Montag, September 30

Denken heisst Fragen stellen. Gerade da, wo die Dinge selbstverständlich scheinen. Das ist irritierend, aber notwendig.

Wenn es zuweilen heisst, über Geschmack lasse sich nicht streiten, gilt das wohl auch für die Frage, was stört. Was die einen irritiert, juckt die anderen offenbar nicht im Entferntesten. Gleichwohl geraten wir uns regelmässig in die Haare über die Grenzen des Zumutbaren: Sollten Laubbläser verboten werden? Stören entblösste Frauenbrüste im Schwimmbad? Ist lautstarkes Telefonieren im Tram eine Frechheit?

Doch beginnen wir erst, alles eliminieren zu wollen, was Anstoss erregen könnte, ist es mit unserer Freiheit schnell dahin. Kein Wunder, sorgte die Stadtzürcher Kampagne «Erlaubt ist, was nicht stört» zur gemeinsamen Nutzung des öffentlichen Raums für Kopfschütteln – nicht nur bei liberal gesinnten Geistern, die ein Wiederaufleben der Sittenpolizei fürchteten. Sie sorgte auch für humoristische Gegenkampagnen mit Slogans wie «Erlaubt ist, was die Polizei nicht sieht» oder als maximales Einknicken formuliert: «Erlauben wir uns nichts, es stört.»

Wobei gewisse Störelemente ungeteilt alle zur Weissglut bringen. Die Fahrleitungsstörung, die endlose Warteschlange, langsames WLAN oder die Stechmücke bei Nacht. Wer hat sich nicht schon über ein lästiges Insekt im Schlafzimmer geärgert und mit einer Zeitung oder einem Hausschuh bewaffnet nach dessen Leben getrachtet?

Umso erstaunlicher, dass Sokrates ausgerechnet dieses Tier adelt, indem er sich selbst und sein Philosophieren mit ihr vergleicht. In seiner «Apologie» beschreibt er sich als lästige Stechfliege, die das «träge Pferd Athen», seine Heimatstadt, sticht und triezt, damit sie in Bewegung komme und ihre Bürger in ihren verkrusteten Überzeugungen aufgestört werden. Die sokratische Philosophie wird also aus dem Willen zur gezielten Störung geboren, mittels radikaler Infragestellung gesellschaftlicher Normen und Werte Erkenntnisgewinne und sozialen Fortschritt zu erzielen.

Geh mir aus der Sonne!

Der antike Philosoph ist dabei nicht der erste und letzte, der die Philosophie als Störaktion charakterisiert – denken wir etwa an Diogenes von Sinope, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte und bekannt ist für seine radikale Ablehnung sozialer Konventionen. Mit seiner Behausung im Fass und seiner Bitte an Alexander den Grossen, er möge ihm «aus der Sonne gehen», prangerte er nicht nur den Materialismus seiner Zeitgenossen an, sondern auch ihre devote Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten aller Art. Über den lasterhaften Charakter seiner Mitbürger machte er sich lustig, indem er bei helllichtem Tag mit einer Laterne durch die Strassen ging auf der Suche nach einem ehrlichen Menschen – heute würde man das vermutlich als Kunstaktion, als Performance, verkaufen.

Schon im antiken Griechenland verstanden manche Philosophen ihre Aufgabe darin, Sand ins Getriebe der Gesellschaft zu streuen. Auch Friedrich Nietzsches wortwörtlich explosives Bekenntnis «Ich bin Dynamit!» steht in dieser Tradition. Die Umwertung der Werte, der sich der Denker verschrieben hat, wird nicht mit freundlich vorgetragenen Argumenten zu erzielen sein, mit dem geruhsamen Abwägen dafür und dawider, sondern gefragt ist da offenbar weit härteres Geschütz.

Dabei sind es, was die Philosophie anbelangt, nicht allein die Fragestellenden, die nicht lockerlassen und ihrem Gegenüber wortwörtlich auf den Geist gehen, weil sie ihr Denken ins Schlingern bringen, nein, es sind auch unsere eigenen inneren Fragen, die Insektenschwärmen gleich in unserem Kopf herumschwirren. Wache Geister brauchen denn auch keinen Sokrates, um sich von philosophischen Fragen irritieren zu lassen. Vielmehr werden sie permanent von Fragen belästigt, die ihnen die Vernunft aufgibt, die diese aber aus eigenem Vermögen nicht zu lösen im Stande ist, wie Immanuel Kant in seiner Vorrede zur «Kritik der reinen Vernunft» schreibt.

Freilich kann man sich den philosophischen Fragen auch verweigern und sich ein Leben lang dem dogmatischen Schlummer hingeben, von dem Kant auch spricht. Wer aber an der Wahrheit interessiert ist, wird sich stets von neuem aufstören lassen, ja aufstören lassen müssen, weil die inneren Fragen nicht zur Ruhe kommen. Aber stören wir uns heute wirklich noch an Gedanken und Ideen, auch in unseren westlichen Demokratien?

Vorherrschende Meinung

Zweifellos. Zwar haben wir heute keine Inquisition mehr zu fürchten. Dennoch werden gegenwärtig wieder zunehmend Bücher aus öffentlichen Schulen und Bibliotheken verbannt – etwa in den USA, wo gemäss Pen Amerika in den letzten drei Jahren allein in Florida mithilfe eines neuen Gesetzes über 3000 Titel aus Schulbibliotheken entfernt wurden, weil sie von LGBTQ+-Identitäten und Rassismus handeln oder explizite Liebesszenen beinhalten, darunter Bücher von Weltrang, etwa von Leo Tolstoi, Ernest Hemingway oder Toni Morrison.

Liest man Berichte darüber, wie oft stossende Positionen gecancelt und streitbare Persönlichkeiten ausgeladen werden, scheinen wir zwar nach wie vor versessen darauf, an unserem Tunnelblick festzuhalten. Allerdings ist es in unseren westlichen Demokratien nur noch in seltenen Fällen der Staat, der missliebige Störenfriede zum Schweigen bringt, sondern sehr viel öfter ist es die Gesellschaft, sind es also letztlich wir selbst, die nicht bereit sind, sich in ihrem Weltbild erschüttern zu lassen.

In diesem Sinne liest sich die Schrift «Über die Freiheit» des britischen Ökonomen und Philosophen John Stuart Mill geradezu visionär. Er schrieb schon Mitte des 19. Jahrhunderts, die zentrale Gefahr für die Meinungsäusserungsfreiheit rühre nicht von der staatlichen Obrigkeit, die uns unters Joch zwinge, sondern wir selbst seien es, die dermassen ungern in ihren Ansichten gestört würden, dass wir alles, was irritiere, ausgrenzten.

Viel lieber trotteten wir gedankenlos wie Schafe in einer Herde mit und unterjochten uns selbst der «Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens». Wer ausschert aus der Herde, habe deshalb einen schweren Stand. Und Mill resümiert: «Dass so wenige wagen, exzentrisch zu sein, enthüllt die hauptsächliche Gefahr unserer Zeit.» Denn damit werde der Geist nicht weniger als «selbst ins Joch gebeugt».

Grabenkämpfe

Dabei bedürften wir des freien und exzentrischen Denkens dringend. Denn erstens bleiben wir in unserem Urteil immer fehlbar. Deshalb gilt es, jede Meinung anzuhören, klinge sie noch so abwegig. Zumal uns der diskursive Streit, zweitens, auch dann weiterbringt, wenn wir im Recht sind. Denn nur wer beständig die eigenen argumentativen Waffen wetzt, vermag im Denken geschmeidig zu bleiben. Eine Gesellschaft, die sich nicht in einem behaglichen Quietismus einrichten, sondern sich zum Besseren entwickeln will, braucht also offenbar hie und da Sand im Getriebe, der das allzu flotte Niederbeten des Ewiggleichen ins Stottern bringt und die stete Frage duldet, ob es nicht auch anders, nämlich besser, gerechter, klüger ginge.

Doch ist es nicht befremdlich, ja geradezu obszön, heute ein Loblied auf die Störung anzustimmen angesichts der Tatsache, dass eine meteorologische Störung gerade Teile Europas, aber auch Afrikas in katastrophalem Ausmass unter Wasser gesetzt hat? Oder dass unsere gegenwärtigen Gesellschaften eher an zu viel Turbulenz und Querulanz leiden und an den so entstehenden Grabenkämpfen zu zerbersten drohen?

Sieht sich unsere Welt nicht gerade aufs Schwerste herausgefordert von verblendeten Fundamentalisten und egozentrischen Populisten, die nichts lieber wollen, als radikal zu stören und zentrale Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder Menschenrechte in den Abgrund zu stürzen? Zugegeben: Nicht jede Störaktion ist produktiv, der Sand im Getriebe kann auch äusserst destruktiv wirken.

Dabei ist eines klar: Auch wenn der Stromausfall oder ein Unwetter gewaltigen Schaden anrichten können – am meisten setzen uns die Störungen zu, die von Menschen ausgehen: im harmloseren Fall von ihren Ausdünstungen und Geräuschen, ihren Einwänden und ihrem Sauglattismus, im schlimmeren Fall von ihrer Respektlosigkeit oder ihrer Gewalt. Denn anders als die Natur oder eine Maschine sind wir frei in unserem Tun und können entsprechend rücksichtsvoll handeln oder das Wohlbefinden des Gegenübers nonchalant ausblenden oder sogar absichtlich stören.

Fauler Friede

Wir müssen also die menschliche Störaktion nicht nur aushalten und bewältigen, sondern allzu oft auch noch persönlich nehmen, was die Sache nur noch schlimmer macht. Wir sind einander zwar hoffentlich nicht immer die Hölle, wie Jean-Paul Sartre meinte, aber doch oftmals eine Zumutung füreinander. Zusammenzuleben, heisst deshalb womöglich nicht mehr und weniger, als Störungsmanagement zu betreiben, «trouble shooting», wie das Neudeutsch heisst, und dafür zu sorgen, dass alle möglichst unbehelligt ihr Dasein fristen können.

Wie also können wir in Frieden zusammenleben angesichts der naturgegebenen Tatsache, dass wir einander immer wieder in die Quere kommen, die Störung aber gleichwohl brauchen, um nicht einzurosten im Ewiggleichen? Die Zentralfrage einer Philosophie der Störung muss ganz offensichtlich lauten: Wie lässt sich die produktive Störaktion von der destruktiven scheiden?

Auf der Suche nach einer Antwort gilt es als Erstes zu fragen, was das für eine Ordnung oder Ruhe ist, die da gestört wird: eine, die ihrerseits destruktiv und spaltend wirkt, oder eine, die vornehmlich schützt und dem Wohle aller dient?

Denken wir an die missliebige Figur des Spielverderbers, der während einer friedlichen Partie zu schummeln beginnt. Ist das Spiel, das er stört, ein an sich faires und halten sich alle anderen Beteiligten an dessen Regeln, wird er zu Recht gemassregelt. Ist das Spiel jedoch ein falsches, in dem der Störenfried selbst betrogen wird, stört er zu Recht und wird womöglich sogar zum Helden: zu einem, der eintritt für jene, die unter den unfairen Regeln leiden, und der das Spiel zu einem besseren wenden will. Ob der Störenfried produktiv ist, hängt also anders gesagt auch davon ab, ob der Frieden, den er stört, ein fauler ist. Nur wer den guten Frieden stört, ist ein Querulant.

Die Regeln der Vernunft

Damit stellt sich freilich eine neue Frage, nämlich jene nach der Definition des guten, schützenswerten Friedens. Hier lohnt ein Seitenblick auf die Geburtsstunde des Störenfrieds, der in Thomas Hobbes’ Schrift «Vom Bürger» in der Gestalt des «Puer robustus» die philosophische Bühne betritt. Hobbes fragte sich in seiner politischen Theorie, wie wir in Frieden zusammenleben können angesichts der Tatsache, dass wir einander naturgemäss permanent in die Quere kommen.

Hobbes’ «Leviathan» steht dabei für eine Ordnung, in der die einzelnen Subjekte aus vernünftigen Gründen gewisse Rechte an den Staat abtreten und sich aus freien Stücken seinen Regeln unterwerfen, weil sie eingesehen haben, dass dies zu ihren eigenen Gunsten ist, gerade weil es ihre Natur ist, gerne zu stören. Das heisst freilich nicht, dass die so befriedete Gesellschaft fortan nicht mehr gestört würde, denn nicht alle machen mit bei diesem Pakt.

Der «Puer robustus» schiesst gegen die etablierte Ordnung, wo er nur kann. Für Hobbes ist dieser Querulant zwar kindisch, ein «puer» eben, ein Knabe noch, aber brandgefährlich, weil er sich weigert, einzusehen, was wir als Erwachsene eigentlich verstehen müssten: dass ein Gemeinwesen nur funktionieren kann, wenn sich alle als dessen Teil begreifen. Und der Staat, den Hobbes errichtet, hält doch allen Regeln der Vernunft stand und gehört infolgedessen respektiert und geschützt?

Im Grundsatz ja. Doch denken wir zurück an Sokrates. Auch die Athener Obrigkeit war wohl der Ansicht, die etablierte Ordnung sei die bestmögliche. Sokrates war ihr gerade deshalb ein Dorn im Auge, weil sie das errichtete System um jeden Preis verteidigen wollte. Doch niemand kann garantieren, dass sie auch tatsächlich das bestmögliche Staatswesen etabliert hatte. Eine jede Ordnung muss deshalb Störungen ertragen, weil sie es sonst verpasst, sich beständig zu erneuern und zu verbessern.

Eine bessere Ordnung

Das gilt erst recht, wenn sie als demokratisch bezeichnet wird. Denn eine Ordnung, die sich unter keinen Umständen stören lassen will, ist keine demokratische. In der Gestalt der Störenfriede stellt sich damit die Grundfrage jeder politischen Ordnung: Wie legitimiert sich der Status quo? Denn keine Ordnung ist ohne Alternative. Und doch ist nicht jede Störaktion legitim.

Institutionen sind grob skizziert dann schützenswert, wenn sie jenen, die ihnen unterworfen sind, ein Leben in Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit ermöglichen und just deshalb dafür sorgen, dass wir eben in einer mehr oder minder prosperierenden Ordnung leben und nicht im Strudel permanenter Störung untergehen. Ja, man kann sogar sagen, von einer Störung kann überhaupt nur die Rede sein, wenn das Gegenteil davon, nämlich die gegenseitige Rücksichtnahme, die Norm ist. Wo alle stören und alles gestört ist, verschwindet die Störung selbst, weil die Ruhe oder der Frieden fehlen, die überhaupt erst attackiert werden könnten.

Um den produktiven vom destruktiven Störenfried zu scheiden, lohnt sich zweitens ein Blick auf dessen Motiv: Kämpft er allein für seine eigene Sache oder für etwas, was seine Interessen übersteigt? Denken wir zurück an John Stuart Mill: Der Exzentriker ist seiner Ansicht nach nicht zuletzt um der Liebe zur Wahrheit willen zu tolerieren, weil wir uns schlichtweg nie sicher sein können, dass wir nicht doch falschliegen.

Wir haben entsprechend das Recht auf Störung, wenn wir der Wahrheit dienen wollen – oder politisch gedacht: der gerechtfertigten Ordnung. Es geht also beim produktiven Stören nicht darum, einfach destruktiv sein zu wollen, sondern vielmehr das konstruktive Ansinnen zu verfolgen, durch Kritik und Nachfrage eine bessere Ordnung zu errichten. Dem destruktiven Störenfried geht es hingegen vornehmlich um sich selbst. Sobald die alte Ordnung zertrümmert ist und er an die Macht gelangt, beginnt der Querulant, sich in seiner eigenen Welt der Vorurteile einzurichten und diese hermetisch gegen jede Kritik abzudichten.

Die laute Welt

Genau damit macht er sich unglaubwürdig. Denn in letzter Konsequenz muss jeder Störenfried, will er für die Freiheit antreten, bereit sein, sich selbst auch wieder stören zu lassen, wie Dieter Thomä in seiner glänzenden Studie über den «Puer robustus» von 2016 zeigte. Denn wo die Störung weder Kritik aushält noch Kompromissbereitschaft zeigt, ist sie nicht länger Störung, sondern gerinnt zur Ideologie, die nichts mehr hasst, als ihrerseits infrage gestellt zu werden.

Störung ist also dann produktiv, wenn sie stört, was eben gerade nicht respektiert, sondern gestört gehört; und wenn sie stört um des Guten willen. Sind diese Kriterien erfüllt, täten wir gut daran, uns die Störung gefallen zu lassen und in eine modifizierte bessere Ordnung zu finden. Manche sind freilich so genervt ob all der Diskussionen, so störungsmüde notabene, dass sie einfach ihre Ruhe wollen. Nicht nur die Klimakleber sollen verschwinden, sondern mit ihnen die ganzen Talkshows und Debatten, die News, ja am liebsten die ganze laute Welt mit ihren Grabenkämpfen, Positionsbezügen und Streitereien.

Das vorherrschende Gefühl unserer Zeit scheint ja gerade nicht darin zu bestehen, dass die meisten besonders störungslustig sind (bis auf gratismutige Aktionen in den sozialen Netzwerken, die meist so schnell verpuffen, wie sie abgesetzt sind), sondern dass das Gros der Bevölkerung eher übermässig störungsanfällig ist. Dem gegenwärtigen Menschen ist es «grad etwas viel», er betreibt «cocooning» und schottet sich im eigenen «safe space» ab, wo er sich gegen Kritik, Infragestellung und Anklage verwahrt und sich nicht aus seiner geliebten Ruhe bringen lässt.

Aber nicht nur die Sensiblen, Überreizten machen die Schotten dicht und wollen in erster Linie ungestört sein und bleiben. Ganz ähnlich agieren die harten Kerle, die nicht nur ihre Muskeln stählen, sondern auch ihren Geist und ihre Willensstärke. Auf ihrem Schreibtisch liegen Bändchen mit stoischen Weisheiten, die findige Pseudophilosophen auf Lebensmaximen für erfolgreiche Manager eingedampft haben. Herz und Geist werden innerlich mit Teflon überzogen, so dass nichts ablenkt von der Maximierung des eigenen Glücks.

Lasst mich in Ruhe!

In Italien gibt es für diese Haltung das schöne Wort des «Menefreghismo»: eine an Apathie grenzende Gleichgültigkeit. «Me ne frego», «das juckt mich nicht, geht mir am Allerwertesten vorbei, ist mir ganz und gar wurscht!» Hier wird Gelassenheit mit Gleichgültigkeit verwechselt. Solch stählerne Selbstbeherrschung hat mit den Vorstellungen und Rezepten der antiken Stoa freilich nicht mehr viel zu tun, der es neben der Einübung der Seelenruhe immer auch um die Förderung von Empathie ging.

Und tatsächlich: Ginge es angesichts unserer brüchigen Weltlage nicht darum, uns gerade nicht in Watte zu packen oder abzuschotten, sondern wach zu bleiben für die Störungen in dieser Welt? Erinnern wir uns an John Stuart Mills Bild der Schafherde, in der die meisten willfährig mittrotten, nicht nach links und rechts blickend, sondern nur das eigene Wohl beziehungsweise Fressen im Blick habend. Die Herde fürchtet den Schäferhund, die Menschenschafe senken den Kopf und haben verinnerlicht, was einst nach der Französischen Revolution den Menschen eingebläut wurde: «Ruhe ist erste Bürgerpflicht!» Senkt das Haupt, seid still und fresst und schlaft, wie es sich für ordentliche Herdentiere gehört!

Angesichts der Tatsache, dass in unserer Welt Hunger und Not, Entrechtung und Einsamkeit keineswegs der Vergangenheit angehören, dass populistische Zyniker in vielen Erdteilen nach der Macht greifen und wir die Klimakrise nicht im Ansatz hinreichend entschlossen angehen, ist keine sich duckende Herde gefragt, sondern gefragt sind Menschen, die den Blick heben und um sich schauen, nicht um in erster Linie die eigene Lage zu verbessern, sondern um für entschlossenes Handeln einzustehen.

Es mag deshalb an der Zeit sein, die Schriften der französischen Philosophin Simone Weil neu zu entdecken, für die das Gute in erster Linie mit einer wieder erstarkten Aufmerksamkeit beginnt, in der wir unmittelbar erkennen, was zu tun ist. In ihren «Cahiers» schreibt sie: «Man kann dem Guten nur ausweichen, indem man seine Aufmerksamkeit abwendet.» Echte Aufmerksamkeit lässt sich stören von den Leiderfahrungen und politischen Zerwürfnissen um uns und geht für Simone Weil bruchlos in Engagement über, ein Engagement, das beim konkreten Gegenüber ansetzt, bei dem, der in Not ist und Hilfe braucht.

Wer aus solcher Aufmerksamkeit heraus empfänglich ist für Störung, dürfte übrigens auch im eigenen Stören achtsam bleiben. Denn – auch das darf nicht vergessengehen – Respekt vor dem Gegenüber ist wohl der sicherste Garant dafür, dass die Aufgestörten sich von den fremd anmutenden Ideen nicht gestört, sondern angeregt fühlen und sich dem kritischen Potenzial öffnen mögen. Vielleicht darf man an dieser Stelle wieder einmal den schönen Satz von Max Frisch zitieren: «Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, damit er hineinschlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.»

Barbara Bleisch ist Philosophin und lebt in Zürich. Der Essay ist die gekürzte Fassung des Eröffnungsreferats, das sie am diesjährigen Philosophicum Lech gehalten hat.

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