Donnerstag, November 13

Emmanuel Macron hat sich durch die Neuwahl Klärung erhofft, doch er hat sein Land in eine Blockade manövriert. Jede Woche, die vergeht, ist ein kostspieliges Risiko.

Paris ist derzeit ein bisschen das Zentrum der Welt. 15 Millionen Besucher erwartet die Stadt in den kommenden Wochen, in denen sie Kulisse für die olympischen Wettkämpfe sein wird. Neben den Spielstätten in der nahen Banlieue wird im Grand Palais gefochten, vor dem Eiffelturm Beachvolleyball und Blindenfussball gespielt, in der Seine geschwommen. Aber zuerst wird auf dem emblematischen Fluss die Eröffnungszeremonie gefeiert. Noch nie zuvor hat diese ausserhalb eines Stadions stattgefunden. Die Franzosen wissen, wie man Grossereignisse inszeniert, die lange in Erinnerung bleiben.

Die Bilder, die aus der französischen Hauptstadt in alle Welt getragen werden, überdecken die politische Krise, in der sich das Land seit bald zwei Monaten befindet. Seit der Europawahl herrscht in Frankreich politischer Stillstand. Die zurückgetretene Regierung tut nur das Nötigste, neue Projekte anstossen darf sie nicht. Darüber, wer sie ersetzen soll, wird seit Wochen gestritten. Der Präsident, der einen neuen Premierminister ernennen muss, zögert. Er hat sich für die Zeit der Wettkämpfe eine olympische Waffenruhe gewünscht. Das Sportfest soll nicht durch innenpolitisches Gezänk gestört werden.

Eine kurzfristige Wahlallianz

Dabei war es Emmanuel Macron selbst gewesen, der die zweitgrösste Volkswirtschaft Europas in diesen Ausnahmezustand gestossen hat. Nachdem seine Partei bei der Europawahl eine schmerzhafte Niederlage erlitten hatte, sagte er, das Land brauche politische Klarheit – und setzte überraschend Neuwahlen an. Einen knappen Monat später, am Morgen nach der Parlamentswahl, waren zwei Dinge klar.

Erstens: Eine Mehrheit der Franzosen will nicht, dass die rechtsnationalistische Partei von Marine Le Pen Regierungsverantwortung übernimmt. Zweitens: Die Le-Pen-Partei ist dennoch so stark wie nie.

Das Rassemblement national (RN) stellt zwar nur die drittgrösste Fraktion im Parlament, hat aber zahlenmässig die meisten Stimmen erhalten. Der Sieg des RN wurde nur verhindert, weil die vereinigte Linke mit der Mitte eine Wahlallianz schloss, die in der Mehrheit der Wahlkreise nur einen einzigen Kandidaten in die Stichwahl schickte. Diese Koalition war schon wenige Stunden nach der Wahl hinfällig; die Linke, die am meisten Sitze erhielt, erklärte sich zur alleinigen Siegerin. Im Parlament gibt es nun drei mehr oder weniger gleich grosse Blöcke – links, in der Mitte und rechts –, aber keiner hat eine absolute Mehrheit. Eine solche Situation hat es noch nie gegeben.

Aussergewöhnliche Umstände erfordern normalerweise aussergewöhnliche Massnahmen – doch für den Pariser Politikbetrieb gilt das höchstens bedingt. Die neue Assemblée nationale ist in der vergangenen Woche zum ersten Mal zusammengetreten. Dass die Präsidentin der Kammer die gleiche ist wie vor der Wahl, ist nur das augenfälligste Zeichen dafür, dass vieles so weitergeht wie bisher: Jeder bleibt in seiner Ecke, Kompromissbereitschaft gibt es kaum.

Die Linksallianz beansprucht seit dem Wahlabend das Amt des Regierungschefs. Doch zwei Wochen lang stellte sie vor allem ihre Differenzen unter Beweis. Erst im dritten Anlauf konnten sich die vier Parteien auf eine Kandidatin für das Amt einigen. Derweil fielen sie mit respektlosen Gesten auf: Mehrere Abgeordnete weigerten sich, einem Vertreter des RN die Hand zu reichen.

Die kleine Fraktion der moderaten Rechten versucht sich mit Inhalten zu profilieren. Sie hat diese Woche einen Katalog von dreizehn Notfallgesetzen vorgestellt, die das Land dringend brauche, um den Abstieg aufzuhalten. Nur: Mit wessen Hilfe sie diese durchs Parlament bringen möchten, bleibt schleierhaft. Koalitionen schliessen sie aus, man besteht auf Unabhängigkeit. Einzig ein Teil des Mitteblocks signalisiert Bereitschaft, mit moderaten Kräften zu kooperieren. Doch nicht nur rechts, auch links zeigt man ihnen schnöde die kalte Schulter.

Auch der Umgang mit dem RN bleibt unverändert. Dessen Abgeordnete werden wie Parias behandelt. Obwohl sie die drittstärkste Fraktion stellt, hat die Partei keine einzige der 22 leitenden Positionen im Parlamentsbüro bekommen. Die anderen hatten sich bei der Verteilung der Posten wieder einmal gegen das RN verschworen. Le Pens Truppe hat es sich in der Opferrolle bequem gemacht und beklagt eine Verweigerung der Demokratie. Angesichts des Verhaltens ihrer Gegner liegt sie damit nicht ganz falsch.

Ein logischer wie utopischer Wunsch

Emmanuel Macron hat entschieden, dieses Trauerspiel noch etwas weiterlaufen zu lassen. Vor Mitte August, dem Ende der Olympischen Spiele, werde er keinen neuen Regierungschef ernennen, sagte er diese Woche – und machte klar, welche Bedingungen er dafür stellt: Um diese Person müsse sich eine Mehrheit im Parlament herausbilden, die fähig sei, Entscheidungen zu treffen. Die Linksallianz schäumt und fühlt sich «um ihren Sieg betrogen». Doch auch ihr müsste klar sein, dass die von ihr für das Premierministeramt vorgeschlagene Ökonomin keine überparteiliche Konsenskandidatin ist. Eine Regierungschefin, die sich nur auf einen der drei grossen Blöcke stützen kann, hätte eine kurze Amtszeit. Sie würde bald über ein Misstrauensvotum stolpern.

Macrons Aufruf, nach Kompromissen zu suchen, ist richtig. Doch so einfach das klingt, so sehr wirkt es angesichts der Stimmung im Parlament wie eine Utopie. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass sich genügend Abgeordnete zu einer mehrheitsfähigen Koalition zusammenfinden werden. Dazu müsste die Linke sich von der extremen Truppe um Jean-Luc Mélenchon trennen, die die grösste Gruppe von Abgeordneten stellt. Und die moderate Rechte müsste ihre Daseinsberechtigung – den Kampf gegen die Mitte – aufgeben.

Zeit hat Macron nur in der Theorie. Es gibt zwar keine gesetzliche Frist, in der ein Präsident einen Regierungschef ernannt haben muss. Doch mit jeder Woche, die verstreicht, steigt der Preis. Denn Frankreich kann sich Stillstand nicht leisten. Das dringendste Problem sind die Schulden. 30 Milliarden Euro müssten laut dem Finanzministerium bis Ende 2025 gespart werden, um wenigstens das Wachsen des Schuldenberges zu verlangsamen. Schon vor Beginn des politischen Durcheinanders sind Anleger in Achtungstellung gegangen. Vom Budget 2025, dessen Entwurf bis Oktober stehen muss, wird ihr Vertrauen abhängen. Davon abgesehen gibt es unzählige Bereiche, um die sich die Politik dringend kümmern sollte: den Fachkräftemangel, die innere Sicherheit, den Zustand der Schulen oder die in jüngster Zeit gestiegene Zahl von Zuwanderern.

Zudem gibt es ein mindestens so wichtiges psychologisches Argument. Als er das Parlament auflöste, sprach Macron von einem Moment der demokratischen Wahrheit, in dem er den Franzosen und Französinnen das Wort gebe. Zwei Drittel der Wahlberechtigten und damit überraschend viele sind Macrons Aufforderung gefolgt. Das Ergebnis war ein anderes als vor zwei Jahren, als seine Partei eine klare, wenn auch ebenfalls nur relative Mehrheit erreichte. Allein deshalb darf es nicht weitergehen wie bisher. Warum Wahlen, wenn ihr Ergebnis keine Konsequenzen hat? Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist in Frankreich ohnehin schon gering.

Die Wahl war eine Flucht nach vorn

Als Ausweg aus der Blockade bliebe Macron das Experiment dessen, was in Frankreich das italienische Modell genannt wird. Gemeint ist eine sogenannte Technokratenregierung, deren Mitglieder sich primär durch ihre fachliche Expertise und nicht durch ihre parteipolitische Bindung auszeichnen. Eine solche Regierung könnte die Geschäfte weiterführen und Gesetzesinitiativen aus dem Parlament umsetzen, sofern diese Mehrheiten finden. Auch das gab es in Frankreich noch nie.

Expertenregierungen sind nicht für ihre Dynamik bekannt. Aber sie können eine Zeitlang für Stabilität sorgen, weil sie für einen – wenn auch kleinen – Konsens stehen. Sie setzen ein Minimum an Kompromissbereitschaft der Parteien voraus, vor allem bei Sachthemen. Das wäre für die politische Kultur Frankreichs, der Kompromisse völlig fremd sind, bereits ein grosser Schritt.

Zu diesem Experiment muss auch die Einbindung des RN gehören. Der Wille, die Partei auszugrenzen, scheint in weiten Teilen des Pariser Politikbetriebs grösser denn je. Doch der Aufstieg der Rechtsnationalisten ist ein Zeichen dafür, dass diese Strategie sich abgenutzt hat. Das Bestreben, sie mit allen möglichen Mitteln von verantwortungsvollen Positionen fernzuhalten, wird Le Pens Truppe nur noch mehr stärken. Bei Wählern und Sympathisanten nährt es das Gefühl, in Paris würden sie nicht ernst genommen.

Nicht nur seine politischen Gegner, auch langjährige Weggefährten werfen Macron vor, er habe das Land mit der Neuwahl unnötig in eine Krise gestürzt. Doch die Krise war längst da. Macrons Regierung hatte mit einer relativen Mehrheit grosse Mühe, ihre Politik umzusetzen. Das Parlament war zeitweise eine tumultuöse Chaoskammer. Die Unzufriedenheit wuchs bei den Abgeordneten und den Wählern. Profitiert hat davon vor allem das RN. Die Neuwahl war eine Flucht nach vorn. Ob sie zu einem Befreiungsschlag wird, ist noch nicht entschieden. Spätestens wenn das olympische Feuer von Paris erlischt, gehen die politischen Spiele weiter.

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