Donnerstag, September 19

Monika Zeiner taucht in ihrem neuen Roman in die abgeschotteten Archive einer fränkischen Dynastie ein. Sie erzählt von Opportunisten und schuldig gewordenen Mitläufern und reisst die Fassade einer vermeintlich rechtschaffenen Familie nieder.

Mit ihrem Debütroman, «Die Ordnung der Sterne über Como», erregte Monika Zeiner 2013 Aufsehen. Das Buch landete auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und hätte diesen, wie man hörte, um ein Haar gewonnen. Danach verschwand die Autorin in der Versenkung. Warum, das zeigt sie nun elf Jahre später mit ihrem fast siebenhundert Seiten umfassenden Nachfolgeroman. Darin taucht sie in die abgeschotteten Archive einer fränkischen Dynastie ein und berichtet mit staunenswerter Sicherheit noch einmal von Ereignissen, die man für auserzählt hielt.

Da kehrt ein Mann, Anfang vierzig, Drehbuchschreiber von Beruf, nach einem Vierteljahrhundert erstmals wieder in sein Elternhaus zurück, in die unweit von Nürnberg gelegene Villa Sternbald. Nikolas Finck, so sein Name, gilt als das schwarze Schaf der Familie. Längst wurde er enterbt, und er will anders als sein Bruder mit der Schulmöbelfabrik, die den Wohlstand der Fincks begründete, nichts mehr zu tun haben. Als Siebzehnjähriger erhielt er einen Schulverweis und wurde suizidgefährdet in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, die seine Eltern, um den Ruf des Clans nicht zu beschädigen, als Internat ausgaben. Seitdem blieb er den Seinen fern.

Nur ein Wochenende – wir sind im Jahr 2014 – will Nikolas aus Anlass einer Familienfeier in seinem alten Zuhause verbringen. Doch private und berufliche Unannehmlichkeiten lassen ihn zaudern und schliesslich zur Überraschung seiner Eltern etliche Monate auf dem fränkischen Land verweilen. Was er in der Folge erlebt, ergibt sich fast zwangsläufig.

Nikolas geht den verschwiegenen Abgründen der Finckschen Welt nach. Und was er vorfindet, überrascht nicht – und wird von Monika Zeiner zugleich so geschickt und bilderreich zusammengefügt, dass der anfängliche Verdacht, sattsam bekannte Geschichten erzählt zu bekommen, rasch verfliegt. Ja, gewiss, da tauchen alte Fotos auf; ja, da kämpft Nikolas an gegen das Unter-den-Teppich-Kehren unliebsamer Ereignisse und gegen den Versuch, das Gestern ruhen zu lassen. Und doch unterläuft der Text die Erwartungen.

Die Erzgauner

Die Vergangenheit ist in der Villa allgegenwärtig. Verkörpert wird sie in Gestalt des hundertdreijährigen Grossvaters Henry, der in seinem Sessel auf den Tod wartet. Wie die Fabrik der Fincks zu prosperieren begann, wie sie ökonomisch ins Schlingern geriet und mit welcher Perfidie man sich im Nationalsozialismus bereicherte, davon erzählt Zeiner in ausführlichen Rückblenden. Diese reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, als Nikolas’ Ururgrossvater Ferry einen Coup landet: Er erfindet eine Schulbank, für die er in Paris eine Auszeichnung erhält und die es nicht nur preussisch gedrillten Schülern erlauben soll, ergonomisch so zu sitzen, dass nationalkonservative Gesinnung in ihre Körper strömt.

Ferrys Schulmöbel wird zum Exportschlager, und als sein Enkel Jahre später zudem einen Kufenstuhl entwickelt, scheint das Finck-Imperium für lange Zeit gesichert. Nikolas freilich weiss, dass sich dessen Aufschwung vor allem üblen Machenschaften verdankt. Als eine befreundete jüdische Familie, die Steins, Mitte der 1930er Jahre Deutschland verlassen muss, übernehmen die Fincks deren Besitz zu einem Spottpreis und versuchen ihr Handeln im Nachhinein als grossherzige Tat zu verkaufen.

Als «Erzgauner» wurden sie im Dorf hinter vorgehaltener Hand schon immer bezeichnet. Doch erst Nikolas’ Hartnäckigkeit entlarvt die «Lügenfirma» – wie überhaupt der Fincksche Kosmos im Kleinen wie im Grossen darauf beruht, sich die Geschehnisse nach den eigenen Bedürfnissen zurechtzubiegen.

Arisierungsgewinnler

Sich unpolitisch zu geben und sich gleichzeitig den Mächtigen anzudienen, das ist das als selbstverständlich angesehene Firmenmotto, das, je nachdem, woher der politische Wind bläst, geschmeidig angeglichen wird: «Als es Zeitgeist war, Zwangsarbeiter zu haben, haben wir Zwangsarbeiter gehabt, als es Zeitgeist war, Zwangsarbeiter zu entschädigen, haben wir Zwangsarbeiter entschädigt, als es Zeitgeist war, Juden zu enteignen, haben wir Juden enteignet, und jetzt, wo es Zeitgeist ist, die Enteignung von Juden von einer Historikerkommission wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, werden wir natürlich eine Historikerkommission einsetzen, die wir sogar von der Steuer absetzen können.»

Monika Zeiner ist gewiss nicht die Erste, die von Opportunisten dieser Art, von schuldig gewordenen Mitläufern und Arisierungsgewinnlern erzählt. Doch es gelingt ihr, diese Fassade einer vermeintlich rechtschaffenen Familie erzählerisch niederzureissen. Unzählig die farbig ausgemalten Episoden, die Nikolas nach und nach ans Tageslicht holt – voller Motive und Themen, die die Konstruktion zusammenhalten: der in Paris erworbene, muffige Tropenhelm, der von einem Finck an den anderen vererbt wird, die Insektenvorliebe, die Ferrys fürs Unternehmertum nicht geschaffener Sohn Jean hegt, die als merkwürdig empfundenen freigeistigen Erziehungsideale, die eine Nebenfigur, der Begründer der Odenwaldschule, äussert, oder der Blüthner-Flügel, der vormals den Steins gehörte.

Und natürlich wird in diesem Roman mächtig räsoniert und reflektiert, mit Heidegger, Barthes, Arendt, der Bibel oder Richard Wagner im Gepäck. Die «Unschärfe» dessen, was das Gedächtnis der Beteiligten gebiert, führt zu Betrachtungen über die Erinnerung, die mal als Chamäleon, mal als Katze erscheint, und an literarischen Anspielungen – von Thomas Mann bis Proust – ist kein Mangel. Dieser mitunter überbordende Reflexionsreichtum hat den Verlag übrigens, wohl aus Angst vor Rechteverletzungen, dazu veranlasst, ein seitenlanges Quellenverzeichnis anzuführen, das jede literarische Anspielung nachweisen möchte.

Monika Zeiners «Villa Sternbald» ist ein sich nicht in der Idylle gefallender Familienroman, der überzeugend veranschaulicht, dass es geschichtliche Niederungen gibt, die nicht oft genug erzählt werden können. Und nicht zuletzt: Dieser Roman, den die Jury des Deutschen Buchpreises diesmal sträflicherweise übergangen hat, ist auch die melancholische Erzählung einer verflossenen, aber nicht vergessenen Liebe. Denn Nikolas begegnet seiner Jugendliebe Katharina wieder, die einst die Erlaubnis erhielt, auf dem so belasteten Blüthner-Flügel zu spielen.

Viel Zeit ist seitdem verstrichen, und doch haben sich Nikolas und Katharina noch immer unzählige Geschichten zu erzählen. Was vergangen ist, ist vergangen, das behauptete Nikolas’ Mutter gebetsmühlenartig. Was für ein Irrtum.

Monika Zeiner: Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre. Roman. DTV, München 2024. 669 Seiten.

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