Dienstag, November 26

Nach dem Sturm auf das Capitol sind die radikalen Bürgerwehren mehrheitlich untergetaucht. Das heisst nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Die Story des Insiders Christian Yingling.

Sein Aktivdienst hört nie auf: Christian Yingling hält seine Truppen seit über zehn Jahren einsatzbereit für den Ernstfall. Was er sich genau darunter vorstellt? Da will er sich nicht festlegen: innere Unruhen. Katastrophen. Eine despotische Regierung in Washington. Er verteidige die amerikanische Verfassung, sagt er. Und seine Familie und die Gemeinschaft. Wenn er sich etwas wünsche, dann, dass die Leute endlich darauf acht gäben, was vor sich gehe.

Herr Yingling, was geht denn vor sich?

Es gibt eine immense Korruption innerhalb der Regierung, sie regiert nicht für das Volk, sondern für sich selbst.

Was ist die grösste Gefahr für das Land?

Es gibt fünfzig grösste Gefahren, die ich nennen könnte. Unsere Redefreiheit steht unter Attacke und auch das Recht, Waffen zu tragen. Mit jedem Gesetz, jeder Regel beschneiden sie unsere Freiheit ein bisschen mehr. Wir sind wie der Frosch, der im Kochtopf sitzt, das Wasser wird langsam heisser, bis es kocht und ihn tötet. Den Menschen entgeht, dass sie ihre Freiheit verlieren, sie kaufen lieber das neuste Smartphone.

Wir sind uns schon einige Male begegnet, auf Reportagen in den Wäldern von West Virginia, an einem Pro-Trump-Protest in Washington und bei einem Interviewtermin bei ihm zu Hause. Christian Yingling spricht mit den Medien, was für einen Milizionär ungewöhnlich ist. «Ich bin nie vor euch weggerannt, warum sollte ich», sagt er mit einem schiefen Lächeln.

Diesmal treffen wir uns im Keystone State Park in Pennsylvania, am Ufer eines Sees, wo Kinder spielen und Raubvögel kreisen. Yingling wohnt in der Nähe und fährt mit seinem roten Truck vor, an dessen Heckscheibe ein stilisierter Totenkopf klebt mit der Aufschrift: «Gott wird unsere Feinde richten, wir arrangieren das Treffen.» Den makabren Slogan erfanden amerikanische Scharfschützen im Irakkrieg, in welchem der 52-jährige Navy-Veteran kämpfte.

Explosiver Einsatz in Charlottesville

Wir hatten uns im September 2017 kennengelernt, als ich an einem geheimen Manöver der Pennsylvania Lightfoot Militia im Unterholz von West Virginia teilnahm. Das war gut einen Monat nach dem Neonazi-Marsch in Charlottesville, Virginia. Christian Yingling war dort mit seiner Truppe im Einsatz gewesen, die Bilder der Miliz in Camouflage-Uniformen und mit Sturmgewehren gingen um die Welt. Das Entsetzen war gross. «Wie die Milizen zur Privatpolizei der weissen Suprematisten wurden», titelte etwa «Politico».

Das sei ein grosses Missverständnis, sagt Yingling. Es habe sich bloss um eine Friedensmission gehandelt. Sie seien dort gewesen, um einen Zusammenstoss zwischen Rechts- und Linksradikalen zu verhindern. 32 Milizionäre seien gegen 11 000 Demonstranten gestanden, sie seien zerrieben worden, aber hätten doch das Schlimmste verhindern können, während die Polizei untätig zugeschaut habe. Während der zweitägigen Zusammenstösse wurden Dutzende von Menschen verletzt; eine Frau starb.

Die Stadt Charlottesville reichte Klage ein gegen die Anführer des Marsches und der Bürgerwehr. Yingling hat inzwischen einem Rayonverbot zugestimmt und zeigt sich im Gespräch im Keystone State Park zuversichtlich, dass die Klage fallengelassen werden wird.

Seit Charlottesville versucht der Bürgerwehr-Kommandant, seinen Ruf aufzupolieren. Ein Neonazi sei er nicht, diese Botschaft ist ihm wichtig. Eine rechtsextreme Gruppe habe damals die «Unite the Right»-Demo gekapert. «Schwachsinnig» nennt er deren Anführer, die mit Fackeln und antisemitischen Parolen aufmarschiert waren. In der diffusen Landschaft der amerikanischen Milizarmeen versucht Yingling, eine Trennlinie zu ziehen zwischen schlechten und guten Gruppierungen, zwischen legal und illegal. Von den berüchtigten Proud Boys, die beim Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 eine federführende Rolle spielten und Gewalt ausübten, hält er gar nichts.

Warum nicht?

Das ist eine Hass-Gruppe von männlichen Chauvinisten. Ich fand es ziemlich gut, als sie den Chef Enrique Tarrio ins Gefängnis geworfen haben nach dem 6. Januar. Es hätte keinen Besseren treffen können, meiner Meinung nach. Er hat uns geschadet.

Und Sie sind kein männlicher Chauvinist?

Ich? Nein! (Lacht.) Ich bin weder homophob noch misogyn und all die schlimmen Wörter, die man mir schon an den Kopf geworfen hat und die ich zuerst nachschlagen musste, um sie zu verstehen.

Anders als die Proud Boys blieben Sie am 6. Januar zu Hause. Warum?

Ich sagte meinen Leuten: Lasst die Finger davon. Keiner von uns war dort. Ich habe der Sache nicht getraut. Ich meine, das war eine krasse Massenveranstaltung, und es gab keine Koordination vorher. Das musste in einer Katastrophe enden. In Charlottesville waren wir gut organisiert, aber es lief trotzdem aus dem Ruder.

Dabei war Yingling im Wahljahr 2020 durchaus aktiv. Er tauchte mit seiner Gruppe bei den Protesten rund um die Konföderierten-Denkmäler auf oder an der grossen Pro-Waffen-Demo in Richmond.

Zwischen Verfassungsrecht und Extremismus

Das FBI macht keinen Unterschied zwischen moderaten und radikalen Privatmilizen. Auf einem Faktenblatt definiert die Bundespolizei den gewaltsamen Extremismus von Milizen so: «Sie sehen sich als Beschützer der Verfassung und ihrer eigenen individuellen Freiheiten. Sie glauben, dass die Verfassung den Bürgern die Macht gibt, die Bundesregierung mit Gewalt zurückzudrängen, wenn sie es für nötig halten.»

Die Milizen sehen ihr Existenzrecht im zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung begründet, der das Bürgerrecht auf Waffenbesitz sichert: «Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden», steht dort. Doch was genau das Recht umfasst und was «wohlgeordnet» bedeutet, ist politisch heiss umstritten. Rechtsexperten der Georgetown University weisen in einer Studie darauf hin, dass alle Teilstaaten in ihren Verfassungen paramilitärische Aktivitäten einschränken, entweder indem sie diese den Zivilbehörden unterordnen oder ganz verbieten. Doch in der Praxis lassen viele Teilstaaten die Milizen gewähren, wie Pennsylvania.

Christian Yingling befand sich nach seinem Dienst im Irakkrieg in einer tiefen Sinnkrise und stieg in die Szene ein, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt worden war. Der Demokrat setzte sich unter anderem für die Beschränkung des Waffenrechts ein, was zu einer Rekrutierungswelle bei den Milizen führte.

Während Donald Trump im Weissen Haus regierte, gediehen die Bürgerwehren weiter – 2019 zählte die Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center rund 180 aktive bewaffnete Organisationen. Die Pandemie, die «Black Lives Matter»-Proteste und die Verschwörungstheorien von Donald Trump radikalisierten die Szene. Der Präsident umwarb sie: «Proud Boys, stand down – and stand by», lautete das berühmt gewordene Kommando Trumps während einer TV-Debatte mit Joe Biden.

Was am 6. Januar nicht geschah

Am 6. Januar 2021 traten paramilitärische Gruppen in Aktion, um die Abwahl von Trump in letzter Minute zu verhindern. Sie spielten beim Sturm auf das Capitol eine federführende Rolle, wie die Strafermittlungen und Gerichtsprozesse zeigen sollten. Die Proud Boys und die Oath Keepers hatten einen gewaltsamen Umsturz monatelang geplant. Ihre Mitglieder befanden sich in den vordersten Reihen der fanatischen Masse, rissen Barrikaden herunter, attackierten Polizisten und stürmten das Capitol. Christian Yingling schaute dem Geschehen von zu Hause aus zu.

Welche Rolle spielten die Milizen am 6. Januar?

Die waren gar nicht dort.

Ich war vor Ort, ich habe sie gesehen.

Dann muss ich aufpassen, was ich sage. (Lacht.) Ja, sie waren dort, aber sie waren nicht organisiert, wie es bei einem Einsatz üblich ist. Die Leute gingen aus persönlichen Motiven hin.

Was geschah Ihrer Meinung nach an dem Tag?

Ich habe meine eigene Version.

Glauben Sie, dass das FBI zum Aufstand angestiftet hat, wie es viele Trump-Anhänger behaupten?

Definitiv. Aber ich will nicht darüber sprechen, da ich es nicht beweisen kann. Das bringt mir nur Probleme ein. Aber ich kann darüber sprechen, was nicht geschah. Wurde das Capitol erobert? Nein. Die Leute sind einfach durch das Gebäude spaziert. Es ist natürlich viel melodramatischer zu sagen, das sei ein Aufstand gewesen. Das war es nicht. Es gab keine wirklichen Kämpfe. Ein paar Leute haben sich in ein Regierungsgebäude gedrängt, und die Regierung regte sich darüber auf. Sie konnten wieder einmal Trump die Schuld in die Schuhe schieben.

Nach dem 6. Januar kamen die Milizen ins Visier der Strafverfolgung. Diejenigen, die am Sturm des Capitols beteiligt waren, wurden angeklagt. Dutzende von Milizionären wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, wie etwa Stewart Rhodes, der Chef der Oath Keepers, der auch in Pennsylvania aktiv war und ein Bekannter von Yingling ist.

Da die Pennsylvania Lightfoot Militia nicht am Aufstand in Washington teilnahm, blieben Yingling und seine Truppen von der Strafverfolgung verschont. Ein ranghöheres Mitglied wurde vom FBI verhört. Wegen innerer Zerwürfnisse verliess Yingling 2022 die Miliz und gründete eine eigene: die Pennsylvania Volunteer Militia, die etwa zwei Dutzend Mitglieder zählt.

Ein Klima der Repression

Christian Yingling beschreibt ein Klima der Repression: Sein Facebook-Konto wurde gesperrt, ein Instagram-Konto wurde ihm verweigert. Inzwischen ist er wieder freigeschaltet, aber er postet vorsichtig. Er spiele jetzt gerne offline mit den Plastiksoldaten aus dem Kultspiel Warhammer 40K, sagt er mit einem Schuss Ironie.

Die meisten Milizen sind nach dem Eklat vor dreieinhalb Jahren untergetaucht, sie haben sich verkleinert und sind lokaler organisiert. Damit sei es aber auch schwieriger geworden, die Gruppen zu infiltrieren, analysiert das Southern Poverty Law Center. In den amerikanischen Medien sind in den vergangenen Monaten einzelne Recherchen erschienen, die von einer stillen Mobilisierung hinter den Kulissen sprechen. Die Sorge ist gross, dass es wie vor bald vier Jahren zu Gewalt kommen könnte – im Fall einer Niederlage von Trump. Doch Christian Yingling entwarnt – grösstenteils.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalt ausbricht?

Ich glaube nicht, dass sie gross ist. Ja, wenn Donald Trump ermordet würde, dann gäbe es bestimmt eine Revolte. Aber ich kann mir sonst kein Ereignis vorstellen.

Können Sie bestätigen, dass die Rekrutierung zugenommen hat?

Ja, das kann sein. Aber es kommt auch darauf an, wen man rekrutiert. Ob die was taugen. Viele sitzen vor dem Fernseher und werden wütend und sagen sich: Jetzt schliesse ich mich einer Miliz an. Und dann kaufen sie sich ein Gewehr und eine viel zu teure Ausrüstung, melden sich und merken dann, eigentlich ist das nicht ihr Ding. Alle wollen Patrioten sein, bis sie patriotische Dinge tun müssen.

Wie schlagkräftig sind die Milizen?

Wir sind nicht mehr so organisiert wie vor vier Jahren. Damals waren wir national vernetzt. Ich konnte für eine Operation Leute aus sechs oder sieben Teilstaaten rekrutieren. Diese Zeiten sind vorüber.

Sollen Milizen bei den Wahlen eingreifen?

Nein, da sollte man mit dem Wahlzettel kämpfen. Alles andere ist Einschüchterung. Ich finde einfach: Gebt doch Trump seine zweiten vier Jahre. Aber sie tun alles, um ihn auszuschalten.

Wer sind sie? Gemeint sind meist die Medien. Und ja, diese Verschwörung, die stets undefiniert bleibt. Der Kommandant der Pennsylvania Volunteer Militia ist gealtert. Seit wir uns vor knapp drei Jahren gesehen haben, ist er hagerer geworden. Aber auch gelassener. Er habe keine Ambitionen für Einsätze mehr, sagt er. Er wolle nicht seine Arbeitsstelle verlieren. Vor zwei Jahren lernte der Mechaniker, Ehegatte und Vater dreier erwachsener Kinder einen neuen Beruf – er arbeitet jetzt als Rettungssanitäter. Er habe den einen undankbaren Job gegen einen anderen eingetauscht, sagt er mit dem ihm eigenen Zynismus und zündet sich eine weitere Zigarette an.

Sind Sie im Ruhestand?

Das würde ich nicht sagen. Wir führen immer noch Übungen durch, einfach damit wir fit und in Bereitschaft bleiben.

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