Montag, Oktober 7

Der im Schweizer Exil lebende weissrussische Autor Sasha Filipenko wundert sich darüber, dass beim grossen Gefangenenaustausch keine Landsleute dabei waren. Und ist doch auch wenig erstaunt, denn der Westen starrt immer nur hypnotisch auf Putin.

Der Anfang August zwischen Russland und westlichen Ländern erfolgte Austausch von Gefangenen – der grösste seit dem Kalten Krieg – war zweifellos ein bedeutsames Ereignis. Viele gaben sich befriedigt, doch in Weissrussland griff Trauer um sich. Natürlich freuten sich die demokratischen Kräfte über alle politischen Häftlinge und Journalisten, die den russischen Gefängnissen entrannen, doch stellte man sich auch die berechtigte Frage: Wie kann es sein, dass kein einziger Weissrusse Berücksichtigung fand, wo doch der Diktator Lukaschenko an den Verhandlungen beteiligt war und ein deutscher Staatsbürger freikam, der in Minsk zum Tod verurteilt war?

Dazu kursieren mehrere Versionen. Eine besagt, dass eine mögliche Freilassung weissrussischer politischer Gefangener gar nie in Betracht gezogen wurde. Dass Lukaschenko einfach die Anweisungen Putins befolgt habe und dieser einen «Deutschen» gebraucht habe, um ihn gegen seinen FSB-Agenten, den Tiergartenmörder Krasikow, austauschen zu können. Als treuer Satrap habe Lukaschenko geliefert.

Gemäss einer anderen Version gab es durchaus Verhandlungen über die Freilassung weissrussischer Häftlinge, doch auf einer anderen Schiene, und es sei darauf geachtet worden, beides nicht zu vermischen. Mit Gewissheit wird man die Wahrheit nie erfahren, realistisch scheint allerdings, dass das Schicksal der weissrussischen politischen Gefangenen bei den Verhandlungen nie ein Thema war. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Eigene kulturelle Identität

Erstens: Für die USA und Europa steht nach wie vor im Vordergrund, was in Russland passiert; was indes Weissrussland betrifft, herrscht weitum Gleichgültigkeit. De iure ist das Land unabhängig, de facto aber ein Satellit des Kremls – trotz der unablässigen Aufklärungsarbeit der weissrussischen Opposition, dass es sich bei Weissrussland um eine eigene kulturelle Identität handelt. Der Westen ist nicht erpicht darauf, um dieses Land zu kämpfen (nicht einmal auf diplomatischer Ebene), und schon gar nicht will er deswegen ein noch grösseres Zerwürfnis mit Putin riskieren.

Zweitens: Während Putin bestrebt ist, selbst klar als Mörder überführte Spione zu repatriieren, sind Lukaschenko seine Leute vollkommen egal. Und während Putin die freigelassenen Regimekritiker offenbar nicht als Bedrohung empfindet, sieht Lukaschenko in jedem, der hinter Gittern sitzt, eine Gefahr.

Das Problem besteht drittens darin, dass der Westen Lukaschenko nichts anzubieten hat: Die gegen Weissrussland verhängten Sanktionen sind bereits heute so zahlreich, dass vereinzelte Aufhebungen für Minsk keine wesentliche Verbesserung brächten. Zudem hat Lukaschenko im Wissen, dass Europa immer Schlupflöcher offenlässt, gelernt, die Sanktionen zu umgehen. So werden Sanktionen unterworfene weissrussische Waren halt als kirgisische Waren verkauft. Wozu man sie nicht einmal ausser Landes bringen muss, es reicht, die Dinge einfach umzuetikettieren.

Klar ist auch, dass ein Gefangenenaustausch für Lukaschenko keinen strategischen Sinn hat, weil sogleich andere missliebige Subjekte einsitzen würden. Kürzlich rief Lukaschenko eine «Amnestie» aus, im Zuge deren er achtzehn politischen Gefangenen die Freiheit schenkte. Das sieht nett aus – bloss wurden am selben Tag 56 andere Regimekritiker verhaftet. Gegenwärtig sitzen immer noch rund 1500 politische Gefangene in den weissrussischen Gefängnissen, unter Bedingungen, die nach internationalen Massstäben Folter gleichkommen.

Man muss wissen, dass weissrussische politische Häftlinge und russische politische Häftlinge nicht denselben Status besitzen. Weissrussland ist ein Folterlabor, in dem jeden Tag neue und «bessere» Methoden von Unmenschlichkeit erprobt werden. Während in Russland Politikern, Aktivisten und Journalisten zwar unter grossen Mühen, aber am Ende doch Anwälte gestellt werden können und Gefangene Briefe schreiben, Bücher lesen und im Gefängnisladen einkaufen dürfen, ist all das in Weissrussland verboten.

Oppositionsführer werden in absoluter Isolationshaft gefangen gehalten, sprich ohne jeden Kontakt gegen aussen und von aussen, was nach internationalen Standards als schwere Menschenrechtsverletzung gilt. Prominente Gegner des weissrussischen Regimes sehen nicht nur keine Anwälte, sie dürfen auch nicht mit Angehörigen kommunizieren (nicht einmal per Brief). Darüber hinaus wird ihnen auch der Kontakt zu anderen Häftlingen verweigert. Oppositionsführer sitzen ein in Isolierzellen, ohne jede Möglichkeit, sich mit jemandem auszutauschen. Ausgang gibt es in einem geschlossenen Innenhof, in den kein Sonnenstrahl gelangt. Tollwütige Hunde führen ein besseres Leben.

Keine Hygieneartikel

Strikte Isolationshaft ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Wir wissen nicht und können nicht wissen, was genau mit den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Sergei Tichanowski und Wiktor Babariko geschehen ist, wir haben keine Ahnung, wie es ihnen geht und ob sie Zugang zu medizinischer Betreuung haben.

Was zum totalen Abgeschnittensein von der Welt noch hinzukommt: Weissrussischen politischen Häftlingen werden auch einfachste Hygieneartikel vorenthalten. Sie bekommen keine frische Unterwäsche. «Neue» Unterhosen erben die Häftlinge meistens von Mitinsassen, die freikommen. Reinigen kann man sie nur mit kaltem Wasser, weil es in den Zellen kein Warmwasser gibt. Allerdings hat ein solches «Glück» natürlich nur, wer überhaupt Mitinsassen hat. Oppositionsführer gehören nicht dazu. Sie sitzen in Isolierzellen – ohne Seife, ohne Zahnbürste, ohne Klopapier. Und das für Jahre.

Wladimir Iwanowitsch Kniga war Freiwilliger im Team von Swetlana Tichanowskaja, die in den gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2020 gegen Lukaschenko antrat und heute im litauischen Exil lebt. Während der Ermittlungen gegen ihn sass er 2022 über vier Monate in strikter Einzelhaft, was fortgesetzter Folter gleichkommt. Heute gibt es seit über 300 Tagen keine Nachricht von ihm.

Nikolai Statkewitsch, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, wurde 2020 auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung von Swetlana Tichanowskaja verhaftet. Am 20. Juni 2022 wurde er in die Strafkolonie Nr. 13 überstellt. Ein halbes Jahr verbrachte er in Einzelhaft. Die Gefängnisverwaltung verweigerte ihm den Kontakt mit den Angehörigen. Im November 2023 wurde diesen bestätigt, dass er sich nach wie vor in der Strafkolonie Nr. 13 in Glubokoje (Oblast Witebsk) befinde, wo er abwechselnd in Einzelhaft oder der Isolierzelle sitze.

Statkewitsch wurde das Recht auf Telefongespräche entzogen, das einzige Paket, das im Laufe eines Jahres für ihn abgegeben wurde, bekam er nicht ausgehändigt. Bekannt ist, dass er im November 2022 an einer Lungenentzündung erkrankte und ins Spital musste und danach ohne Erholung sofort wieder in die Strafzelle gesperrt wurde. Zu Nikolai Statkewitsch besteht seit über 500 Tagen kein Kontakt.

Maxim Snak, ein Anwalt, der im Team des Präsidentschaftskandidaten Wiktor Babariko für rechtliche Fragen zuständig war, wurde am 9. September 2020 verhaftet und blieb bis zu seiner Gerichtsverhandlung inhaftiert. Er wurde zu zehn Jahren Freiheitsentzug im verschärften Vollzug verurteilt. Im Mai 2022 erklärte die Uno seine Inhaftierung für rechtswidrig. Snak darf die Isolierzelle so gut wie nie verlassen. Seit über 500 Tagen gibt es keine Nachricht von ihm.

Maria Kolesnikowa war 2020 Vorstandsmitglied des Koordinationsrats und leitete das Wahlkampfteam von Wiktor Babariko. Sie wurde am 7. September 2020 entführt und in der Folge zu elf Jahren Haft verurteilt. Auch sie sass regelmässig in der Isolierzelle. Am 28. November 2022 kam sie auf die Chirurgie des Krankenhauses in Gomel, wo sie wegen eines Magengeschwürs und einer Bauchfellentzündung operiert werden musste (der Einlieferung ging eine übermässig brutale Behandlung voraus). Auch zu ihr fehlt seit über 500 Tagen jegliche Verbindung.

Der Blogger Igor Losik wurde zu fünfzehn Jahren Haft im verschärften Vollzug verurteilt. Zweimal trat er in den trockenen Hungerstreik, mit erheblichen Folgen für seine Gesundheit. Nachrichten von ihm gibt es seit 500 Tagen keine.

Kaum wiedererkannt

Sergei Tichanowski – Politiker, Blogger und Swetlana Tichanowskajas Mann – äusserte 2020 den Wunsch, für das Präsidentenamt zu kandidieren, wurde jedoch kurz vor Beginn des Wahlkampfes festgenommen und zu neunzehneinhalb Jahren Freiheitsentzug im verschärften Vollzug verurteilt. Seit seiner Festnahme befindet er sich in Einzelhaft. Laut ehemaligen politischen Häftlingen bekommt er nicht einmal einen Kugelschreiber, mit dem er eine Beschwerde verfassen könnte. Die einzige Information, die durchsickerte, ist ein Video, das Swetlana Tichanowskaja gezeigt wurde. Beim zweiten, dritten Ansehen erkannte die Oppositionsführerin ihren Mann wieder.

Wiktor Babariko, auch er Präsidentschaftskandidat, wurde zusammen mit seinem Sohn Eduard am 18. Juni 2020 von der Staatspolizei verhaftet und zu vierzehn Jahren Kolonie im verschärften Vollzug verurteilt. In der Nacht vom 24. auf den 25. April 2023 wurde er in mittelschwerem Gesundheitszustand auf die Chirurgie des Krankenhauses Polozk gebracht: In seinen Lungen wurde Flüssigkeit entdeckt. Es hiess, dass Babariko letzten Winter lange in der Isolierzelle gesessen sei. Zum heutigen Tag gibt es keine Informationen darüber, wie es ihm geht.

Isolationshaft ist nicht nur für die Gefangenen selber, sondern auch für ihre Angehörigen Folter. Die Tatsache, dass sie nichts wissen, setzt sie permanent unter Stress. Die Brutalität und der Zynismus von Alexander Lukaschenkos Regime sind schwer zu überbieten. Europa hätte die Möglichkeit, ernsthaft Druck auszuüben. Doch statt sich ein Herz für Weissrussland zu fassen, starrt es unablässig auf Putin.

Kein Wunder, gingen die weissrussischen politischen Häftlinge beim Gefangenenaustausch «vergessen». Dabei ist nicht einmal sicher, dass sie noch am Leben sind.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein weissrussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Er lebt in der Schweiz. Als Letztes erschien 2023 im Diogenes-Verlag sein Roman «Kremulator». – Aus dem Weissrussischen von Ruth Altenhofer.

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