In Rumänien ist nicht nur eine Wahl gescheitert – das Vertrauen der Bürger in die eigene Wahrnehmung ist erschüttert. Nichts ist, was es scheint.
Sie sagen, sie hätten gar nicht gewusst, wer er war. Dieser Mann, dem die Rumänen ihre Stimmen gaben, als sie einen Präsidenten wählen mussten.
Sie wussten nicht, dass Calin Georgescu sich in Anlehnung an Wladimir Putin beim Eisbaden zeigte; dass seine Frau online Schlangengift als Medizin verkaufte; dass er davon erzählte, in Davos mit Aliens geredet zu haben; dass er die Männer, die Rumänien in den Zweiten Weltkrieg geführt hatten und für einen Holocaust verantwortlich waren, als «gute Rumänen» bezeichnete; oder dass er vor Globalisten warnte, die, angeführt vom Juden George Soros, Rumänien in den dritten Weltkrieg hineinziehen würden.
«Es fühlte sich für mich an, als hätte ich gar keine andere Wahl», sagt George, ein Mann Mitte vierzig, an den Gartenzaun seines Hauses gelehnt. Es ist Ostersamstag in Poienile de sub Munte, einem Dorf ganz im Norden Rumäniens. Die Ukraine ist nur zehn Kilometer entfernt. Der Tag, an dem George Teil einer Revolution war, ist nun fünf Monate her.
George wollte kein Revolutionär sein. Zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen vergangenen November ging er die Liste der Kandidaten durch. Dann gab er dem Mann seine Stimme, der neu war, keine Verbindungen zu den etablierten Parteien hatte. George sagt: «Der nicht Teil des Systems war.»
Das System. Alle Rumänen reden davon. Sie meinen damit das Gefühl, dass politische Eliten, Sicherheitsdienste, Medien und Justiz insgeheim zusammenarbeiten. Dass Wahlergebnisse abgesprochen sind. Tatsächlich wurde Rumänien in den letzten fünfzehn Jahren von einem Machtkartell der Sozialdemokraten und Nationalliberalen regiert. Politiker wechselten opportunistisch die Seiten, versuchten, die Justiz zu schwächen. Ein Mann, der lange der politischen Elite angehörte, beschreibt das System als einen Nebel, der alles in Rumänien umhüllt.
«Man kann mir vorwerfen, dass ich gar nicht wusste, für wen ich stimme. Aber viele hier handelten so, manche entschieden sich erst, als sie in der Schlange vor dem Wahlbüro standen», erinnert sich George. Danach befragt, erklären die meisten im Dorf, sie hätten keine Ahnung, was dieser Calin Georgescu eigentlich genau gewollt habe. Ausser, dass er als Präsident alles niederreissen würde. 38 Prozent der Dorfbewohner fanden das gut.
Wie viel Wut tragen Menschen in sich, die so entscheiden, wer sie regieren soll?
Später am Wahltag fuhr George, der unfreiwillige Revolutionär, mit seinem Minibus in die Regionalhauptstadt Baia Mare. Auf den Rückbänken herrschte Aufregung. Seine Fahrgäste: die Wahlkommission des Dorfes, Angehörige der Regierungspartei und die Wahlurnen. Die Kommissionsmitglieder waren aufgebracht. In jenem Moment wusste George, dass Georgescu gewonnen hatte. Dass sich etwas ändern würde in Rumänien.
Seine Freude währte nur kurz.
Einige Tage nach der Wahl annullierten die Verfassungsrichter in Bukarest die Wahl, dann schlossen sie Calin Georgescu auch von den Wiederholungswahlen aus.
Die Rumänen hatten schon vor den Wahlen kaum mehr Vertrauen in ihre Politiker. Dann folgten Wahlschlamassel und Chaos. Hunderttausende auf den Strassen. Die USA – J. D. Vance und Elon Musk –, die sich an Konferenzen und auf X einmischten. Nervosität in den europäischen Hauptstädten.
Nun rätseln alle im Land wie in einem Fiebertraum: Was ist tatsächlich passiert? War dieser Mann, wie das die Richter behaupten, ein Agent der Russen, der von ausländischer Hilfe auf Tiktok profitierte? Oder ist alles eine Verschwörung, hinter der die eigenen Geheimdienste stecken?
I – Die Entdeckung
In Bukarest gibt es einen Mann, der alles hätte ahnen können, vielleicht sogar hätte ahnen müssen. Sorin Ionita, 58, Politikwissenschafter, überwacht mit seiner NGO Expert Forum für die EU-Kommission den digitalen Raum in Rumänien. Und damit auch Tiktok.
Ionita ist es sich gewohnt, westeuropäischen Ohren Rumänien zu erklären. Wenn man ihn aber fragt, was zum Teufel in Rumänien los sei, seufzt er fast genervt. «Wenn wir das wüssten», sagt er und lacht trocken.
Ionita wuchs in einem anderen Rumänien auf, dem Rumänien der achtziger Jahre, und wenn er das Rumänien von heute erklären muss, weist er darauf zurück. Es war die Zeit, in der Mangel an allem herrschte und alles, was man kaufen konnte, Schmuggelware war. «Sogar Rasierschaum, WC-Papier.» Ionita und seine Freunde träumten von Westeuropa, «einfach weg von hier, niemand glaubte an irgendetwas».
Ionita erinnert sich, wie der Diktator Ceausescu den Rumänen einimpfte, sie würden belagert von allen Seiten, alle hätten sich gegen sie verschworen. Ihr einziger Freund? Das Schwarze Meer. Die Schulbücher zeichneten das Bild einer romanischen Nation, in der alles auf eine vorchristliche, römisch-dakische Kultur zurückging. Ja, eigentlich sei alles, was auf der Welt von kulturellem Wert sei, diesem urrumänischen Volk der Daker geschuldet, die Römer hätten es nur gestohlen.
Ionita beschreibt das, weil er glaubt, dass diese Geschichtsverzerrung den Nährboden bildet, auf dem die Wahl Georgescus gedieh. Er beschreibt Georgescu als einen «Druiden»: «Er hat diese mythologische Seite, seine Reden sind Predigten, Beschwörungen, Rituale, er ist eigentlich ein New-Age-Abkömmling.»
Bereits ein Jahr vor den Wahlen hatten Ionita und seine Kollegen in einem Bericht festgehalten, dass die Tiktok-Konten im Georgescu-Netzwerk immer mehr Follower sammelten. Nur interessierte das damals niemanden. Kurz vor den Wahlen im November beobachteten sie, wie sich die verschiedenen Tiktok-Blasen zu verbinden begannen: Tiktok-Konten, die zuvor nur «esoterischen Müll» geteilt hatten, verbreiteten plötzlich wie orchestriert Wahlpropaganda: für Calin Georgescu.
Was Ionita erstaunte: Wie effektiv sich diese Propaganda am Wahltag in Wählerstimmen umwandelte. Ionita sagt: «Wir sind eine mündliche Gesellschaft, eine unliterarische Gesellschaft. Die Zeitungsleserschaft ist heute gleich gross wie 1915, eine bemerkenswerte Kontinuität.» Gleichzeitig ist Rumänien das Land mit der stärksten Tiktok-Durchdringung Europas.
Ob es die Russen waren, die Georgescu halfen, das auszunutzen? Ionita sagt, es entspreche dem altbekannten Drehbuch, nachdem die Russen schon zuvor so vorgegangen seien, in der Moldau, in Georgien, beim Brexit. Aber er hat noch eine andere Theorie.
Der Politikanalyst Ionita ist kein Mann, der gerne spekuliert. Er ist ein Empiriker – aber eben auch in Rumänien aufgewachsen. Und so erzählt er von den geheimen Netzwerken, die hinter Georgescu stecken würden. «Er war vermutlich ein Teil des Geheimdienstes oder so ähnlich.» Er hat dafür keine Beweise. «Aber seine ganze Karriere, sein Lebensstil! Man kann nicht einfach zehn Jahre in Wien ohne offizielles Einkommen ein verschwenderisches Leben führen.»
Ausgerechnet Georgescu, der sich als Anti-System-Kandidat anpries, der genau deshalb von Menschen wie George im Norden gewählt wurde? Tatsächlich ist Georgescus Karriere alles andere als «systemfern». Er arbeitete gleich nach der Revolution Anfang der neunziger Jahre im Aussenministerium, war Abgesandter für die Uno, den Club of Rome – das alles könnte jeder rumänische Bürger in Erfahrung bringen, wenn er denn googeln würde.
Von den Fakten zur Geschichte, die Elemente einer Verschwörung enthält, sind es in Rumänien immer nur zwei Sätze. Und so fährt Ionita mit einer Erklärung fort, die abenteuerlich klingt.
«Sie müssen wissen: Diese Typen aus der politischen Elite sind alle irgendwie Teil des Geheimdienstes gewesen, oder sie gingen zumindest an dessen Akademie, bei vielen können wir das nachweisen. Später beginnen sie zu intrigieren, sich zu verschwören. Das ist das, was wir heute das System nennen», erklärt Ionita.
Er vermutet, dass beim Fall Georgescu etwas schieflief. Es gebe innerhalb der Geheimdienste verschiedene Fraktionen, die sich gegenseitig bekriegten und den Kurs des Landes zu bestimmen versuchten. Vor den Wahlen unterstützten sie dann einen extremen Kandidaten, um «ihren» Favoriten appetitlicher erscheinen zu lassen. «Kompetitive Korruption» nennt Ionita das.
«Das geriet dann ausser Kontrolle. Aber die grossen Parteien, sie steckten alle mit drin.»
II – Eine Verwandlung
Etwas nördlich des Zentrums von Bukarest leben zwei Männer ein paar Kilometer voneinander entfernt, die vieles teilen, obwohl ihre Leben sehr unterschiedlich verlaufen sind. Beide arbeiteten mit Sprache, beide berührten die Macht. Beide müssen, wenn sie das Chaos in Rumänien nun beobachten, an einen Moment vor fünfzehn Jahren zurückdenken, der im Rückblick surreal erscheint.
Und beide erzählen Geschichten, die zwar nebulös klingen, aber vieles erklären über die Entstehung und das Mysterium des Calin Georgescu.
Petru Romosan ist ein Mann, dessen Name man in Rumänien in den siebziger und achtziger Jahren kannte. Er war ein Dichter in seinen Zwanzigern, aber Romosan dichtete nur wenige Jahre. Dann, sagte er, habe das Regime ihm und seiner Frau, die Romane schrieb, das Leben und die Arbeit unmöglich gemacht. «Ich war immer ein Störenfried, ich konnte mich nicht einfügen.»
Romosan und seine Gattin flohen 1988 ins Ausland, nach Paris, zu spät, wie er heute sagt. 1998 kehrten sie zurück und eröffneten eine Galerie und einen Verlag. Manche der Bücher lösten Debatten aus. Etwa, als Romosan das Werk eines Faschisten aus den dreissiger Jahren wiederauflegte.
Romosan gab auch ein erstes Buch von Calin Georgescu heraus. Romosan senkt den Blick, als er davon erzählt, aber er gibt nicht preis, was er denkt. Er sagt, es sei das Resultat eines Plans gewesen, bei dem er nur eine kleine Rolle gespielt habe: 2009 habe sich, wenn er sich richtig erinnere, eine Gruppe Männer getroffen und einen Kandidaten gesucht, der sich als technokratischer, unabhängiger Ministerpräsident eigne.
Der auserkorene Kandidat sei Calin Georgescu gewesen. Tatsächlich wurde in den folgenden Jahren, als der damalige Präsident Trajan Basescu einen Ministerpräsidenten suchte, immer wieder Georgescus Name gehandelt. «Der Plan war, dass Basescu dann die Macht an Georgescu übergibt, so wie Jelzin an Putin», sagt Romosan.
Manches an Romosans Geschichte lässt sich überprüfen, anderes bleibt Geraune, aber so ist das in Rumänien, wo jede Erzählung eine Lücke füllt – und gleich die nächste aufreisst.
Es ist der Moment, in dem Romosan in weitere Theorien abdriftet. «Die Wahlannullierung war von der EU angeregt worden. Damit es einen Präzedenzfall gab, um Le Pen per Gerichtsentscheid von der Kandidatur in Frankreich fernzuhalten.» Und: «Die Amerikaner werden das Wahlresultat in Rumänien nicht anerkennen und es als Vorwand nutzen, um die Region unter sich und den Russen aufzuteilen.»
Dass Georgescu ausgeschlossen wurde, erstaunt ihn nicht. «Es ist nicht seine Bestimmung, dass er Präsident wird. Er ist dazu bestimmt, etwas zu zerstören. Ich weiss nur nicht, was.»
Ganz am Ende nennt er einen Namen: Sergiu Celac. Er sei damals federführend gewesen, als es um Georgescu ging.
Sergiu Celac? Der ehemalige Übersetzer des Diktators Ceausescu und erste Aussenminister nach der Revolution? Ja. Genau der.
Sergiu Celac, 85, wohnt hoch über dem Ion Mihalache Boulevard, in einem bescheidenen Block für einen ehemaligen Spitzenpolitiker, der Teil der Weltgeschichte war, aber immerhin mit majestätischem Ausblick, «metaphysisch, ich sehe vom jüdischen Friedhof bis zur nationalen Kathedrale», sagt Celac.
Celac wurde eher zufällig der Übersetzer des Diktators. Eigentlich habe er davon geträumt, Diplomat zu werden, «Tuxedo und Cocktails». Und dass er später sogar erster Aussenminister nach der Revolution wurde? «Ein Bonus für meine Sünden.» Was er damit genau meint, bleibt unklar.
Celac erzählt langsam und bestimmt, jeder Satz abgemessen, von einer Zeit, die in Rumänien heute entweder vergessen ist oder undurchdringlich erscheint. Noch in den ersten Stunden der Revolution erteilte der ehemalige Geheimdienst Securitate an seine Zehntausenden Mitarbeiter den Befehl, Akten zu zerstören. Ausgerechnet von den hochrangigen Parteimitgliedern, solchen wie Ion Iliescu, der später Präsident des freien Rumänien wurde, existieren keine Akten.
Klar ist, Celac war Teil der kommunistischen Nomenklatur. Er beschreibt es so: «Ich war gefährlich nahe an der Macht, aber ich selbst hatte nie Macht.» Das ist natürlich eine Untertreibung, aber die Erzählung dient einem höheren Zweck. Jede Geschichte, die in Rumänien erzählt wird, verschleiert die Wahrheit etwas mehr. Es ist eine Lektion aus dem Kommunismus, die Ionita, der Politikanalyst, so zusammenfasst: «Alles, was gesagt wird, ist irrelevant, und alles, was nicht gesagt wird, ist wichtig.»
In Zeitungsartikeln wird Celac als «Mentor» Georgescus bezeichnet. Darauf angesprochen, schweigt er. Dann sagt er, es sei logisch, dass die Journalisten das behaupteten. Schliesslich hatten sich ihre Wege oft gekreuzt. Aber Celac streitet ab, dass hinter Georgescus Aufstieg eine Verschwörung steckte, in der er der Strippenzieher war. Das Treffen von 2009, das Romosan erwähnt hatte? «Bloss ein unbedeutendes Mittagessen, wenn ich mich richtig erinnere, mit einem Headhunter, der tatsächlich einen Kandidaten suchte. Von Verschwörungen hielt ich mich immer fern.»
Damals sei Georgescu ganz anders gewesen. Was ist dann geschehen? «Um das zu verstehen, brauchen Sie einen Psychiater.» Celac glaubt zwar nicht, dass Georgescu ein Agent der Russen sei. «Alles, was ich weiss, ist, dass er einmal zu Besuch auf dem Berg Athos war und sagte, dass ihn das verändert habe.» Er führt nicht aus, was er mit dieser Andeutung meint. Dass manche Klöster auf dem Berg Athos in Griechenland von Russland finanziert und politisch beeinflusst werden, muss man in Rumänien nicht ausführen.
In Rumänien ist auch alles, was nicht gesagt wird, Teil der Erzählung.
III – Macron!
In ihrem Büro im Parlament, dem einstigen Palast des Diktators Ceausescu und heute immer noch zweitgrössten Gebäude der Welt, malt Laura Gherasim wie besessen Linien auf ein Blatt Papier. Die Skizze soll etwas erklären – und etwas widerlegen.
Eigentlich könnte Gherasim sich zufrieden zurücklehnen. Ihre Partei AUR, die in Deutschland ungefähr der AfD entsprechen würde, und ihr Spitzenkandidat George Simion sind diejenigen, die von dem ganzen Wahldebakel im November profitieren.
Nachdem Georgescu ausgeschlossen worden ist, verbleibt ihr Parteipräsident Simion als Spitzenreiter im Rennen und hofft, dass sich die vormaligen Georgescu-Wähler nun für ihn entscheiden werden. Im November war er noch auf dem vierten Rang gelandet, nun steht er plötzlich an der Schwelle zur Macht.
Gherasim ist Juristin, ihre Sätze sind immer eindeutig, meist ist sie auf eine fast schon übergriffige Art freundlich, aber plötzlich, als sie zu zeichnen beginnt, ist sie enerviert. «Hier, der Tag der Wahl», Kästchen, Linie, «hier der Tag, als das Verfassungsgericht verkündete, es werde die Stimmen neu zählen lassen», Linie, Kästchen, «der Tag, als die Wahl annulliert wurde. Plötzlich war alles anders? Was war passiert dazwischen?», fragt Gherasim. Sie gibt sich die Antwort gleich selber: «Vielleicht griff der französische Präsident Macron zum Telefon.»
Gherasim präsentiert eine kaum widerlegbare Verschwörungstheorie. Viele in Rumänien glauben daran. Schliesslich erklärt sie all denen , deren Stimmen von den Richtern annulliert wurden, was ihnen widerfahren ist.
Gherasim sagt, drei der Richter seien vom Präsidenten gewählt worden, andere seien vom Senat bestellt. Sie zeigt auf ihre Skizze: «Das System, das in jenem Moment zurückschlug, als es fürchten musste, von einem neuen Präsidenten, der ihm nicht angehört, entlarvt zu werden.»
Die Erzählung klingt in sich stimmig – solange man die Prämisse akzeptiert, dass es eine Verschwörung gibt. Alle Parteien gegen die Partei von Gherasim. Oder wie Gherasim es sagt: alle Parteien ausser der AUR gegen das rumänische Volk.
Dass Rumänien über Jahre von einem politischen Kartell regiert wurde, bestreitet niemand. Nur: Wer heute wirklich ausserhalb davon steht, ist schwer zu sagen. Zur Wahrheit gehört zum Beispiel, dass auch die selbsternannte Anti-System-Partei AUR zahlreichen Parlamentariern des vormaligen Machtkartells Zuflucht geboten hat und der Parteichef Simion sogar um sie wirbt.
Dass die Russen Georgescu unterstützt haben? «Wieso sollten sie? Es gibt keinerlei Beweise!», sagt Gherasim fast schon empört.
Tatsächlich hat das Verfassungsgericht seine Argumentation nicht gut begründet. Das räumen auch unabhängige rumänische Verfassungsrechtler ein. Und in einem Land, in dem Geschichten mehr Gewicht haben als Beweise, wird jede Lücke schnell von einer phantastisch klingenden Erzählung gefüllt.
Dabei gäbe es durchaus Quellen, die Erklärungen liefern könnten.
Rumänien hat eine lebendige journalistische Szene. Ambitionierte investigative Projekte wie «Snoop» oder «Recorder» veröffentlichen aufwendige und gute Recherchen. Zum Beispiel darüber, wie ein Firmengeflecht Tiktok-Seiten steuert. Die Wurzeln des Firmennetzwerks reichen bis in den Hauptsitz der Partei Einiges Russland von Wladimir Putin.
Für Gherasim sind die Journalisten, die solche Berichte verfassen, «gekauft». Vom Staat und dem System. Nur einem einzigen Fernsehsender vertraut sie, Realitatea TV – und der Starmoderatorin Anca Alexandrescu. Nicht-AUR-Anhängern gilt der Sender als Propagandaschleuder, die nach dem ersten Wahlgang im November Georgescu eine Plattform bot.
Gherasim könnte eigentlich relativ entspannt sein. Der AUR-Kandidat Simion wird ziemlich sicher in den zweiten Wahlgang einziehen. Was fürchtet sie so sehr?
Sie antwortet mit einer Warnung: «Dass das System wieder einen Weg findet, zurückzuschlagen. Meine Eltern haben die Diktatur erlebt. Denken Sie nie, Sie seien sicher vor dem System.»
IV – Ohnmacht
«Und, was sagen die Menschen im Norden? Wählten sie Georgescu aus Rache?»
Alexandru Muraru, 42, wirkt nervös, als er diese Frage stellt. Muraru ist der Mann, der mehr wissen müsste über das, was gerade in Rumänien vorgeht, als die meisten Rumänen. Er ist Parlamentarier und Vorsitzender der Kommission, die den Geheimdienst überwacht. Eine Schlüsselfigur in den diversen Verschwörungskonstrukten. Aber wer mehr weiss, ist nicht unbedingt entspannter.
Muraru ist Historiker, auf dem Tisch in seinem Büro im Parlament liegen Bücher über die Legionäre, die rumänischen Rechtsextremen der dreissiger und vierziger Jahre. Viele Jahre beschäftigte er sich damit, wie die Rumänen sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen – oder es eben gerade nicht tun. Die Geschichtsvergessenheit, die Verdrängung, vielleicht zeigen sich nun die Folgen davon.
Muraru ist überzeugt, dass es keinen anderen Weg gab, als die Wahl zu annullieren. Ja, es gebe eindeutige Beweise, dass die Russen sich eingemischt hätten. Und ja, er glaube, dass Georgescu viele Verbindungen zu russischen Geheimdiensten habe.
Muraru versteht auch, dass die Wahlannullation verheerend war für das Vertrauen in das politische System. «Das ist genau der Nährboden für die nächsten Verschwörungstheorien.» Nur, was hätten sie sonst tun sollen? «Wir sind eine junge, keine gefestigte Demokratie.»
Muraru fühlt sich in die Ecke gedrängt. Er weiss, dass nur die rechten Parteien und Georgescu selbst von der Wahlannullierung profitieren werden. «Die nächsten vier Jahre bis zu den nächsten Parlamentswahlen werden sie diese Geschichte totreiten.» Zugleich weiss er nicht, was man stattdessen hätte tun sollen. «Schliesslich wissen wir aus der Geschichte, dass sich in manchen Momenten die Demokratie selbst abschafft. Wie in Nazideutschland. Wenn wir nicht aufpassen, dann können diese Kräfte auch hier die ganze Philosophie des Staates ändern.»
Das klingt hysterisch. Aber dann wiederum hatte Georgescu genau das für den Fall seines Sieges angekündigt.
Muraru sind die Hände gebunden. Angenommen, bei der Wahlwiederholung käme das Verfassungsgericht erneut zum Schluss, dass die Russen eingegriffen hätten, dieses Mal zugunsten des AUR-Kandidaten Simion – was dann? Muraru schaut vor sich auf den Tisch. «Selbst wenn wir die Beweise hätten, dann nochmals zu annullieren, wäre fast unmöglich. Dann stünden wir sogar vor unseren Partnerländern nicht mehr als richtige Demokratie da.»