Montag, Oktober 28

Narzissten meinen, sie seien allen überlegen? Nicht immer. Manche von ihnen fühlen sich minderwertig und begegnen ihren Mitmenschen mit Neid und Missgunst. Betroffen sind mehrheitlich Frauen.

Sie tummeln sich in Chefetagen oder hohen Ämtern, lieben den grossen Auftritt, schauen auf andere herab und fühlen sich durch jede Kritik gekränkt: Narzissten, jedenfalls die von dem Typus, der uns medial am häufigsten begegnet, dem grandiosen Narzissmus.

Doch das ist nur die eine Seite des Narzissmus, die zweite gerät meist aus dem Blick, weil sie unbekannter ist – der vulnerable Narzissmus.

Vulnerable Narzissten neigen etwa dazu, sich selbst als Opfer zu stilisieren und sich permanent enttäuscht zu zeigen. «Dir ist doch egal, wie ich mich fühle, alle anderen sind dir wichtiger», «Mich versteht sowieso niemand» – solche Aussagen zielen darauf ab, Mitmenschen durch ein schlechtes Gewissen zu manipulieren.

Diese Form des Narzissmus ist auch als weiblicher Narzissmus bekannt. Tatsächlich wird er häufiger bei Frauen beobachtet als bei Männern, er kann aber bei beiden Geschlechtern vorkommen.

In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2015 konnten Emily Grijalva und ihr Team von der University at Buffalo School of Management zeigen, dass es tatsächlich geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Die Analyse von 355 Studien, an denen insgesamt 470 000 Probanden teilnahmen, ergab, dass Männer zwar tendenziell narzisstischer sind als Frauen. Die Forscher fanden aber auch heraus, dass vulnerabler Narzissmus öfter bei Frauen vorkommt und häufiger bei solchen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben, emotional labil und introvertiert sind. Deckt die «grandiose» Seite den Aspekt der «Selbsterhöhung» ab, beschreibt «Vulnerabilität» stärker die Minderwertigkeitsgefühle, die ja ebenfalls mit narzisstischen Zügen einhergehen. Das hat auch eine Studie von Aidan Wright von der University of Pittsburgh und Aaron L. Pincus von der Pennsylvania State University ergeben. Ihre Untersuchung zeigte, dass Frauen stärker zu Empfindlichkeit und Unsicherheit neigten, während Männer eher zu übertriebener Selbstdarstellung und Dominanz tendierten.

Selbsterhöhung und Selbstverachtung können einander abwechseln

Auch wenn diese beiden Eigenschaften «grandios» und «vulnerabel» auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, betont die klinische Psychologin Diana Diamond von der City University in New York, das Oszillieren zwischen Selbsterhöhung und Selbstverachtung sei typisch für Narzissmus. Auch Stefan Röpke, der als Psychiater an der Charité Universitätsmedizin in Berlin arbeitet, bestätigt, dass der vulnerable Typus in den grandiosen umschlagen kann und umgekehrt.

«Die Unterscheidung in grandiosen Narzissmus und vulnerablen ist wenig empirisch erforscht, und basiert doch auf Beobachtungen aus dem klinischen Alltag», sagt er. Menschen mit narzisstischen Zügen falle es sehr schwer, ihren Selbstwert zu regulieren. Auch wenn grandiose Narzissten oft den Anschein erwecken, ein hohes Selbstwertgefühl zu haben, handelt es sich dabei eher um einen Schutzmechanismus und eine sogenannte überkompensatorische Strategie.

Breche dieser Schutzmechanismus wegen beruflicher Misserfolge, einer Scheidung oder einem wie auch immer gearteten Statusverlust zusammen, tauchten eher vulnerable Züge auf. Die Betroffenen fühlten sich dann wertlos, inkompetent und unzulänglich.

Typische Anzeichen für vulnerablen Narzissmus

Vulnerable Narzissten begegnen ihren Mitmenschen oft mit Missgunst und Neid. Erfolge, Freuden oder schöne Erlebnisse ihres nahen Umfelds empfinden sie als unverdient und ungerecht. Vulnerabler Narzissmus kann sich auch in einer Art Hypermoral äussern. «Hast du gesehen, wie die herumläuft!», «Das steht ihr überhaupt nicht», sind Sätze, die dann fallen können. Auch die eingangs erwähnte Opfermentalität ist typisch.

Der Psychiater Stefan Röpke sagt dazu: «Wer die Opferrolle einnimmt, steuert das Verhalten wohlwollender Mitmenschen sehr effektiv.» Dies wissen Narzissten, und sie nutzen das Mitgefühl ihres Umfelds aus, um ihre Bedürfnisse durchzusetzen: «Wenn ich dir wirklich wichtig wäre, würdest du das nicht tun.»

Wer sich als Opfer seiner Umstände stilisiert, muss zudem keine Verantwortung für sein eigenes Verhalten übernehmen: «Ich hätte ja gearbeitet, aber euretwegen, Kinder, bin ich zu Hause geblieben und habe auf meinen Traumjob verzichtet.» Oder: «Warum sollte ich mich abrackern, wenn andere Menschen erben?»

Konfrontiert man vulnerable Narzissten mit ihrem Verhalten, leugnen sie, verletzende Aussagen gemacht zu haben, oder sie lenken ab, indem sie Schuldumkehr betreiben: «Du reagierst immer so empfindlich.» Zum Werkzeugkoffer vulnerabler Narzissten gehören emotionale Erpressung, Liebesentzug, Schuldumkehr und Hypersensibilität als Waffe.

Wendet sich das Umfeld daraufhin ab, sanktionieren sie dieses Verhalten, indem sie gekränkt reagieren. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, Schuldgefühle in ihrem Gegenüber auszulösen.

Vulnerable Narzissten sind schwierig zu diagnostizieren

Natürlich leiden nicht alle Menschen, die andere abwerten oder sich selbst als Opfer stilisieren, an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Einige weisen eventuell bloss narzisstische Züge auf oder haben andere psychische Störungen.

Sabine Herpertz arbeitet als Psychiaterin an der Uni Heidelberg und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Persönlichkeitsstörungen. Sie sagt: «Die Narzissmus-Diagnose droht zu einer diagnostischen Schublade zu werden.» Immer öfter erlebe sie, dass Familienmitglieder ihre Angehörigen mit der Verdachtsdiagnose «Narzissmus» in die Klinik schickten, ohne professionell geschult zu sein.

Und selbst Profis fällt es schwer, die Störung richtig einzugrenzen. Da Menschen mit narzisstischen Zügen Psychotherapien oft vorzeitig abbrechen, existieren wenige aussagekräftige Langzeitstudien. Einig sind sich die meisten klinischen Psychologen jedoch, dass im Mittelpunkt des Narzissmus eine Selbstwert-Problematik steht.

Erschwerend kommt hinzu, dass das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM 5) vor allem die grandiose Seite des Narzissmus aufführt, der vulnerable Teil wird kaum beleuchtet.

Auch wenn es keine konkreten Studien dazu gibt, kann man von einer Tendenz der Unterdiagnose des vulnerablen Narzissmus ausgehen. Er ist schwerer auszumachen, da Symptome wie starke Selbstverachtung und Scham, Unsicherheit und das Scheuen sozialer Interaktionen ähnlich sein können wie bei Depressionen, emotionaler Instabilität oder Angststörungen. Das birgt die Gefahr, dass Therapeuten den Kern der narzisstischen Selbstwert-Problematik nicht erkennen.

Die diagnostischen Herausforderungen beleuchtet auch eine Untersuchung von Aaron Pincus von der Pennsylvania State University aus dem Jahr 2011. Seine Studie weist darauf hin, dass vulnerabler Narzissmus häufig übersehen wird.

Was Stefan Röpke aber aus seiner klinischen Erfahrung sagen kann: In der Therapie träfen die meisten Menschen in ihrer vulnerablen Phase ein. Nach Jobverlust, Trennung, Zurückweisung oder anderen Misserfolgen breche die typische Selbsterhöhung oft zusammen und zeige Risse. Die Betroffenen berichteten dann von tiefer Traurigkeit und Leere. Diese Symptome seien jedoch auch typisch für andere Erkrankungen wie beispielsweise eine starke Depression. Es besteht also Verwechslungsgefahr.

Das sei auch der Grund, so Röpke, weshalb das amerikanische Klassifikationsmodell für psychische Störungen stärker auf die grandiose Dimension des Narzissmus abziele. «Das DSM 5 sucht Merkmale, die spezifisch sind und nicht mit einer anderen Störung verwechselt werden können», sagt er.

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Der Mangel Empathie erschwert die Therapie

Kennzeichnend für Narzissten beider Typen ist ihr Mangel an Empathie. Narzissten fällt es schwer, sich offen mit den Gedanken und Gefühlen ihrer Mitmenschen auseinanderzusetzen. Ihnen fehlen die Fähigkeit und der Wille, sich auf zugewandte, freundliche Weise klarzumachen, was in anderen vorgeht.

Sie sind zwar durchaus fähig, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen zu erkennen, doch sie nutzen dieses Wissen nicht, um verständnisvoll zu reagieren, sondern um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Und da ihr Hauptziel ist, sich selbst als überlegen wahrzunehmen, weil nur das ihnen Kontrolle gibt, richtet sich das gesamte Bestreben ihrer Psyche darauf aus, eigene Gefühle der Scham und Minderwertigkeit nicht zu spüren. Diese Emotionen projizieren sie stattdessen auf Freunde, Partner, Kinder und Kollegen.

Dieser Mangel an Empathie macht auch die Therapie mit Narzissten herausfordernd. Sie gelten als schwer zu behandeln. Da sie sich selbst verachten, stellen nahe Beziehungen zu anderen Menschen für sie generell eine Bedrohung dar. Wie sie wirklich sind und fühlen, soll niemand wissen. Sich verletzlich zu zeigen, stürzt sie in abgrundtiefe Ängste.

Deswegen sprechen sie in Anwesenheit des Therapeuten entweder zu sich selbst oder versuchen den Therapeuten zu beeinflussen, zum Beispiel indem sie Situationen so schildern, dass sie selbst in einem besseren Licht dastehen. Manche Patienten stellen auch die professionelle Eignung der Therapeuten infrage, indem sie einen Rollenwechsel vollziehen und suggerieren, mehr über Psychologie zu wissen. Zudem meiden sie bestimmte Themen, um sich nicht mit eigenen unangenehmen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen.

Da sie jede Kritik an ihrer Person als potenziell zerstörerisch für ihr Selbstwertgefühl wahrnehmen, wehren sie auch konstruktiv vorgetragenes Feedback mehrheitlich ab oder sehen feindliche Absichten, wo keine sind. Diese verzerrte Wahrnehmung zu korrigieren, ist eine von vielen Aufgaben der Therapie. Aber wie erwähnt, das gelingt längst nicht immer.

Das Leid der Angehörigen

Angehörige haben unterdessen das Gefühl, ständig aufpassen zu müssen, was sie tun und sagen, um den Narzissten nicht zu kränken oder Wutausbrüche heraufzubeschwören. Häufig fühlen sich Freunde, Partner und Familie sowohl von grandiosen als auch von vulnerablen Narzissten ausgelaugt und erschöpft. Und weil sich vulnerable Narzissten chronisch benachteiligt fühlen und jede Eigenverantwortung an der Gesamtsituation ablehnen, hat ihr Umfeld oft das permanente Gefühl, helfen zu müssen.

Immerhin gelten Narzissten in ihren vulnerablen Phasen als offener für eine Therapie. Aber auch hier ist laut dem Psychiater Stefan Röpke die Gefahr gross, dass sie die Therapie abbrechen. Denn sie fühlen sich schnell kritisiert oder nicht verstanden. Die Selbstwert-Problematik ist bei Narzissten so tief verankert, dass nicht nur die Angehörigen, sondern auch Therapeuten viel Geduld und eine sichere Vertrauensbasis mit diesen Patienten brauchen.

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