Der Tessiner Energieversorger AET hat ein Schiedsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Die Klage wirft ein Schlaglicht auf die Risiken langfristiger Investitionen in einem politisch geprägten Energiemarkt.

Der Tessiner Energieversorger Azienda Elettrica Ticinese (AET) fordert von Deutschland 85 Millionen Euro Schadenersatz. Das berichten die Tamedia-Zeitungen. Hintergrund ist die geplante vorzeitige Stilllegung des Kohlekraftwerks Trianel in Lünen, an dem AET mit rund 16 Prozent beteiligt ist. Die Klage wurde beim internationalen Schiedsgericht der Weltbankgruppe (International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID) in Washington eingereicht.

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AET macht geltend, dass sich die Investition auf einen Betrieb der Anlage bis 2053 bezogen habe. Das deutsche Kohleverstromungsbeendigungsgesetz von 2020 sieht jedoch vor, dass das Kraftwerk bereits 2031 vom Netz geht. Da für diese vorgezogene Abschaltung keine Entschädigung vorgesehen sei, fordert das Unternehmen eine Kompensation für entgangene Einnahmen über die ursprünglich erwartete Lebensdauer der Anlage hinweg.

Die Klage stützt sich auf den Energiecharta-Vertrag, ein multilaterales Abkommen, das Investoren aus Vertragsstaaten unter bestimmten Bedingungen erlaubt, Staaten bei Eingriffen in ihre Investitionen vor einem internationalen Schiedsgericht zu verklagen. Das ICSID wurde 1966 unter dem Dach der Weltbank gegründet, um Investitionsstreitigkeiten durch ein neutrales Verfahren zu lösen und so die Rechtssicherheit für grenzüberschreitende Investitionen zu stärken.

Auch andere Schweizer Energieunternehmen sind vom deutschen Kohleausstieg betroffen. Die Berner Kraftwerke BKW halten einen Anteil von 33 Prozent am Steinkohlekraftwerk Wilhelmshaven. Laut einem Firmensprecher, den die Tamedia-Zeitungen zitieren, ist derzeit keine Klage geplant – ein solcher Schritt werde aber geprüft, falls das Werk vorzeitig vom Netz gehen sollte.

Deutsche Klimaschutz-NGO sehen das Verfahren vor dem Schiedsgericht kritisch. Fabian Flues von der deutschen Lobbyorganisation Powershift mahnt, dass ein Erfolg der Klage nicht nur den deutschen Kohleausstieg verteuern, sondern auch als Präzedenzfall für weitere Verfahren gegen Klimaschutzmassnahmen dienen könnte. «Hier soll das unternehmerische Risiko auf Steuerzahlerinnen und Steuerzahler abgewälzt werden – das ist nicht hinnehmbar», sagt Flues im Tamedia-Artikel.

Christoph Eisenring, Ökonom beim Think-Tank Avenir Suisse, sieht dagegen legitime Gründe für die Existenz solcher Schiedsgerichte. Investitionen im Energiesektor seien extrem langfristig. «Wenn die Energiepolitik alle fünfzehn Jahre wechselt, wird es schwierig», sagt Eisenring. Das ICSID erhöhe die Investitionssicherheit bei grenzüberschreitenden Projekten. «Die Idee ist, dass ein solches Schiedsgericht neutraler urteilt als nationale Gerichte des jeweiligen Staates.»

Um die Erfolgschancen der Klage von AET abzuschätzen, lohnt sich ein Blick auf ein vergleichbares Verfahren im Zusammenhang mit dem deutschen Atomausstieg. Der schwedische Energiekonzern Vattenfall hatte beim ICSID eine Klage gegen Deutschland angestrengt, nachdem die Kraftwerke Krümmel und Brunsbüttel vorzeitig abgeschaltet worden waren. Im Rahmen einer Einigung mit mehreren Energieunternehmen zahlte die Bundesregierung insgesamt 2,43 Milliarden Euro Entschädigung – 1,425 Milliarden davon an Vattenfall.

Ähnlich gelagert ist der Fall Vattenfall deswegen, weil auch dort eine Firma aus einem Nicht-EU-Land gegen ein EU-Land klagte. Geht es um Investitionsstreitigkeiten innerhalb der EU, hat der Deutsche Bundesgerichtshof (BGH) nämlich jüngst in einem anderen Fall die Zuständigkeit deutscher Gerichte bestätigt. In einem Verfahren zwischen den Unternehmen RWE, Uniper und Mainstream Renewable Power auf der einen sowie den Staaten Deutschland und Niederlande auf der anderen Seite urteilte der BGH, dass Klagen europäischer Unternehmen gegen EU-Staaten nicht vor dem ICSID geführt werden dürfen. Solche Schiedsverfahren verstossen laut Europäischem Gerichtshof gegen das EU-Recht.

AET hat seine ICSID-Klage im Oktober 2023 eingereicht. Öffentlich bekannt wurde sie erst jetzt. Die NZZ konnte den Inhalt der Klage noch nicht überprüfen, da die Website des ICSID am Wochenende wegen «dringender Wartungsarbeiten» nicht erreichbar war.

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