Sonntag, November 24

Südkorea sei nur sicher, wenn es selber Atomwaffen entwickle. Diese Haltung findet in der Bevölkerung zunehmend Anhänger. Der oberste Unterhändler der Regierung warnt vor fatalen Konsequenzen.

Nordkorea droht seinen Gegnern massiv, unablässig und laut. So warnte Machthaber Kim Jong Un mehrfach vor Nuklearschlägen und einem «radioaktiven Tsunami», der Millionenstädte in eine Feuerhölle verwandeln werde.

Lange wurde der Lärm aus dem Norden in Seoul nicht sehr ernst genommen. «Die Nordkoreaner versicherten am Verhandlungstisch, dass sie niemals Südkorea – also einen Teil des koreanischen Volks – mit Atomwaffen angreifen würden», sagt Kim Gunn, der Chefunterhändler der südkoreanischen Regierung für Nuklearfragen. Das Atombombenarsenal richte sich gegen Amerika, behauptete Nordkorea.

2022 wechselte Nordkorea indes die Tonalität. «Die Führung in Pjongjang spricht seither von einem möglichen Atomschlag gegen uns», sagt Kim Gunn. Er hat Südkorea an den inzwischen abgebrochenen Verhandlungen über die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel vertreten. Bis 2009 nahmen auch die USA, Japan, Russland und China an den sogenannten Sechs-Parteien-Gesprächen teil.

Den Glauben an ein atomwaffenfreies Korea verloren

Ähnlich düster klingt die Lagebeurteilung von Cheong Seong Chang, dem Ostasien-Direktor am Sejong Institute in Seoul. Der Politikwissenschafter hat mit einer Arbeit über das Denken in der kommunistischen Kim-Dynastie doktoriert. Er verweist ebenfalls auf die neue Nukleardoktrin und sagt: «Ich habe den Glauben verloren, dass die koreanische Halbinsel jemals atomwaffenfrei wird.»

Anfang dieser Woche verschärfte Kim Jong Un seine Rhetorik und erklärte Südkorea zum «unverrückbaren Hauptfeind». Das Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung will er aus der Verfassung streichen.

Wie soll man sich gegenüber einem aggressiven Nachbarn verhalten, der mit Präventivschlägen droht und sein atomares Arsenal stetig ausbaut? Für den Nordkorea-Experten Cheong ist die Antwort klar: Südkorea muss sich auch Nuklearwaffen zulegen.

Den nuklearen Schutzschirm, den Amerika über Südkorea gespannt hat, hält Cheong für wirkungslos. Sollte Nordkorea den Süden mit Atomwaffen angreifen, sei es fraglich, ob Washington sein Nukleararsenal für einen Vergeltungsschlag einsetzen – und damit Millionen von Menschen in den USA gefährden – würde. Nordkorea wäre nämlich in der Lage, mit Interkontinentalraketen Amerikas Festland zu erreichen. Cheong hält es für ausgeschlossen, dass Washington ein solches Risiko einginge. Daher brauche sein Land eigene Atomwaffen.

Drastische Konsequenzen?

Für Kim Gunn, den Sonderbeauftragten der Regierung für Frieden und Sicherheit auf der koreanischen Halbinsel, sind das gefährliche Gedankenspiele. «Träte Südkorea aus dem Atomwaffensperrvertrag aus, befänden wir uns im selben Boot wie Nordkorea.» Weniger diplomatisch formuliert: Seoul würde damit ebenfalls zum Paria der Staatenwelt. Und Südkorea, dessen Wohlstand von Exporten abhänge, würde sofort von einer Vielzahl von Ländern mit Sanktionen belegt, gibt Kim Gunn zu bedenken.

Wenn sich Südkorea nicht atomar bewaffnen soll, was dann? Der südkoreanische Spitzendiplomat setzt darauf, Nordkorea Daumenschrauben anzulegen, sprich, es mit härteren Sanktionen zum Einlenken zu zwingen. Er hält den Eindruck, dass das Instrumentarium ausgeschöpft sei, für falsch. «Erst seit 2016 wird Nordkorea mit griffigen Sanktionen belegt, die generell auf die Wirtschaft zielen.» Zuvor seien primär Güter sanktioniert worden, die für das Waffenprogramm eingesetzt werden könnten. Kim sieht noch erheblichen Spielraum für weitere Strafmassnahmen.

Zusammen mit Amerika und Japan arbeitet Kim an einem neuen Sanktionsregime, um Pjongjangs kriminelle Aktivitäten im Cyberspace zu unterbinden und illegal erbeutete Gelder einzufrieren. Seoul wirft Pjongjang vor, sein gigantisches Waffenarsenal mit dubiosen Geschäften zu finanzieren. Auch verdiene der Norden viel Geld mit Scheinfirmen, die IT-Dienstleistungen anböten.

Die Botschaft des südkoreanischen Unterhändlers an den Machthaber Kim Jong Un: «Es führt nichts daran vorbei, das Atomwaffenprogramm einzustellen. Von dieser Forderung wird die internationale Gemeinschaft auch in den nächsten hundert Jahren nicht abrücken.»

Für den Nordkorea-Spezialisten Cheong ist das reines Wunschdenken. Er glaubt nicht daran, dass Kim Jong Un sich je wieder von der Bombe mit der grössten Zerstörungskraft trennen wird. Dass Südkorea als Atommacht zum Ziel von wirtschaftlichen und politischen Repressalien würde, stellt Cheong nicht in Abrede. Nur erwartet er weniger harte Konsequenzen als der Regierungsvertreter Kim. Die USA würden sich mit langanhaltenden Sanktionen ins eigene Fleisch schneiden, so argumentiert der Politologe. Denn Amerika sei auf südkoreanische Halbleiter angewiesen – und brauche Seoul als Alliierten gegen Peking.

Cheong hält die Warnungen vor Sanktionen für überzogen, zumal Südkorea seiner Meinung nach nicht einfach als Vertragsbrecher dastehen würde. Er verweist auf Artikel 10 des Atomwaffensperrvertrags, der einen Rückzug aus dem Vertrag erlaubt, sofern ausserordentliche Ereignisse die Sicherheit des Unterzeichnerstaats gefährden. Aus Sicht von Cheong ist diese Voraussetzung gegeben.

Druck von oben und unten

Der Ruf nach der Atombombe stösst in der Bevölkerung auf Anklang. Über 70 Prozent der Südkoreanerinnen und Südkoreaner sprechen sich in Umfragen für eigene Atomwaffen aus. Wenig erstaunlich nahmen auch Politiker den Ball auf. Südkoreas konservativer Präsident Yoon Suk Yeol sinnierte vor einem Jahr unverblümt über eine atomare Bewaffnung Südkoreas. Sein Land könnte selbst Atomwaffen entwickeln, und zwar ziemlich schnell, erklärte Yoon.

Das Präsidialamt beschwichtigte nach den brisanten Äusserungen und nannte das Szenario unrealistisch. Südkorea stehe weiterhin für die Nichtverbreitung von Atomwaffen ein. Damit war der Spuk indes nicht aus der Welt geschafft. Der einflussreiche Bürgermeister von Seoul, Oh Se Hoon, doppelte nach. Er hegt Ambitionen auf das Staatspräsidium.

Amerika hat schnell auf die Debatte reagiert. Washington entsandte zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten wieder ein U-Boot nach Korea, das Raketen mit Atomsprengköpfen abfeuern kann. Die Schutzmacht unterstrich damit ihre Unterstützung für den Bündnispartner. Auch signalisierte sie die Bereitschaft, südkoreanische Generäle stärker in die strategische Einsatzplanung für Nuklearwaffen einzubeziehen.

Für den Politologen Cheong sind solche Massnahmen nichts als Symbolpolitik: «Letztlich hat der amerikanische Präsident die alleinige Befugnis, einen Atomschlag anzuordnen.» Südkorea bleibe abhängig von den USA. «Bei einer Wiederwahl zum Präsidenten wird sich Donald Trump erneut fragen, wieso er den Südkoreanern helfen soll.»

Südkorea unterhielt in den siebziger Jahren ein geheimes Atomprogramm. Washington stellte Südkorea damals vor die Wahl, entweder das Projekt zu beenden oder den militärischen Rückhalt Amerikas zu verlieren. Daraufhin lenkte Seoul ein.

Rütteln an einem Tabu

Wenig erstaunlich bewerten der Spitzendiplomat Kim und der Nordkorea-Experte Cheong die öffentliche Debatte völlig unterschiedlich. Kim findet die hohen Zustimmungswerte in der Bevölkerung wenig aussagekräftig: «Wüssten die Befragten, welch hohen Preis Südkorea für einen Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag bezahlen müsste, kämen die Umfragen zu einem anderen Ergebnis.»

Cheong hingegen glaubt an einen Trend, der sich verfestigen werde: «Eine atomare Bewaffnung Südkoreas galt in Fachkreisen lange als Tabu.» Das sei Vergangenheit. Mehr und mehr Experten schwenkten um. Auch in den politischen Parteien sieht er Bewegung.

Sollte Südkorea tatsächlich Atombomben entwickeln und wie Nordkorea vor zwanzig Jahren aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen, bedeutete dies einen herben Rückschlag für das nukleare Nonproliferationsregime. Japan würde wahrscheinlich denselben Schritt tun. Es verfügt über grosse Mengen an Plutonium. Laut Experten könnte Nippon innerhalb weniger Monate Atombomben bauen. Es wäre unweigerlich der Auftakt zu einem atomaren Wettrennen in Asien und darüber hinaus.

Die Gespräche mit Kim Gunn, Südkoreas Sonderbeauftragtem für die koreanische Halbinsel, und dem Politikwissenschafter Cheong Seong Chang wurden vor der Ankündigung der nordkoreanischen Führung geführt, das Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung aufzugeben.

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