Mittwoch, November 27

Anleger tendieren dazu, ihren Einsatz dann zu erhöhen, wenn aufgrund starker Kurssteigerungen eigentlich Vorsicht angebracht wäre. Bei der Blase in Halbleiterwerten ist es aber noch nicht so weit.

Das ist eine der Kernfragen bei der Anlage in öffentlich gehandelten Wertpapieren wie Aktien.

Eine unbekannte Zahl von Akteuren bestimmt jeden Tag den Preis von jeder einzelnen Position in jedem Portfolio.

Die anderen – das ist ein kunterbunt zusammengesetztes Publikum, das sich in vielerlei Hinsicht unterscheidet: Intelligenz, Nervenstärke, Zeithorizont, Ressourcen und in vielem anderen mehr. Das Credo, welche Entscheidungsverfahren für Käufe und Verkäufe zur Anwendung gelangen sollen, ist zumeist sehr unelastisch. Der Stanford-Professor Mordecai Kurz hat den perfekten, alle Ansätze einschliessenden Begriff kreiert: «rational beliefs».

Deswegen habe ich weiter oben das Wort «Credo» verwendet: ich glaube. Alle glauben, niemand weiss alles, was gewusst werden müsste, um vollständig informierte Entscheide über die Zukunft zu treffen.

Innerhalb jeder Disziplin, an die geglaubt wird, gibt es eine Unzahl von Nuancen, ja zum Teil sogar sich deutlich unterscheidende Varianten.

Das sind die Voraussetzungen für grosse Trends

Die Vielfältigkeit gilt für alle Ansätze. Somit ist davon auszugehen, dass grundsätzlich heterogene Erwartungen vorherrschen. Würde es gar keine Harmonisierung dieser Erwartungen bis zu einem gewissen Ausmass geben, wäre der Handel chaotisch. Der Katalysator für eine gewisse Harmonisierung ist der Ansatz, der sich jeweils über eine Periode durchsetzen kann. Manifest wird er durch die relative Stärke. Sie ist die neutrale Schiedsrichterin über jeden akademischen und nicht akademischen Glaubenssatz.

Das bedeutet: Voraussetzung dafür, dass grosse Trends entstehen, ist, dass Akteure mit unterschiedlichen Ansätzen zu übereinstimmenden Erwartungen gelangen.

Das ist übrigens auch in wissenschaftlichen Experimenten erwiesen. So kommentiert beispielsweise Professor Joseph Henrich Experimente mit MBA-Absolventen, die genau oben Gesagtes belegen, in seinem Buch «The Secret of our Success» wie folgt (von mir übersetzt): «Der zentrale Befund dieses Experiments, dass Leute geneigt sind, andere, die Erfolg haben, zu kopieren, ist wiederholt in immens vielfältigen Versuchen belegt worden, sowohl in kontrollierten Laborexperimenten als auch in der realen Welt».

Das Experiment, dessen Ergebnis Henrich so kommentierte, ist aus meiner Sicht aus zwei Gründen besonders interessant: Erstens, weil die Probanden vor Beginn der Experimente auf die Korrelation der verfügbaren Anlageklassen im Sinne der Markowitz-Portfoliotheorie aufmerksam gemacht wurden, und zweitens, weil sie Darlehen aufnehmen durften.

Warum die Gewinner am Ende scheiterten

Interessant ist, dass die Gewinnergruppe im Gegensatz zur Verlierergruppe, die aus isoliert entscheidenden Teilnehmern bestand, mit dem steigenden Erfolg mehr Darlehen aufnahm. Das heisst, dass sie genau dann mehr Risiko einging, als das Risiko in Folge der Kurssteigerungen zugenommen hatte.

Womit die Theorie von Hyman Minsky im Experiment ebenso glorios bestätigt wurde wie die Beobachtungen von Charles Kindleberger, derzufolge alle spekulative Blasen darlehensfinanziert waren.

Zu viel Momentum ist nach Minsky allerdings nicht nur ein Problem, wenn die Finanzierung über Kredit erfolgte, sondern ganz grundsätzlich, weil es Risiko ausblendet. Es ist sozusagen die risiko-blinde Phase schlechthin.

Der Kipppunkt kann weder bei Kredit noch bei Momentum im Voraus definiert werden. Weder Minsky noch Kindleberger haben behauptet, dass es einen quantitativ definierbaren Kipppunkt gibt.

In der Praxis muss man definieren, wann Momentum des Guten zu viel ist. Grundlage für meine diesbezügliche Beurteilung ist das RSMV-Modell von Unifinanz. Es wertet relative Stärke, Sentiment, Momentum, Volatilität und Volumen aus und drückt das Ergebnis in Ratings aus, die alles mit allem vergleichbar machen. Das ist die Voraussetzung für die Vernetzung in den Märkten schlechthin.

Das Verfahren erlaubt, die komparativen Vorteile im Markt zu ermitteln. Die Ratings und ihre Interpretation werden den Abonnenten der Unifinanz-Monitore kommuniziert. An dieser Stelle konzentriere ich mich auf die Kommentierung von einzelnen Charts, die getreu dem Diktum, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, hoffentlich erlauben, Wichtiges in Kürze zu vermitteln.

Über den Umgang mit einer spekulativen Blase

Ich komme nun zu meinem derzeitigen Lieblingsthema, dem DJ US Semiconductors. Er ist der weltweit einzige Index, der eine wunderbare spekulative Blase entwickelt. Der in der folgenden Grafik grau markierte Abschnitt stellt den Beginn und den bisherigen Verlauf der spekulativen Blase dar:

Die Toleranz für Rückschläge ist nicht mehr das blaue, untere 20-Monate-Bollinger-Band, sondern der grüne 20-Monate-Durchschnitt, weil es in einer Blase angezeigt ist, die Toleranz für Rückschläge zu verkürzen. Sehr hilfreich dabei ist, Monatscharts mit Wochencharts zu ersetzen (blau ist das untere 20-Wochen-Bollinger-Band, grün der 20-Wochen-Durchschnitt):

Das entspricht der althergebrachten Methode, sogenannte «trailing stops» einzusetzen. Dabei werden die Stop-loss-Marken den steigenden Kursen angepasst. Arbeitet man mit Charts, übernimmt diese Rolle ein gleitender Durchschnitt, der bei einer starken Zunahme des Momentums von Zeit zu Zeit verkürzt werden muss.

Allzu starkes Momentum, das auf den Charts mit Blasenbildungen in Erscheinung tritt, wird in den Unifinanz-Ratings bestraft. Sentiment ist ein Bestandteil des Modells, das nur in Extremfällen, wie es Blasenbildungen einer sind, antizyklisch wirksam wird.

Trotzdem vermitteln weder das Chartbild noch die Unifinanz-Ratings den Eindruck, dass die Blase in Semiconductors vor dem Platzen steht. Dennoch ist in einer Blasenbildung erhöhte Aufmerksamkeit angesagt, weil man aus Theorie und Praxis weiss, dass das Risikobewusstsein gerade dann abklingt, wenn das Risiko in Folge extremen Momentums zunimmt.

Alfons Cortés

Alfons Cortés ist seit März 1971 professionell an der Börse unterwegs. Bis Juni 2017 war er Geschäftsführender Partner von UnifinanzTrust reg., Vaduz. Seit Juli 2017 ist er Senior Partner im Unternehmen und für den Bereich Research zuständig. Diesem hat er von Anbeginn seiner Tätigkeit an besonderes Augenmerk zukommen lassen. Daraus erwuchs die prominente Position des Unternehmens in der Anwendung von Behavioral-, Neuro- und Evolutionary Finance. Cortés hat nicht nur als Vermögensverwalter und Analyst, sondern auch als Mitglied von Anlageausschüssen institutioneller Anleger über Jahrzehnte Erfahrungen mit den Finanzmärkten gesammelt. Er schreibt jeden zweiten Donnerstag eine Kolumne für The Market.
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