Montag, Dezember 30

Vor 125 Jahren erschien Sigmund Freuds Buch «Die Traumdeutung» über die Bedeutung von Träumen. Es hat die Gesellschaft geprägt. Doch was hält die moderne Gehirnforschung von den Ideen des Vaters der Psychoanalyse?

Eben noch war es nur eine Modelleisenbahn. Der Patient von Psychoanalytiker Andreas Hamburger beschrieb diesem, wie er im Traum damit am Spielen war. Plötzlich aber verwandelte sich die Modellbahn in eine echte, mächtige Eisenbahn, die er nicht mehr zu steuern vermochte. «Freud hätte das vermutlich als überwältigende sexuelle Erregung gedeutet», sagt Hamburger. Er selbst kam zu einem anderen Schluss – doch dazu später.

Die Grundlage für seine psychoanalytische Traumdeutung legte der Wiener Neurologe Sigmund Freud in seinem im November 1899 erschienenen Buch «Die Traumdeutung». Galten Träume in der Antike als Botschaften des Göttlichen und verloren mit Christentum und Aufklärung an Bedeutung, rückte Freud sie wieder ins Zentrum des Interesses.

Er war überzeugt: Träume zeigen unterdrückte Wünsche und Triebe aus unserem Unbewussten. Allerdings zensiert unsere Psyche gemäss Freud diese Inhalte, weshalb sie uns oft nicht explizit, sondern in seltsamer und absurder Form erscheinen. Hinter diesem sogenannten manifesten Traum aber verbirgt sich nach Freud der latente, unzensierte Traum – mit meist sexuellem Hintergrund. «Die scheinbar harmlosen Träume haben es ‹faustdick hinter den Ohren›», schrieb Freud.

Monumentales Werk

Den verborgenen Inhalt der Träume gilt es in der Psychoanalyse zu entschlüsseln. Denn für Freud war die Interpretation von Träumen der Königsweg, um die unbewussten Aktivitäten und somit auch Konflikte und Störungen der Psyche zu erkennen und behandeln zu können. Als Basis für seine Erkenntnisse, die er in der «Traumdeutung» veröffentlichte, nutzte er seine eigenen sowie Träume von Patienten.

«‹Die Traumdeutung› ist einer der fundamentalen Grundsteine der Psychoanalyse», sagt Herwig Czech, Medizinhistoriker an der Medizinischen Universität Wien. Freud führte darin nicht nur das Konzept des Unbewussten ein, sondern unter anderem auch die Technik der freien Assoziation. Damit ist gemeint, dass die Patienten dem Analytiker – meist auf einer Couch liegend – frei ihren Gedankenfluss mitteilen. Beispielsweise dazu, was ihnen zu ihrem Traum in den Sinn kommt. Freud hat mit seinem Buch nicht nur die Psychoanalyse begründet, sondern auch in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen: in Literatur und Film – man denke an den 1945 erschienenen Film «Spellbound» von Alfred Hitchcock, einen der ersten Hollywood-Filme, die sich mit Freuds Psychoanalyse beschäftigten – ebenso wie in unserem täglichen Denken und Sprechen etwa über das sogenannte Unbewusste. Für Czech ist das Buch denn auch ein «Monument der Geistesgeschichte».

Widerstand der Fachwelt

Um das Buch als Werk des 20. Jahrhunderts zu positionieren, datierte Freud die 1899 erschienene «Traumdeutung» auf 1900 vor. Als Naturwissenschafter suchte er auch mit seiner Methode der Traumdeutung nach akademischer Anerkennung. Erfolgreich war er damit vorerst nicht. Freud beklagte sich in Briefen über negative oder ausbleibende Rezensionen – wobei gemäss Medizinhistoriker Czech durchaus auch wohlwollende Wortmeldungen in den Medien zu finden waren.

Am schlimmsten aber war für Freud die Skepsis aus seinem eigenen Fachgebiet der Psychiatrie. Diese kämpfte ihrerseits um wissenschaftliche Anerkennung innerhalb der Medizin und war um 1900 eher an der Anatomie des Gehirns als an psychologischen und psychotherapeutischen Fragen interessiert. «Viele Psychiater erachteten die Methoden von Freud als zu spekulativ», sagt Czech.

«Meine Kollegen von der Psychiatrie scheinen sich keine Mühe gegeben zu haben, über das anfängliche Befremden hinauszukommen», schrieb Freud im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches 1908. Zum Misstrauen der Psychiatrie hat laut Czech beigetragen, dass die Traumdeutung in Wien um 1900 auch ein Thema für okkult-pseudowissenschaftliche Kreise war.

In der breiteren Gesellschaft stiess «Die Traumdeutung» zunehmend auf Interesse. Freuds Betonung der Sexualität irritierte und faszinierte gleichermassen. Die weiteren Auflagen der «Traumdeutung» – insgesamt sieben bis 1930 – folgten in immer kürzeren Abständen. Dabei entwickelte Freud sein Werk auch ständig weiter, wobei er auch auf Kritik am Buch reagierte.

Zwischen Symbol und Assoziation

«Die Symbolik der Träume war der umstrittenste Teil», sagt der Psychoanalytiker Andreas Hamburger, der auch Professor an der Psychoanalytischen Universität Berlin ist. Zeitweise sei Freud etwas stark in Richtung eines simplen Symbol-Manuals abgedriftet, etwa wenn jegliche Stöcke, Baumstämme und scharfe Waffen als Penis galten und Gefässe, Höhlen und Schiffe für den weiblichen Körper standen.

Freud war in diesem Punkt auf der Suche nach einer Synthese. Einerseits sprach er davon, die Bedeutung von Träumen könne nur über das freie Assoziieren der Träumenden erschlossen werden. Andererseits gebe es gewisse Träume, die fast jede Person in derselben Weise träume. Deshalb sei davon auszugehen, dass sie auch für alle dieselbe Bedeutung hätten. Symbolik und Assoziationen müssten einander ergänzen, so Freuds Fazit.

Dass die Sexualität in seinen Deutungen derart zentral war, hat gemäss Hamburger wenig mit einer Tabuisierung und damit Unterdrückung des Sexuellen in der damaligen Gesellschaft zu tun: «Freud war als Naturwissenschafter überzeugt, dass die Biologie die grundlegende Prägung des Menschen darstellt.» Als überzeugter Darwinist sei für Freud zudem die Frage zentral gewesen, inwiefern auch psychische Phänomene der Evolution dienen.

«Die Betonung des Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstriebs und damit der Sexualität lag damit auf der Hand», so Hamburger. Dies auch in Abgrenzung zu C. G. Jung, dessen Theorie des kollektiven Unbewussten mit ihren kulturübergreifenden Archetypen Freud ablehnte.

Erkenntnisse aus dem Schlaflabor

Bei allem Wunsch nach fachlicher Anerkennung seines Werkes war auch Freud bewusst, dass sich viele seiner Aussagen einer wissenschaftlichen Überprüfbarkeit entziehen. Gleichzeitig lieferte die Schlaf- und Traumforschung nach Freuds Tod 1939 laufend neue Einblicke in unser Schlafverhalten und die Traumwelt. Die Entdeckung des REM-Schlafes in den 1950er Jahren machte es etwa möglich, Probanden im Schlaflabor gezielt in jenen Phasen zu wecken, in denen sie sich besonders gut an Träume erinnern.

Gemäss Michael Schredl, Traumforscher und wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, irrte sich Freud unter anderem mit der Annahme, Träume seien nur ein Abreagieren von unbewussten Wünschen: «Wir träumen von sehr unterschiedlichen Dingen – zumeist solchen, die nicht unterdrückt sind, sondern uns auch im Wachzustand beschäftigen.» Ohnehin seien wir Menschen im Wachzustand viel kontrollierter und mit der Zensur von Gedanken beschäftigt als während des Schlafes: «Im Traum sind wir offener und emotionaler.»

Für Schredl gibt aber nicht die konkrete Arbeit Freuds mit den Träumen seiner Patienten Anlass zur Kritik, sondern primär das negative Menschenbild des Wiener Psychiaters: «Gemäss Freud muss unser Geist ständig Triebe zähmen und diese in gesellschaftlich anerkannte Bahnen lenken. Da hat die spätere humanistische Psychologie ein deutlich positiveres Menschenbild entworfen.» So bestehe der Mensch nicht nur aus sexuellen Bedürfnissen, sondern wolle sich beispielsweise auch selbst entwickeln und zum Wohlergehen anderer beitragen.

Der Traum als Übungsfeld

Wenn aber aus der Sicht der heutigen Traumforschung nicht das Abreagieren von Trieben die Funktion der Träume ist – was ist es dann? «Diese Frage kann die Forschung nicht beantworten, denn das lässt sich empirisch nicht messen», sagt Schredl. Sobald Träumende nämlich im Rahmen von Studien über ihr nächtliches Erleben sprechen, sei unklar, ob der Traum an sich oder das Sprechen darüber eine Wirkung hinterlasse.

An Theorien zu Träumen aber mangelt es nicht. Im Vordergrund steht dabei heute die Vorstellung, dass Träume ähnlich unseren Tagträumen dazu dienen, sich mit Erlebtem auseinanderzusetzen und es in die eigene Psyche zu integrieren. «Das scheint mir heute auch in der Psychoanalyse die gängige Vorstellung zu sein», sagt Hamburger.

Das Gehirn helfe uns auch im Schlaf, unser Weltbild mit der Realität abzugleichen und mögliche Welten und neue Lösungen zu erproben. Der verdeckte Wunsch eines Traumes könne auch einfach sein, für ein Problem eine Lösung zu finden: der Schlaf als Übungsfeld für die Realität.

Königsweg im Wandel

Interessanterweise kommt dabei gemäss Hamburger dem Traum in der heutigen Psychoanalyse ein geringerer Stellenwert zu als beim Erscheinen von Freuds Buch vor 125 Jahren. «Ich fordere meine Patientinnen und Patienten nicht explizit dazu auf, von ihren Träumen zu erzählen. Der Traum ist eine Textsorte von vielen für unseren Dialog. Die Zugangswege und Methoden sind heute breiter als damals.»

Gewisse Vorteile habe der Traum aber nach wie vor, indem er so verfremdet sei, dass es leichter fallen könne, heikle Themen anzusprechen. «Insofern würde ich beim Traum nicht mehr vom Königsweg zum Unbewussten, sondern zum Beziehungsaufbau zwischen Patient und Analytiker sprechen», sagt Hamburger. Die Deutung eines Traums sei heute nicht mehr wie zu Freuds Zeiten die einseitige Aufgabe des Analytikers, sondern ein gemeinsames soziales Konstrukt.

Ob eine solche Deutung stimmig sei, sehe man nur daran, ob sie etwas bewirke. «Wir können nicht mehr erreichen, als dass ein Traum als relevant empfunden wird», sagt Hamburger. Bei seinem Patienten mit der Modelleisenbahn sah er in dessen Traum vor allem einen Hilferuf bezüglich der schweren Depression, die ihn überrollte. «Auch ich fühlte mich damals von der Erkrankung meines Patienten überfordert. Dass wir unsere beidseitige Ohnmacht anhand des Traumes thematisieren konnten, war ein Wendepunkt in der Behandlung. Gemeinsam wurde uns klar, dass es ohne zusätzliche medikamentöse Hilfe nicht geht.»

Die Faszination bleibt

Auch wenn die Deutung und Bedeutung von Träumen sich in den 125 Jahren seit Freuds Buch gewandelt hat – die Faszination für das nächtliche Kopfkino ist ungebrochen. Gemäss Psychoanalytiker Andreas Hamburger wird der Traum heute gesellschaftlich grundsätzlich positiv bewertet, was sich an unterschiedlichen Entwicklungen zeige: «Digitale Bildgenerierung etwa erlaubt uns zunehmend, Traumwelten zu simulieren.»

Und mit dem luziden Träumen werde der Wunsch nach Kontrolle und Selbstoptimierung auch auf unser nächtliches Erleben ausgedehnt. Beim luziden Träumen versucht der Träumende durch bestimmte Techniken, sich dessen bewusst zu werden, dass er gerade träumt, und den Inhalt des Traums zu steuern.

Was die Psychotherapie betrifft, so wird heute in vielen Therapiearten weit über die Psychoanalyse hinaus mit Träumen gearbeitet – bis hin zur malerischen Darstellung oder dem Nachspielen von Traumszenen. Die moderne Traumforschung widmet sich zudem verstärkt dem Phänomen des Albtraums. «Es gibt heute bereits gute und einfach anwendbare Therapiemethoden für Menschen, die an häufigen Albträumen leiden», sagt Traumforscher Michael Schredl.

Aber auch wenn man nicht von seinen Träumen geplagt werde, lohne es sich, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Schredl selbst hat inzwischen bereits mehr als 18 000 seiner Träume in einem Tagebuch niedergeschrieben: «Sie geben mir Hinweise, welche Themen in meinem Leben aktuell sind und welche ich also stärker beachten sollte.»

Wer meint, nicht zu träumen, irrt sich, da lässt die Hirnforschung keinen Zweifel: Wir alle träumen. Und wer sich am Morgen nicht daran erinnern kann: Es lässt sich üben. Sich beim Aufwachen Zeit lassen und nachspüren hilft ebenso wie Papier und Stift neben dem Bett – um vielleicht beim nächtlichen Aufwachen eine Traumerinnerung zu erwischen.

Ein Artikel aus der «»

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