Kurz mal die Welt retten – das ist, zugespitzt, die Idee hinter Voluntourismus. Ein Selbstversuch auf einem Bauernhof in Schweden.
Voluntourismus verbindet Arbeiten und Ausspannen: Freiwillige Helfer wie Iris aus Dänemark jäten das Unkraut zwischen den Tomaten. Danach haben sie Zeit, um in der Open-Air-Sitzecke vor dem Tiny House zu lesen.
Am Abend, noch ehe die Sonne hinterm Horizont verschwunden ist, lasse ich mich erschöpft aufs Bett fallen. Zugegeben, die Sonne scheint lang im schwedischen Hochsommer – doch so zeitig würde ich in anderen Ferien garantiert nicht schlafen gehen. Diese Auszeit aber ist nicht wie andere. Sie besteht im Wesentlichen aus Arbeit. Unkraut jäten, Tiere tränken, Pflanzen pflanzen. Ich schufte auf einem Biobauernhof. Geld gibt’s dafür keins, nur Kost und Logis. Ich bin als Gastarbeiter – Gast und Arbeiter – auf Zeit gekommen. Als Voluntourist.
Das Angenehme mit dem Hilfreichen verbinden, so lautet, kurzgefasst, die Idee des Voluntourismus. Die Reiseform möchte zwei Welten zusammenbringen, die auf den ersten Blick wenig gemein haben: Ausspannen und Arbeiten. Kraft schöpfen und nach Kräften helfen, ehrenamtlich.
Zu den Organisationen, die diese Idee im Natur- und Umweltbereich seit Jahrzehnten vorantreiben, zählt das Netzwerk Wwoof, Worldwide Opportunities on Organic Farms, das ehrenamtlich Helfende an Biobauernhöfe vermittelt: Was 1971 als Ein-Frau-Initiative in London begann, nutzen heute Hunderttausende Wwoofer in mehr als 130 Ländern.
Das Interesse an Voluntourismus wächst
Der Voluntourismus ist «ein kleines Segment der Reisebranche, das aber seit Jahren wächst», sagt Antje Monshausen, langjährige Leiterin von Tourism Watch, einer Fachstelle für nachhaltigen Tourismus. Wenn man Touristenfallen vermeide, von denen auch diese Nische nicht verschont bleibt, bedeute er eine grosse Chance: «Darin steckt das Potenzial, Erfahrungen zu sammeln, die die eigene Perspektive, die Verortung in der Welt infrage stellen – und damit einen wichtigen Impuls für globales, gemeinsames Lernen ermöglichen.»
Solch eine Erfahrung kann lebensverändernd sein. Ein Beispiel dafür ist Jandi Hallin, der Koordinator von Wwoof Sweden. 2004 bereiste er Italien, arbeitete erstmals als Wwoofer auf einem Bauernhof – und gründete noch im selben Jahr eine Wwoof-Dependance in seinem Heimatland: «Das war einfach zu toll, um es nicht auch in Schweden zu haben.» Seine Pionierarbeit, viele Jahre völlig ehrenamtlich, trug Früchte: Heute sind in Schweden 150 Höfe als Wwoof-Gastgeber gelistet, im vergangenen Jahr beherbergten sie rund 1000 Helferinnen und Helfer.
Für die Höfe sei das eine gute Gelegenheit, mit der Welt in Kontakt zu kommen, so Hallin: «Leuten, die auf einem Bauernhof leben, fehlt oft die Zeit, um zu reisen, andere Menschen und Kulturen kennenzulernen. Durch Wwoof kommen Menschen von überallher zu ihnen.»
Jäten, Spargeln stechen, Blumen giessen
Warum aber wird man Öko-Voluntourist? Was gibt einem das Geben als Gastarbeiter? Um das herauszufinden, bin ich per Zug und Überlandbus nach Südschweden gereist, auf Angelikas Gård, Angelikas Bauernhof, einen dieser 150 Höfe.
Auf dem Biobauernhof von Angelika Jakimowicz, beim 700-Seelen-Örtchen Brösarp, ein paar Kilometer von der Ostküste der Provinz Skane gelegen, leben auf 50 Hektaren 120 Schafe, 3 Schweine, 2 Pferde und um die 60 Hühner sowie, neben Angelika und ihrer Partnerin Kamilla, eine wechselnde Anzahl von Helferinnen und Helfern.
Leute wie ich, die als Wwoofer auf den Gemüse- und Blumenfeldern, im Hofladen oder beim Füttern der Tiere zur Hand gehen, sind hier höchst willkommen. Das merke ich schon, als – es gilt das Wwoof-Du – Angelika mich am Busbahnhof von Brösarp abholt. Auf dem Beifahrersitz springt mir Valle auf den Schoss, einer der drei Hofhunde, und nimmt routiniert Streicheleinheiten in Empfang.
Was mein Premierentag bringt, erfahre ich tags darauf um 8 Uhr in der Morgenrunde. Wir sitzen an einem Holztisch auf dem Innenhof, Kaffee und Sonnenschein küssen uns wach. Angelika, eine stets fröhlich wirkende Mittdreissigerin mit Dreadlocks, Ballonmütze und tätowiertem Arm, verteilt die anfallenden Aufgaben.
«Julika trägt heute die Verantwortung für den Hofladen», sagt Angelika mit Blick auf ihren Notizblock. «Heute ist der letzte Spargeltag.» Julika nickt. Letzten Sommer war sie während der grossen Ferien für drei Wochen als Wwooferin auf den Hof gekommen. Es gefiel ihr gut. So gut, dass sie mit Anfang dreissig ihren Job als Sozialpädagogin an einer Schule in Worms kündigte, ebenso ihre Wohnung, und diesen Mai wiederkam, auf unbestimmte Zeit.
«In zwei Wochen wird das Café eröffnet», fährt Angelika fort. «Das ist Ivys und Severins Job.» Auch das Schweizer Pärchen ist zum zweiten Mal hier. Im Sommer zuvor waren Ivy Céline und Severin von einem anderen Hof in Schweden, wo sie als freiwillige Helfer waren, geflüchtet: überviel Arbeit, kein freier Tag, am Essen wurde geknausert. Durch Zufall fanden sie Angelikas Gård, sprachen sie an – und konnten direkt für den Rest der Saison im Café anheuern. Dieses Jahr kehrten sie für ihre erste komplette Saison zurück.
«Iris, du bist heute die Tomaten-Mama!», sagt Angelika zu einer 25-jährigen Dänin, die fünf Jahre als Künstlerin in Kopenhagen gelebt hat und nun eine Ausbildung zur Biolandwirtin macht; für das Praktikum hat sie Angelikas Gård ausgewählt. Als Tomaten-Mama ist sie fürs Jäten und Giessen der kleinen roten Racker im grossen Gewächshaus zuständig.
Ich werde fürs Unkrautjäten eingeteilt, zusammen mit Jon, einem drahtigen, vollbärtigen Schweden, der seit drei Wochen auf dem Hof mithilft. Er träumt davon, einmal selbst einen gemeinschaftlich geführten Hof zu gründen.
Sprachsalat im Gemüsebeet
«Easy-peasy!», ruft Angelika zum Abschluss der Morgenrunde. Beim Schwung, mit dem sie uns in den Tag entlässt, fühlt es sich an, als wäre tatsächlich jede Aufgabe, die er bringen mag, superleicht.
Ein tückisch kühler Wind weht übers Feld, das Jon und ich mit unseren Unkrautharken bestellen. Denn die Sonne küsst nicht mehr. Die Sonne sengt. Hockend, jätend, zupfend machen wir Meter um Meter.
«Du bist also einer der wenigen Schweden auf dem Hof?», frage ich Jon.
«Ja», entgegnet er. «Das ist das Coole hier: Man lernt nicht nur über Biolandwirtschaft. Es ist auch eine Sprachschule.»
«Und ein Sprach-Chaos!», sagt Julika, die uns gerade einen Morgensnack vorbeibringt: grüne Spargelstauden, frisch vom Feld. «Weil auf dem Hof Schwedisch, Englisch und Deutsch gesprochen wird, mischen sich manchmal die Sprachen.»
Nachdem unsere Felder bestellt sind, revanchieren Jon und ich uns bei Julika, indem wir ihr beim Waschen von Spargel und Lauchzwiebeln für den Hofladen helfen. Anschliessend gehen wir zu dritt zurück in die Felder, Zucchinisetzlinge pflanzen. «Die hab ich vor drei Wochen gesät», sagt Julika. «Schön, wenn man sieht, was daraus wird.» Die Erfolge des eigenen Einsatzes sind die emotionalen Früchte, die Voluntouristen die Tage versüssen.
Jagd auf nächtliche Plagegeister
Abends machen Iris, Julika und Jon mit mir einen Abstecher zum Strand. Ein Sprung in die frischen Ostseewellen ersetzt meine Feierabenddusche.
Julika schläft im einstigen Hühnerstall, den ein Wwoofer mit Schreinertalent in ein Tiny House verwandelt hat. Bevor sie zu Bett geht, wartet eine letzte Pflichtaufgabe: Plagegeisterjagd. Julikas Waffe liegt auf dem Schränkchen neben der Eingangstür – eine Fliegenklatsche. «Ich mag keine Tiere töten», sagt sie. «Aber sonst kannst du hier einfach nicht schlafen.»
Meine zweite Morgenrunde. Heute winkt eine Mammutaufgabe. Neben dem grossen Gewächshaus mit den Tomaten soll noch ein kleines emporwachsen, für Gurken. Irgendwo im Internet hat Angelika eine alte, günstige Stahlkonstruktion aufgetan. Nun liegen die Teile auf der Wiese beim Hühnerstall, ein rostiger, rätselhafter Haufen.
Ein Gewächshaus bauen also – wie denn das?
Von Angelika lernen heisst Lernen lernen. Als sie den Hof 2017 kaufte, war sie selbst blutige Bauernhof-Anfängerin, eine erfolgsverwöhnte Ex-Managerin, von einem Burnout aus der glitzernden Modewelt aufs Land katapultiert. Sie war entschlossen, erzählt sie, ihr Leben etwas Sinnvollem zu widmen – und komplett ahnungslos. «Ich hatte nie zuvor Gemüse angebaut.» Dann fing sie einfach an, allein.
Jeder macht auf dem Hof, was er kann: Während die Hühner frei herumwackeln, hängen die Freiwilligen Julika und Jon Schnüre in das Gewächshaus. An diesen werden sich dereinst Gurkenpflanzen emporranken.
Der Freund eines Freundes fragte, ob er auf Angelikas Hof mithelfen könne, gegen Kost und Logis. Er kannte Wwoof. Und so kamen bald weitere Wwoofer. Mit ihnen wurde Expertise von anderen Höfen hierher verpflanzt. «Ich habe so viel gelernt!», sagt Angelika, die heute Bäuerin ist und Klempnerin und Traktormechanikerin und vieles mehr. «Wenn meine Helferinnen und Helfer sagen, dies oder jenes habe ich noch nie gemacht, dann sage ich: Perfekt! Das ist genau der richtige Zeitpunkt, es zu lernen!»
Verantwortung erzeugt Energie
Früher, erzählt Angelika, habe sie sich allein am stärksten gefühlt. Doch an der gemeinschaftlichen Arbeit mit den Freiwilligen sei sie gewachsen: «Du musst offen sein, um zu lernen. Offen sein für die Hilfe anderer – so wie die Wwoofer. Ich bewundere ihre Aufgeschlossenheit und ihren Mut. Sie kommen hierher, ohne zu wissen, was sie erwartet.»
Was ist schon das Aufbauen eines kleinen Gewächshauses gegen das Aufbauen eines ganzen Bauernhofs trotz abgrundtiefer Ahnungslosigkeit?
Na, eben. Und so stürzen Kamilla und Julika, Jon und ich uns auf das rostige Rätsel . . .
Nach nicht einmal eineinhalb Tagen ist das Rätsel gelöst. Jons Bewertung des Bauwerks, vielleicht acht Meter lang und zwei Mann hoch, klingt wenig euphorisch: «This is an old, rusty piece of shit!»
Da mag was dran sein. Und easy-peasy war der Aufbau auch nicht, wir kamen ganz schön ins Schwitzen. Doch das Wichtigste ist: Das Gewächshausgerüst steht, sogar stabil. Wir ziehen die schwere Plastikplane drüber. Sofort staut sich darin die Hitze. Die Gurken können kommen.
Erstaunlich, wie viel Enthusiasmus so ein Haufen Helferlein freisetzen kann. Wie sehr Engagement für eine gute Sache zu einer Leistung anspornt, die sich gerade nicht wie eine Aufwendung im schnöden ökonomischen Sinne anfühlt, sondern wie Energie.
Auch Ivy Céline und Severin, die beiden Schweizer, kennen diese Energie der Ehrenamtlichkeit gut. Sie sind routinierte Voluntouristen, die schon auf mehr als zehn Höfen gastiert haben. Mal sprechen sie Deutsch mit mir, mal Englisch – ein sympathisches Sprach-Chaos, ganz so wie von Julika angekündigt.
«Eigentlich ist es paradox», sagt Ivy Céline. «Je mehr Freiheit und Vertrauen man bekommt, desto mehr Energie hat man.» Und die Freiwilligenarbeit gebe einem von beidem eine Menge.
Ganz ohne Lohn auf dem Hof zu helfen, das sei gerade das Schöne, ergänzt Severin. Denn: «Man bekommt im Prinzip mehr als Geld: Wissen. Erfahrungen. Sozialen Austausch. Und man wird wieder geerdet.»
Ivy Céline nickt. Was einem dieses Geben gibt, das findet sie, sprachchaotisch gesprochen, «just amazing».
«Finger weg von Wildtier-Projekten»
Frau Monshausen, liegt Helfen in den Ferien im Trend?
Das ist ein kleines Segment der Reisebranche, das aber seit Jahren wächst. Das hat mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun, hin zu mehr Politisierung, mehr Engagement. Und auch mit zunehmender Flugscham. Menschen haben angesichts des Klimawandels das Bedürfnis, ihre Reise zu rechtfertigen. Da bieten sich sinnstiftende Angebote an.
Wer sind typische Voluntouristen?
Die grösste Gruppe ist die der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 30 Jahren. Daneben gibt es mehr Menschen, die in der Lebensmitte eine berufliche Auszeit nehmen, für ein Sabbatical. Die dritte Gruppe sind Rentnerinnen und Rentner, die bei guter Gesundheit sind und teilweise auch in einer wirtschaftlich guten Lage.
Was bringt Menschen dazu, in den Ferien unbezahlt zu arbeiten?
Die Motivation, etwas Gutes zu tun, etwas zurückzugeben von den Privilegien, die man hat, ist, glaube ich, allen Voluntouristen gemein. Auch der Wunsch, stärker einzutauchen in lokale Gemeinschaften. Manchen geht es auch um Distinktionsgewinn: Sie wollen im Urlaub etwas Besonderes tun, das sie von anderen unterscheidet. Und gerade jungen Leuten ist es wichtig, Berufserfahrungen zu sammeln, etwas Positives in den Lebenslauf schreiben zu können.
Was sind positive Aspekte am Voluntourismus?
Darin steckt das Potenzial, Erfahrungen zu sammeln, die die eigene Perspektive, die Verortung in der Welt infrage stellen – und damit einen wichtigen Impuls für globales, gemeinsames Lernen ermöglichen. Durch die starke Kommerzialisierung und Kurzfristigkeit vieler Angebote wird dieses Potenzial allerdings zum Teil nicht nur nicht geborgen, sondern zerstört.
Inwiefern?
Wir sehen beispielsweise bei manchen Anbietern ein stark armutsorientiertes Marketing, das die Defizite von Ländern oder von Menschen in den Ländern betont. Nach dem Motto: «Du willst die Welt retten? Dann reise mit uns!» Wenn Menschen aus Europa mit einem solchen Überlegenheitsgefühl in die Länder des globalen Südens reisen, ist das kontraproduktiv und gefährlich.
Und was ist das Problem mit der Kurzfristigkeit?
Die ist besonders in Projekten mit Kindern problematisch. Wenn eine Voluntouristin für zwei Wochen in einem Kindergarten mitarbeitet, wird der Rhythmus der Kinder durcheinandergebracht, und es können Bindungsstörungen entstehen. Ein absolutes No-Go sind die Angebote in Waisenhäusern, die an vielen Orten ein Geschäftsmodell des Voluntourismus sind. Oft sind die Kinder gar keine Waisen, sondern haben lebende Elternteile, die für ihren Nachwuchs eine gute Ausbildung erhoffen, die er dort aber leider nicht bekommt.
Gibt es auch Probleme bei Umweltprojekten?
Ja, zum Beispiel die sogenannten «Blood Lions», «Blutlöwen», im südlichen Afrika: Voluntouristen werden für «Auswilderungsstationen» angeworben. Aber die Tiere werden teilweise eigens dafür gefangen. Und wegen der engen Interaktion können sie danach auch nicht mehr ausgewildert werden. Sie werden zur Jagd freigegeben – als leichte Beute für Trophäenjäger, weil sie an Menschen gewöhnt sind. Generell gilt: Finger weg von Voluntourismus in Wildtier-Projekten!
Was sind gute Alternativen für Öko-Voluntourismus?
Freiwilligeneinsätze in Biodiversitätsprojekten können sinnvoll sein, etwa der Schutz und die Kartierung von Brutplätzen. Wichtig ist, dass das professionell begleitet und ökologisch sensibel gestaltet wird. Und dass die Helfenden den Einheimischen keine Jobs wegnehmen.