen.

Da muss jeder selbst überlegen, was er daraus macht. Ich hatte danach immerhin etwas zu besprechen an meiner Pressekonferenz. (Lacht.) Nein, Shaqiri hat grosse Verdienste für die Nati und für unser Land erworben, ich hatte mit ihm einen guten Austausch. Wer am Schluss wie kommuniziert, das ist mir absolut egal.

Von aussen betrachtet lief es nicht ideal ab, bei Shaqiri, bei Schär, letztlich auch bei Sommer.

Das ist vielleicht die Ansicht von euch Journalisten. Wir haben bei keinem Spieler Druck gemacht, wir haben niemanden gezwungen, es war ihre Entscheidung.

Der Umbruch, das haben die ersten Spiele gezeigt, wird nicht einfach. Gerade Schär, mit dem die Dreierkette in der Abwehr so stark funktioniert hat, ist schwer zu ersetzen. Gibt es die Überlegung, wieder auf eine Viererkette umzustellen?

Die Überlegung ist, dass wir formstarke Spieler immer irgendwo einsetzen wollen. Wir haben gerade über Denis Zakaria gesprochen. Ich kann mir vorstellen, ihn auch einmal in der Dreierkette einzusetzen. Auf der rechten Seite oder möglicherweise sogar im Zentrum, wo er auch schon bei Monaco gespielt hat.

Im Zentrum spielt schon Manuel Akanji, der Abwehrchef . . .

Akanji spielt bei Manchester City auch oft auf der rechten Seite. Dort kann er mehr für die Offensive machen, das Spiel gestalten. Ich bin offen für solche Lösungen. Aber klar, wir sind grundsätzlich gut eingespielt in der Achse. Am Ende müssen das auch die Spieler wollen.

Oder Sie versuchen noch einmal, Fabian Schär umzustimmen.

Glauben Sie mir, wir haben in dem Gespräch mit ihm alles probiert, aber er war überzeugt von diesem Schritt.

Der kurzfristige Umbruch ist das eine. Das andere ist die längerfristige Perspektive. Themen wie: immer weniger Einsatzminuten für junge Schweizer Spieler. Studien, die zeigen, dass die Schweiz mittlerweile weniger Topspieler ausbildet als vergleichbare Länder. Haben Sie den Eindruck, dass die Nachwuchsarbeit schlechter geworden ist?

Das würde ich so nicht bestätigen. Vielleicht sind die Erwartungen zu hoch. Wir machen den Jungen keinen Gefallen damit, wenn wir nur an einen Granit Xhaka denken, der mit 19 ins Ausland ging und bei Gladbach gleich eine wichtige Rolle übernommen hat. Fabian Schär etwa ging später, musste Umwege in Kauf nehmen. Xherdan Shaqiri auch. Ich sehe Spieler wie einen Zeki Amdouni, einen Fabian Rieder, einen Aurèle Amenda, einen Bryan Okoh und weitere.

Ein junger Spieler der Kategorie Xhaka, Shaqiri, Embolo, die schon mit 18 Jahren in der Nationalmannschaft debütierten und früh ins Ausland gingen, fehlt derzeit.

Wir habe einen Ardon Jashari, der ein ähnliches Profil hat wie Granit Xhaka . . .

. . . aber längst nicht so weit ist wie Xhaka in diesem Alter.

Ja, eben, die Erwartungen sind vielleicht zu gross. Darum sind wir froh, dass wir Spieler wie Xhaka, Embolo oder Freuler noch haben. Jetzt müssen wir jüngere Spieler ans Team heranführen.

Vor fünf Jahren war es klarer, wer in fünf Jahren das Team prägen wird, als es das jetzt ist.

Wer weiss schon, was in fünf Jahren ist. Wir haben wirklich Spieler, die nachkommen, ich habe die Namen erwähnt. Aber es braucht Zeit, man hat das bei Rieder gesehen. Shaqiri hat damals bei Bayern auch nicht oft gespielt. Xhaka war eine Ausnahme.

Reden wir über die Einsatzzeiten von Schweizern unter 21 Jahren in der Super League. Sie gehen zurück, obwohl man weiss: Der Weg zum Nationalspieler führt über Spielpraxis in der Schweiz. Beschäftigt Sie das als Nationaltrainer?

Ich finde, es gibt verschiedene Klubs, die es gut machen, der FC Luzern etwa. Wir haben keinen Einfluss auf das Format der Liga. Diese Zahlen sind eine Folge davon, dass jeder Klub unter Druck steht, selbst in der Challenge League. Der neue Modus hat für mich diesbezüglich die Situation verschlimmbessert.

Wie würden Sie den Schweizer Profibetrieb denn zusammenbauen?

Wir haben in der Schweiz einen Wert, der uns wichtig ist: Sicherheit. Ich kenne die Challenge League aus eigener Erfahrung als Trainer beim FC Schaffhausen. Wer dort einen Profibetrieb in einer Zehner-Liga führt, hat immer Angst vor dem Abstieg – und setzt eher auf erfahrene Spieler. Ich würde eine Challenge League machen mit 18 Mannschaften, auch zu Ausbildungszwecken. Das würde mehr jungen Spielern die Möglichkeit geben, ohne Druck zu spielen.

Schauen wir noch zurück auf die EM im Sommer. Denken Sie noch oft an das Penaltyschiessen gegen England, dieses jähe Ende nach den tollen Wochen in Deutschland?

Ich selbst denke weniger an die EM, aber auf der Strasse werde ich immer wieder darauf angesprochen.

Werden Sie nicht wehmütig, wenn Sie daran denken, dass Murat Yakin der Trainer hätte sein können, der die Schweiz in einen EM-Halbfinal oder noch weiter geführt hat?

Das Wissen, wie weit wir hätten kommen können, beruhigt mich eher. Mit dieser Mannschaft, diesem Rhythmus, dem Selbstvertrauen. So gehen wir die nächsten Aufgaben an.

Dieses fast perfekte Spiel gegen England im Viertelfinal, dieser eine Schuss von Saka zum 1:1, der irgendwie durchkam, das muss doch noch weh tun.

Ja, klar, aber das ist Fussball. Es geht weiter. Was mich mehr erstaunt hat, war die Reaktion der Spieler. Klar, sie waren unmittelbar danach am Boden zerstört. Aber ein paar Stunden später sagten sie: Okay, es ist vorbei, schauen wir nach vorne.

Haben Sie das Gefühl, eine solche Konstellation wie in diesem Sommer, die Ambiance um das Team, die Taktik, der Flow, lässt sich noch einmal herstellen?

Das kann man nicht sagen. Ich glaube, das hat sich in Deutschland wirklich entwickelt. Wir hatten eine gute Vorbereitung, ein starkes Team, das Momentum kam dazu. Es gab nie grosse Nebengeräusche, alle konnten sich auf den Fussball konzentrieren. Wir waren im Hotel für uns alleine. Alles hat ineinander gegriffen.

Das kann man sich alles merken für das nächste Turnier.

Ich bin kein Fan davon, Kopien zu machen, etwas zu wiederholen. Es geht immer um Gespür, um Intuition.

Vor der EM fanden 25 Prozent der Schweizer, dass Murat Yakin der richtige Trainer sei. Danach waren Sie ein Nationalheld.

Was wollen Sie jetzt von mir hören?

Wie sich diese Höhen und Tiefen anfühlen.

Ich kenne das seit 30 Jahren. Ich habe gelernt, nicht so euphorisch zu sein, wenn es gut läuft. Und nicht so kritisch, wenn es schlecht läuft.

So leicht geben wir nicht auf. Der schwierige Herbst 2023, die massive mediale Kritik. Die Umfrage und die Erwartungen vor der EM. Dann das grandiose Turnier. Das macht doch etwas mit einem, wie man heute sagt.

Am Ende liegt die Realität im Fussball auf dem Platz. Wenn man am Spielfeldrand entlangläuft und den Zuschauern in die Augen schaut. Diese Reaktionen sind ehrlich. Darum machte ich an der EM vor den Spielen diese Runden und ging bei den Fans vorbei. Was jemand in die Tastatur schreibt und dann mit einem Knopfdrücken sendet: Was soll ich mich darüber aufregen? Ich kenne die Spielregeln. Das gehört einfach zum Geschäft.

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