Donnerstag, Mai 22

Hat wirklich jemand gedacht, dass es in Istanbul zu echten Friedensverhandlungen käme? Wieder einmal hat Putin alle ins Leere laufen lassen. Er kann gar nicht anders, denn er braucht den Krieg, sagt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow.

In der Nacht zum 12. Mai beendete Russland einen von ihm selber ausgerufenen dreitägigen Waffenstillstand und liess sofort 108 Drohnen auf ukrainische Städte los.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

108 Drohnen sind nach heutigem Massstab nicht besonders viel, selbst wenn es sich nicht um mit nur 50 Kilogramm Sprengstoff vollgestopfte Shaheds handelt, sondern um thermobarische Drohnen, Drohnen mit Düsenantrieb oder Drohnen mit einem Sack Nägel, um die Opferzahl zu maximieren. Oder um Drohnen, die Sprengsätze mit Zeitzünder verstreuen, die aussehen wie Gummigriffe von Velolenkern, nur grösser, und die erst nach Minuten oder Stunden explodieren. All diese Sprengsätze fielen in den letzten Tagen vom Himmel auf die Strassen meiner Stadt Charkiw.

Fünfzehn oder zwanzig Explosionen pro Nacht scheinen bereits normal. Und fünfzig Verletzte pro Nacht nicht so viel. Es ist offensichtlich, dass die Russen es im letzten Monat darauf angelegt haben, uns einzuschüchtern. Manche Leute glauben ja immer noch, dass ein Mensch umso gehorsamer wird, je härter er geschlagen wird und je mehr man ihm weh tut. Sie haben auch nach mehr als drei Jahren Krieg immer noch nicht begriffen, dass in der Ukraine alles andersherum funktioniert.

Eine Detonation hat ein Fenster im Haus meines Freundes zerschmettert. «Keine grosse Sache», sagt er. «Das Fenster war alt, und der Rahmen wurde nur von zwei Nägeln gehalten.»

Eine weitere Explosion sprengte ein Fenster samt Rahmen im Haus eines anderen Freundes von mir heraus. Diesmal war das Fenster neu eingebaut und stabiler. «Schon gut, wir setzen ein neues ein», sagt mein Freund und fügt hinzu: «Letztes Mal haben wir die Fenster umsonst repariert bekommen, aber jetzt gibt uns Opa Donald kein Geld mehr, also müssen wir selber eins kaufen. Aber das ist nicht weiter schlimm, wir schaffen das.»

Er nennt Trump «Opa Donald», ohne Groll, ja sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit. So sprachen wir zu Sowjetzeiten auch über «Opa Lenin».

Kürzlich war ich zufällig in einem Stadion im nördlichen Teil von Charkiw. Es ist gefährlich, sich hier aufzuhalten, und der Ort steht schon seit über drei Jahren leer. Das Spielfeld ist mit hohem Gras bedeckt, zwischen dem junge Kiefern wachsen: Eine Bombenexplosion hat die Zapfen über den Boden verstreut, und schliesslich haben die Samen ausgetrieben.

Das Gleiche gilt für uns Ukrainer: Egal, wie viele Bomben die Russen abwerfen, wir rappeln uns wieder empor.

Kosmische Opferzahlen

Mittlerweile schlägt Putin neue Friedensinitiativen vor. Diesmal begibt er sich zügig zu den Journalisten, die um halb zwei Uhr morgens auf sein Erscheinen warten. Er beginnt zu sprechen, von einem Blatt Papier ablesend.

«Die Völker Russlands und Chinas haben den höchsten Preis für den gemeinsamen Sieg im Zweiten Weltkrieg gezahlt», führt er aus, und irgendwie scheint es seltsam, dass an der Wand über seinem Kopf kein Porträt von Chinas Präsident Xi zu sehen ist.

Das ist eine interessante Wendung: Es stellt sich heraus, dass der «gemeinsame» Sieg über Deutschland und Japan von Russland und China errungen wurde und nicht von den USA, trotz Trumps jüngsten Behauptungen.

Was Putin sagt, stimmt jedoch teilweise, ausser dass China an erster Stelle genannt werden sollte. Immerhin hat China im Zweiten Weltkrieg etwa 19 Millionen Menschen verloren. Russland etwa 13 Millionen. Die Ukraine und Deutschland jeweils etwa 8 Millionen. Polen etwa 6 Millionen, von denen die Hälfte Juden waren, die im Holocaust getötet wurden. Weissrussland zählte 2,5 Millionen Tote, aber auch das ist eine schreckliche Zahl, denn in Weissrussland wurde jeder vierte Mensch getötet.

Das sind unvorstellbare, kosmische Zahlen. Wenn all diese Menschen auferstehen und sich an den Händen nehmen könnten, würde dies eine Kette ergeben, die länger als der Umfang der Erde wäre. Würde man jeden der Toten mit einer Schweigeminute ehren, würde die Menschheit bis zum Beginn des nächsten Jahrhunderts schweigen.

Der Herr des Kremls wirkt erstaunlich wach, obwohl es schon weit nach Mitternacht ist – aber das ist bei Vampiren und Gespenstern immer so: Bevor der erste Hahn kräht, strotzen sie vor Tatkraft.

Trotz der späten Stunde sehen auch die Journalisten nicht müde aus. Sie sind genauso energisch und aufmerksam wie der russische Führer. Die meisten von ihnen gehören zum Kreml und zu den kremlnahen Medien, was bedeutet, dass sie nur geringere Wichte sind als ihr Meister.

Unsinn zu schreiben, um den Krieg zu unterstützen, ist kein Job, sondern ein Verbrechen.

Immer derselbe Unsinn

Putin spricht so langweilig, dass es schwer ist, sich länger als fünfzehn Sekunden auf seine Worte zu konzentrieren. Unlängst habe ich gelesen, dass KI in der Lage sein soll, die Kommunikation von Katzen und Delfinen für uns Menschen zu übersetzen. Würde man das weisse Rauschen, das Putin beim Ablesen von Wörtern vom Papier produziert, ins Menschliche übersetzen, käme derselbe Unsinn heraus, der schon viele Male wiederholt wurde, wie etwa:

«Ich habe schon so oft einen Waffenstillstand ausgerufen, um die Ukraine dann zu beschuldigen, ihn zu verletzen, dass ich die Nase voll davon habe, und deshalb werde ich vielleicht oder vielleicht auch nicht bald wieder einen Waffenstillstand ausrufen, den ich nicht einhalten werde, um die Ukraine wieder beschuldigen zu können.»

«Ich will den Frieden so sehr, dass ich den Krieg nicht beenden werde, niemals.»

«Um den Krieg zu beenden, müssen wir seine Ursachen beseitigen, aber da ich mich ja nicht selber beseitigen kann, wird der Krieg immer weitergehen.»

Aber diesmal sagt Putin auch etwas Neues, das, wenn man es aus dem Putinschen übersetzt, Folgendes heissen könnte:

«Die Ukraine will ihrer Hinrichtung nicht zustimmen, aber wir werden sie freundlicherweise nochmals darum bitten, am 15. Mai in Istanbul.»

Wenig später stellte Putins Sprecher Dmitri Peskow Putins Einlassungen über die Verhandlungen in Istanbul klar. Er sagte: «Das Ziel der Verhandlungen ist offensichtlich: die Beseitigung der Konfliktursachen und Sicherheitsgarantien für die Russische Föderation.»

Übersetzt heisst das: Requisition von Gebieten, auch von solchen, die Russland nie erobern konnte, Begrenzung der Grösse der ukrainischen Streitkräfte auf eine lächerliche Zahl, Verbot ausländischer Waffenlieferungen, Russisch als zweite Amtssprache in der Ukraine, Rückgängigmachung der Dekommunisierung, Aufhebung aller Sanktionen gegen die Russische Föderation und so weiter. Das Übliche eben, das auf eine Auflösung der Ukraine als Staat hinausläuft.

Peskow fügte hinzu, dass die Ukraine keine unabhängigen Entscheidungen treffe, da sie unter dem Einfluss des Westens stehe. Übersetzt bedeutet dies, dass Russland in Istanbul über Dinge verhandeln wird, auf die die Ukraine null Einfluss hat. Etwa dass die Nato von Russlands Grenzen wegrückt – oder etwas anderes, das ebenso unmöglich ist.

Und noch später wird Putin eine Schar blutjunger Verhandlungsführer nach Istanbul entsenden: eine klare Ohrfeige für seinen Todfeind. Ehrlich gesagt hätte er auch einfach ein paar Landarbeiter, Bibliothekare und Geschäftsführer von Fleischfabriken schicken können.

Kampf ohne Ende

Der ehemalige selbsternannte «Volksgouverneur der Region Donezk», Pawel Gubarew, der jetzt in der Armee der Besetzer kämpft, hat das russische Militär aufgefordert, die Waffen auch dann nicht niederzulegen, wenn ein Friedensabkommen unterzeichnet wird.

«Unser Kampf geht weiter», verkündet er.

Heute ist in der Ukraine eine russische Drohne mit der Aufschrift «Es gibt keinen Waffenstillstand!» abgestürzt. Das war zwar falsch geschrieben, was jedoch nicht heisst, dass der Waffenstillstand deswegen auch nur eine kleine Chance hat.

Wenn es den Kriegsparteien gelingt, sich in Istanbul auf ein «Einfrieren» des Krieges zu einigen, droht Russland bestenfalls ein weiterer Aufstand wie jener, den Prigoschin ausgelöst hat. Oder im schlimmsten Fall ein Bürgerkrieg.

Jedes Mal gibt Putin nur vor, in Sachen Frieden initiativ zu werden. Und jedes Mal tut der Westen nur so, als glaube er ihm und als sei er bereit, einige schreckliche Sanktionen zu verhängen, wenn Putin sein Wort bricht. Es muss und wird etwas passieren, und zwar jetzt. Oder vielleicht auch nicht gleich, denn unsere Geduld ist grenzenlos.

Und wir Ukrainer sind so naiv und hoffen immer noch auf ein Wunder, das diesen rituellen Tänzen entspringt, aber das Wunder geschieht nie.

Ein Regenwurm kann ewig zwischen den Zinken der Harke hindurchkriechen, ohne sich zu verletzen. Alles hängt davon ab, wer die Harke in der Hand hält. Theoretisch ist dies Trump, aber in Wirklichkeit ist er es nicht. Er hat die Harke auf den Boden gelegt und spielt Golf. Oder macht etwas anderes. Und solange dies so ist, hat der Wurm nichts zu befürchten. Im Moment muss er nur noch eine Weile durchhalten: bis zur nächsten Sommeroffensive. Und dann wird man sehen, was passiert.

Mittlerweile ist der Zweck des schrecklichen Beschusses, dem die Ukraine in den letzten Monaten ausgesetzt war, deutlich geworden – in Kriwi Rih, Sumi, Charkiw und Kiew. Je härter ich einen Menschen treffe und je mehr es ihm weh tut, desto gehorsamer wird er und desto entgegenkommender wird er bei Verhandlungen sein: So denkt Putin, und diese Taktik hat ihm geholfen, sein Volk gefügig zu halten.

Freudlos und grau

Putin spricht auch über die einzigartige Atmosphäre der Festtage in Moskau.

Auch ich habe deren Einzigartigkeit bemerkt: Der Tag des Sieges war noch nie so freudlos und grau.

Was die Atmosphäre jedoch wirklich besonders machte, war, dass Genosse Xi bei seinem Besuch in Moskau das Sankt-Georgs-Band trug, das Symbol für Russlands Aggression gegen die Ukraine (so wie der berüchtigte Buchstabe Z), und damit offen zeigte, wen China in diesem Krieg unterstützt. Xi hätte es nicht tun müssen, aber er hat es getan. Die Welt scheint in einem Albtraum zu leben. Es gibt keine gemeinsame Zivilisation mehr, sondern nur noch Länder, die langsam, aber unweigerlich in die gegensätzlichen Lager von Gut und Böse abdriften. Schwarze und weisse Figuren reihen sich auf dem Schachbrett des nächsten Weltkriegs aneinander.

Das Spiel hat noch nicht begonnen, aber es ist bereits klar, wer wer ist. Die Weissen sind die westlichen Demokratien. Die Schwarzen sind auch Demokratien, denn man kann nicht sagen, dass die Leute nicht Putin oder Kim Jong Un oder andere unterstützen. Es ist nur so, dass die alternative Demokratie ein bisschen komplexer ist; sie besitzt drei Stufen. Zuerst züchten die Herren Diktatoren Menschen heran, die so denken, wie sie es wollen, dann wählen diese Menschen sie zu ihrem ewigen Herrscher, und in der dritten Phase geniessen diese Menschen eine weise Regierung.

Es ist noch nicht ganz klar, wem die Hand gehört, welche die Harke führt. Die Zeit wird zeigen, welche der beiden Formen von Demokratie obenaus schwingen wird.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

Exit mobile version