Alle sind sich einig, dass Europa mehr in die Sicherheit investieren muss. Brüssel hat die Verteidigung zur Top-Priorität erklärt. Woher die Milliarden kommen sollen, bleibt offen.
Europa ist ein «wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm». Dieses Bonmot stammt vom früheren belgischen Aussenminister Mark Eyskens – und ist mehr als dreissig Jahre alt. Seither ist die Welt eine andere geworden, aber die Aussage hat an Gültigkeit nichts verloren. Sicherheitspolitik ist nach wie vor eine überwiegend nationale Angelegenheit.
Angesichts der rasanten geopolitischen Veränderungen – notabene der Hegemonieansprüche Russlands – hat sich das Problembewusstsein jüngst aber verschoben. Sämtlichen EU-Staaten ist klar, dass sie mehr in die Verteidigung investieren müssen. «Mehr» reicht aber noch nicht – das allgemeine Aufrüsten soll auch gemeinschaftlicher als bis anhin erfolgen.
Aus diesem Grund hat die EU-Kommission im Dezember den Posten des EU-Verteidigungskommissars geschaffen, der vom früheren litauischen Ministerpräsidenten Andrius Kubilius bekleidet wird – ein Meilenstein in der Geschichte der Union. Allein dass es diese Funktion jetzt gibt, illustriert den Paradigmawechsel: Mit Thierry Breton war schon zuvor ein EU-Kommissar für Verteidigung zuständig, die Aufgabe war in dessen Mega-Dossier mit Binnenmarkt und Dienstleistung aber eher ein Anhängsel.
Keine Doppelspurigkeiten mit der Nato
Eine klarer umrissene Verantwortlichkeit garantiert derweil noch keine kohärente Politik. Wie also kann die europäische Verteidigungsarchitektur auf neue Beine gestellt werden, ohne die nationale Souveränität zu beschneiden und vor allem ohne Doppelspurigkeiten mit der Nato aufzubauen? Zur Erinnerung: Die Mitgliedstaaten der beiden Organisationen sind weitgehend deckungsgleich, lediglich vier kleine bis mittelgrosse EU-Staaten – Österreich, Irland, Zypern und Malta – sind nicht bei der Nato an Bord.
Antworten darauf will Kubilius in seinem «Weissbuch» liefern, das im März erwartet wird. Er wird dies in Absprache mit den europäischen Staats- und Regierungschefs tun, die sich am Montag zu einem informellen Gipfel ganz im Zeichen der Verteidigung treffen. Nicht zuletzt will auch der soeben gegründete Verteidigungsausschuss im Europäischen Parlament seinen Einfluss geltend machen. Entscheidungsprozesse in der EU – da ist auch die Sicherheitspolitik keine Ausnahme – finden immer auf drei Ebenen statt.
Eine EU-Armee wird es nie geben
Klar ist freilich schon jetzt: Gesucht wird zwar eine wie auch immer geartete «Verteidigungsunion» – aber weder jetzt noch in absehbarer Zukunft wird es darum gehen, eine gemeinsame europäische Armee aufzubauen. «Beim Militär reden wir über Leben und Tod: Dass ein portugiesischer Politiker über das Schicksal eines finnischen Soldaten entscheidet, ist unvorstellbar», sagt Dick Zandee, Vorsteher des Sicherheits- und Verteidigungsprogramms am niederländischen Clingendael-Institut. In Kubilius’ «Mission Letter», seinem Pflichtenheft, lautet einer der ersten Sätze: «Die Mitgliedstaaten werden immer für ihre Streitkräfte zuständig sein, von der Militärdoktrin bis zum Einsatz.»
Das grosse Aber folgt auf den nächsten Seiten: Bei der Rüstungsbeschaffung, der Forschung, der Bereitstellung von Industriekapazitäten und der Harmonisierung von Waffensystemen könne die EU als Institution hingegen viel bewirken.
Kubilius ist freilich nicht zu beneiden, er wird schon bald auf vielfältigen Widerstand stossen. Ein Beispiel: Gemeinsame Beschaffung sieht auf dem Papier gut aus. Aber soll denn eine französische, deutsche oder italienische Rüstungsfirma den entsprechenden Auftrag – mit all den damit verbundenen Arbeitsplätzen – erhalten? «Dass der neue Verteidigungskommissar aus einem Kleinstaat ohne bedeutsame Waffenindustrie stammt, ist wohl kein Zufall», sagt Daniel Fiott vom Centre for Security, Diplomacy and Strategy in Brüssel.
Tabubruch Corona-Fonds
Noch komplexer ist die Finanzierungsfrage. Eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit Europas wird gewaltige Summen verschlingen, zumal die eigenen Vorräte nach den Waffenlieferungen an die Ukraine aufgestockt werden müssen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Bedarf auf 500 Milliarden über einen Zeitraum von zehn Jahren beziffert. Kubilius spricht von 100 Milliarden über sieben Jahre. Wie viel es letztlich auch sein wird: Woher will man in Zeiten von klammen, teilweise überschuldeten Mitgliedstaaten die gewaltigen Summen nehmen?
Zur Diskussion stehen verschiedene Ansätze: Der siebenjährige Finanzrahmen der EU hat derzeit einen Umfang von rund 1200 Milliarden Euro und dürfte für die nächste Periode ab 2028 noch ansteigen. Es gibt also durchaus Potenzial für Umschichtungen. Tendenz: Weniger regional gestreute Kohäsionsgelder, mehr Mittel für die Zentrale. Niemals aber wird ein veränderter Verteilschlüssel den Bedarf an Verteidigungsgeldern decken. Und massiv höhere Beitragszahlungen von den Mitgliedsländern nach Brüssel würden in den Hauptstädten innenpolitische Spannungen auslösen.
Für die Europäische Investitionsbank (EIB) wurden die Regeln im vergangenen Jahr gelockert. Sie hat nun mehr Möglichkeiten, sogenannte Dual-Use-Güter für militärische und zivile Zwecke zu finanzieren. 2024 verdoppelte sie die Investitionen in Sicherheit und Verteidigung deshalb auf eine 1 Milliarde Euro, 2025 sollen es gar 2 Milliarden sein – und der Druck für mehr Flexibilität bleibt hoch: 19 EU-Staaten haben am Donnerstag in einem gemeinsamen Brief gefordert, dass die EIB die Liste der im Rüstungsbereich ausgeschlossenen Aktivitäten «nochmals evaluiert».
Sorgt die Corona-Zinslast für ein Umdenken?
Die umstrittenste und gleichzeitig «ertragreichste» Option sind gemeinsame Schulden – so wie es die Union beim 2021 beschlossenen und mit 650 Milliarden Euro bestückten Corona-Aufbaufonds erstmals getan hat. In Ländern wie Deutschland, Österreich oder den Niederlanden ist der Widerstand gegen einen neuerlichen «Tabubruch» allerdings gross, schliesslich schränken die Schulden von heute den Handlungsspielraum von morgen ein.
Schlägt die Zinslast wegen der Corona-Schulden in den nächsten Jahren voll durch, wachsen wohl auch in den französischen, italienischen oder baltischen Finanzministerien die Bedenken. Der politische Streit ist vorprogrammiert, wenn der Bevölkerung der Abbau von Sozialleistungen bei dem gleichzeitigen Aufbau der Wehrfähigkeit schmackhaft gemacht werden muss. Kubilius – und mit ihm die Regierungen in den europäischen Hauptstädten – ist nicht zu beneiden.