Geschosse, die auf grosse Entfernung präzise treffen, spielen in der Ukraine eine wichtige Rolle. Ihre Beschaffung hat für die Nato höchste Priorität. Das zeigt auch die Ankündigung der USA, Tomahawk in Deutschland zu stationieren. Doch auch die Gegenseite rüstet auf.
Die Ankündigung der USA, ab 2026 Tomahawk-Raketen und andere weitreichende Waffen in Deutschland zu stationieren, passt zur allgemeinen Entwicklung in der Kriegsführung. Lenkwaffen spielen eine immer grössere Rolle. Das kann man vor allem im Krieg in der Ukraine sehen.
Gut 100 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Charkiw und Belgorod. Wochenlang schlugen in der ukrainischen Grossstadt Raketen und Bomben ein, abgefeuert von Abschussrampen und Bombern von der russischen Grossstadt aus. Anfang Juni schlugen die Ukrainer zurück: Mehrfach trafen Raketen, gestartet im Raum Charkiw, russische Raketensysteme im Raum Belgorod.
Der grosse Unterschied im Vorgehen der beiden Kriegsparteien besteht in der Präzision. Während die russischen Geschosse hundertfach, oft breit gestreut in der Stadt einschlugen, schalteten die Ukrainer durch genaue Schläge mit wenigen Raketen mehrere Batterien gegnerischer S-300/400-Raketenwerfer aus.
Möglich war das, weil die amerikanische Regierung der Ukraine nicht nur Munition für die Himars-Raketenwerfer geliefert hatte. Sondern mutmasslich auch, weil diesmal weiter reichende Raketen dabei waren als jene, die die Verteidiger bis dahin aus den USA bekommen hatten. Die Russen mussten in der Folge den Verlust hochwertiger Raketensysteme hinnehmen und Kampfjets aus Belgorod abziehen, weil sie plötzlich in Reichweite der ukrainischen Waffen lagen. Seitdem hat sich das russische Bombardement auf Charkiw verringert.
Das Beispiel ist nur eines von vielen, die zeigen, welche Bedeutung weitreichende Waffen im Krieg in der Ukraine spielen. An der Front tobt vor allem ein infanteristischer Graben- und Drohnenkampf, der teilweise wie im Ersten Weltkrieg auf wenige hundert Meter Entfernung geführt wird. Zugleich liegt das Hinterland unter Beschuss durch moderne Raketen und andere Flugkörper, die aus Hunderten Kilometern Entfernung abgeschossen werden. Die Militärs nennen diese Waffen «long range fires», also Langstreckenfeuer, wahlweise auch weitreichende Lenkflugkörper oder abstandsfähige Präzisionswaffen.
Für die Nato haben diese Waffen bei der Modernisierung ihrer Armeen höchste Priorität. Im Hauptquartier des Bündnisses in Brüssel soll eine Rangliste der Top-Ausrüstungsprioritäten des Nato-Oberbefehlshabers Christopher Cavoli existieren.
Laut dieser steht die Abwehr von Drohnen auf Platz 5, Artilleriemunition auf Platz 4, Flugabwehr auf Platz 3 und die Beschaffung eigener Drohnen auf Platz 2. Der Fähigkeit, präzise Schläge tief im Hinterland des Gegners zu führen, ohne dabei eigene bemannte Kampfflugzeuge einsetzen zu müssen, räumt Cavoli die grösste Bedeutung ein. Selbst die deutsche Regierung erwähnt «abstandsfähige Präzisionswaffen» als einzige Waffengruppe explizit in ihrer Strategie zur nationalen Sicherheit aus dem vergangenen Jahr.
Als Putins Nachschub stockte
Um zu verstehen, warum das so ist, genügt ein Blick auf den Verlauf des Ukraine-Krieges. Als die Verteidiger im Herbst 2022 Teile ihres Landes wieder befreiten, waren die amerikanischen Himars-Werfer ein entscheidender Faktor. Sie zerschlugen die russische Logistik im Hinterland der Front und sorgten dafür, dass der Nachschub der russischen Truppen ins Stocken geriet. Britische und französische Marschflugkörper der Typen Storm Shadow und Scalp fügen den Invasoren seit Sommer vorigen Jahres immer wieder empfindliche Verluste zu, etwa bei Angriffen auf Flugplätze, Munitionsdepots, Kommandoposten und Truppenstützpunkte.
Zugleich setzt auch die russische Armee diese Waffen ein. Sie nutzt dabei Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper vom Typ Iskander sowie Flugkörper, die für Luftverteidigungssysteme wie S300/400 gefertigt und zu Angriffsraketen umfunktioniert werden. Die Reichweite dieser Waffen beträgt bis zu 500 Kilometer. Zum Einsatz kamen auch schon Kinschal-Raketen, die nach russischen Angaben bis zu 2000 Kilometer weit fliegen sollen.
Das Ziel dieser Waffen sind oft ukrainische Städte, Elektrizitäts- und Wärmeversorgungseinrichtungen sowie wichtige Unternehmen, weniger der ukrainische Militärnachschub oder Kommandoposten. An der Front setzten die Angreifer jüngst eher Gleitbomben ein. Sie werden von Flugzeugen ausserhalb der Reichweite der Flugabwehr abgefeuert und durch ein internes Navigationssystem oder das russische GPS gesteuert.
Vereinfacht betrachtet, sind Lenkwaffen lediglich ein Transportmittel für Explosivstoffe. Während eine Bombe früher von einem bemannten Flugzeug über das Ziel gebracht werden musste, erledigt das heute ein unbemannter Lenkflugkörper, der sich mit dem integrierten Sprengsatz ins Ziel stürzt. Für solche Abstandswaffen spricht, dass sich keine Menschen mehr im Cockpit eines Jets der gegnerischen Abwehr aussetzen müssen. Zudem werden Lenkflugkörper immer günstiger, leistungsfähiger und wirksamer.
Auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtmesse (ILA) Anfang Juni in Berlin gehörte das Augenmerk des breiten Publikums den Kampfflugzeugen wie dem F-35 und dem Eurofighter. Doch unter den Fachleuten herrscht die Überzeugung, dass mit fortschreitender Entwicklung die Bedeutung der Lenkflugkörper erheblich wachsen wird.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Beschaffungs- und Betriebskosten von Kampfflugzeugen immer höher werden. Das Interesse des Militärs gehörte auf der ILA daher nicht zuletzt den Abstandswaffen und ihren Abschusssystemen. Um einen weitreichenden Lenkflugkörper abzufeuern, auch das zeigt sich in der Ukraine, müssen längst nicht mehr nur Flugzeuge eingesetzt werden. Das können auch bodengestützte Startgeräte.
Immer grössere Reichweiten
Das amerikanische Himars-System zum Beispiel verschiesst die Army Tactical Missile (Atacms) mit unterschiedlicher Reichweite. Bis zuletzt hatte es die US-Regierung abgelehnt, der Ukraine die Atacms mit der grössten Reichweite zu liefern. Sie beträgt 300 Kilometer. Doch längst arbeitet die amerikanische Rüstungsindustrie an Himars-Raketen, die über 300 Kilometer hinaus gehen. Auch Deutschland beteiligt sich an dieser Entwicklung. Der Düsseldorfer Rheinmetall-Konzern berichtete auf der ILA, gemeinsam mit Lockheed Martin an einem Global Mobile Artillery Rocket System (GMARS) zu arbeiten, einem Raketensystem mit einer Reichweite von mehr als 400 Kilometern.
Seit einigen Jahren führt zudem ein grosser Teil der westlichen Luftwaffen das amerikanische Kampfflugzeug F-35 ein. Auch Deutschland wird 35 Maschinen beschaffen. Zur Bewaffnung dieser Jets gehört der Lenkflugkörper JASSM, ein Marschflugkörper wie der Taurus, der Ziele am Boden auf eine Standardentfernung von bis zu 350 Kilometern treffen soll. Eine zweite Version dieser Waffe kommt gemäss den Angaben des Herstellers Lockheed Martin auf eine Reichweite von 1000 Kilometern, eine dritte auf 2000 Kilometer.
Die US-Streitkräfte wollen in den kommenden Jahren mehrere tausend weitere dieser Marschflugkörper beschaffen. Die Bundeswehr soll nach den bisherigen Planungen weniger als hundert Stück mit einer Reichweite von 1000 Kilometern bekommen, während zugleich über die Konstruktion einer neuen Version des Taurus diskutiert wird.
Die Entwicklung immer höherer Reichweiten, wie sich am Beispiel des F-35-Flugkörpers zeigt, ist ein genereller Trend bei Lenkflugkörpern. Sie werden immer schneller, präziser und weitreichender. Das macht zugleich die Entwicklung effizienter Abwehrsysteme dringlicher. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie dieser technologische Wettlauf derzeit geführt wird.
Patriots gegen Kinschal
Den russischen Truppen war es jüngst gelungen, durch Störung des GPS-Signals die Präzision der amerikanischen Himars-Raketen herabzusetzen. Die Geschosse schlugen neben den Zielen ein. Inzwischen aber scheinen sich die Amerikaner gemeinsam mit den Ukrainern technologisch besser gegen die Störungen gewappnet zu haben. Darauf deutet jedenfalls die Trefferquote der Himars-Geschosse bei der Verteidigung von Charkiw hin. Möglich ist, dass die Russen dort noch nicht über genügend Störsender verfügen.
Den Ukrainern soll es im Vorjahr gelungen sein, mit einem Patriot-System eine Kinschal-Rakete im Anflug auf Kiew zerstört zu haben. Darauf deuten verschiedene Berichte ukrainischer und westlicher Kriegsbeobachter hin. Das Putin-Regime bestritt dies und reklamierte seinerseits, eine Patriot-Stellung ausgeschaltet zu haben. Sehr wahrscheinlich stimmen beide Darstellungen. Mehrfach zeigte sich, dass moderne westliche Luftverteidigungssysteme wie Patriot oder Iris-T in der Lage sind, weitreichende russische Lenkflugkörper abzufangen. Und umgekehrt sind auch russische Abwehrsysteme in der Lage, westliche Lenkflugkörper wie Storm Shadow und Scalp abzuschiessen.
Die Militärfachleute sind sich einig, dass Hyperschallwaffen die nächste Stufe der Lenkwaffenentwicklung darstellen. Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations bezweifelt zwar, dass Russland, anders als es behauptet, bereits einen Flugkörper dieser Art im Arsenal hat. Kinschal sei für ihn lediglich eine ballistische Rakete, die von einem Kampfflugzeug abgesetzt werde und daher mehrfache Schallgeschwindigkeit erreiche, sagt Gressel. Auch die USA, China und mutmasslich weitere Staaten arbeiten an diesen Waffen. Zugleich gibt es Unternehmen, die sich mit der Abwehr dieser Systeme befassen.
So hat sich etwa im Vorjahr ein Konsortium aus Rüstungsunternehmen, Institutionen und Universitäten in Europa gegründet, um an dem Hyperschallabwehrprojekt «HYDIS²» zu arbeiten. Die Aufgabe ist technologisch komplex. Um ein sehr schnelles, hoch bewegliches Ziel abschiessen zu können, sind äusserst leistungsfähige, weitreichende Radare und Flugkörper erforderlich. Das Radar wird benötigt, um die Hyperschallrakete so früh wie möglich aufzufassen, um sie rechtzeitig vor ihrem Einschlag im Ziel bekämpfen zu können.
Die Abwehrrakete wiederum muss innerhalb kürzester Zeit auf eine extrem hohe Geschwindigkeit kommen und dabei noch manövrieren können. Das erfordert entsprechende Motoren, sehr hitzebeständige Materialien und leistungsstarke Sensoren – eine Kombination, die es so bis anhin nicht gibt. Hyperschallwaffen, sagten Fachleute auf der ILA in Berlin, würden aufgrund der fortschreitenden technologischen Entwicklung künftig schwieriger zu bekämpfen sein als heute.
Einen Angriff früh abwehren
In dem Kriegsszenario, auf das sich die Nato seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wieder einstellt, spielen präzise und weitreichende Lenkwaffen eine wichtige Rolle. Sie dienen dazu, Aufmarschgebiete, Nachschubwege, Waffen- und Munitionsdepots und Kommandozentralen zu treffen und damit die Angriffe eines Gegners oder ihre Vorbereitung schnell und entscheidend zu stören. Präzise Abstandswaffen könnten helfen, einen Abnutzungskrieg wie in der Ukraine zu vermeiden, indem sie dafür sorgen, dass der Angriff schnell steckenbleibt.
Ebenso gilt, dass diese Waffen auch der wirksamen Vorbereitung eines Angriffs dienen können. Wenn Russland etwa die Drehkreuze der Nato in Deutschland mit präzisem Langstreckenfeuer ausschalten würde, könnte es verhindern, dass die Allianz schnell Truppen und Gerät zur Verteidigung des Baltikums nachführt. Unter diesen Drehkreuzen sind etwa Seehäfen oder Flugplätze zu verstehen.
China wiederum müsste bei einer Attacke gegen Taiwan erst einmal die taiwanische Flugabwehr ausschalten, um die Lufthoheit zu erringen. Auch dafür wäre der Einsatz weitreichender und präziser Lenkflugkörper prädestiniert.
Nicht zuletzt dieses Szenario erklärt, warum die USA inzwischen «Long Range Fire»-Verbände (Multi Domain Task Forces) aufstellen und bis Anfang des nächsten Jahrzehnts Tausende Lenkflugkörper aller Art beschaffen. Sie wollen den Chinesen zuvorkommen können, um ihr Luftkriegspotenzial noch auf ihrem Territorium zu zerschlagen.

