Montag, November 25

Das Gemälde des Malers, der heute vor 200 Jahren gestorben ist, war ein Weckruf der Romantik in Frankreich. Seine Strahlkraft hat «Das Floss der Medusa» nicht verloren.

Es war ein Paukenschlag. Und hallte laut und mit grossem Echo durch die Pariser Kunstwelt. Darf man so etwas malen? Will man so etwas sehen? Jean-Louis André Théodore Géricault wollte. Oder vielmehr: Er musste, er konnte nicht anders, aus innerem Drang. Und malte, fünf Jahre bevor er vom Pferd fiel und bereits mit 32 Jahren tot war, sein grösstes Bild. «Das Floss der Medusa» gewann am Pariser Salon von 1819, der wichtigsten Kunstausstellung Europas, eine Goldmedaille. Dennoch gefiel es vielen nicht. Schwierige Fragen warf es auf, so schwierig, dass sie auch heute noch gestellt werden müssen. Welche Bilder von Katastrophen soll man zeigen angesichts des damit verbundenen menschlichen Leids?

Théodore Géricaults Gemälde schildert die Katastrophe von 1816, als die französische Fregatte «Méduse», damals eines der modernsten und schnellsten Schiffe Europas, vor Senegal Schiffbruch erlitt. Der französische Maler zeigt nicht das an der afrikanischen Westküste auf Grund gelaufene Schiff, sondern das, was danach kam. Er vergegenwärtigt das grausame Schicksal der Schiffbrüchigen, die tagelang auf einem Floss trieben – unzureichend mit Wasser und Nahrung versehen, hilflos den Naturgewalten von Sonne und offenem Meer ausgesetzt.

Wie herangezoomt im Grossformat zeigt die monumentale, sieben Meter breite und knapp fünf Meter hohe Leinwand das Leiden. Afrikanische Soldaten drängen sich dicht neben Seeleuten und Leichen französischer Passagiere. Der Wellengang setzt den treibenden Balken und Planken zu. Das Meer droht die Schar der Männer zu verschlucken. In einer Pyramidenform der Leiber reckt sie sich gen Horizont. Dort ist soeben die vermeintliche Rettung aufgetaucht – und dann auch gleich wieder verschwunden.

Géricault fokussiert auf diesen Augenblick zwischen Hoffnung und Verzweiflung. In der Ferne zieht ein Schiff vorbei. Ein schwarzer Mann mit nacktem Oberkörper winkt diesem mit einem zerrissenen Stofffetzen armerudernd zu. Die behelfsmässige Fahne soll die Aufmerksamkeit auf das Floss lenken. Doch der Wind, der das kleine Segel bläht, treibt die Schicksalsgemeinschaft in die entgegengesetzte Richtung.

Nur fünfzehn Männer überlebten die dreizehntägige Tortur. Hundertfünfzig waren es anfänglich, die auf dem notdürftig zusammengezimmerten Floss Platz finden mussten. Den vierhundert Besatzungsmitgliedern und Passagieren der «Méduse» standen nur sechs Rettungsboote zur Verfügung. Die Besatzung baute ein Floss, das von den Booten ins Schlepptau genommen werden sollte. Doch Offiziere kappten das Seil und retteten sich zusammen mit dem Kapitän an Land, während das Floss auf den offenen Atlantik hinaustrieb.

Nackter Überlebenskampf

Die Nachricht von der Katastrophe verbreitete sich in ganz Europa. Die Vorkommnisse um einen unfähigen Kapitän und die dilettantische Rettungsaktion sollten von der Politik unter den Teppich gekehrt werden. Jedoch löste das Schiffsunglück einen Skandal aus, der das Ansehen der gerade restaurierten französischen Monarchie beschädigte. Die Tragödie ging als die «Schande für Frankreich» in die Geschichte ein.

Théodore Géricault aber hatte nur Sinn für die Opfer. Ihr Schicksal wühlte ihn auf. Tag und Nacht dachte er an die ausgesetzten Männer. Er fertigte Skizzen und Studien an, um die schreckliche Notlage der Schiffbrüchigen so realistisch wie möglich ins Bild zu setzen.

In seinem Albtraumbild spürt man den Überlebenskampf. Man fühlt das Leiden. Man sieht die Ausweglosigkeit. Das Bild bleibt dabei nicht stumm. Man hört das Rufen, Klagen und die Schreie. Man riecht das Gemisch von Schweiss, Urin, Fäkalien und salziger Gischt. Man wittert die Angst über dem Abgrund der Wassermassen.

Diesem Kampf um Leben und Tod wollte Géricault mit seinem Bild gerecht werden. Und dafür wurde er nicht nur gelobt. Gewiss wurden viele von seinem gnadenlosen Realismus auch in voyeuristischer Weise in den Bann geschlagen: «Ich zittere, während ich es bewundere», schrieb ein Kunstkritiker zu dem Bild. Viele aber befanden seine Darstellung allein deswegen für unangebracht, weil es Géricault wagte, ein tragisches Geschehnis der Gegenwart in die Gestalt eines klassischen Historienbildes zu packen. Dafür wurde der Maler verurteilt.

Géricault pfiff auf die Gepflogenheiten von Akademismus und Zeitgeschmack. Er malte keine Ruhmesbilder zur Erbauung der französischen Nation. Vielmehr hielt er den Finger in deren Wunde, indem er ein reales Drama zu Bild brachte. Er nahm sich die Freiheit heraus, darzustellen, was ihn bewegte. Selbst wenn es als abstossend empfunden wurde.

Makabre Leichenschau

Wer sein Atelier betrat, in dem das riesige Bild während einer Zeitspanne von eineinhalb Jahren entstand, dem schlug bisweilen beissender Gestank entgegen. Géricault hatte sich, um die Toten auf dem Floss möglichst real aussehen zu lassen, Leichenteile beschafft. An ihnen studierte er die Verfärbungen des Verwesungsprozesses. In frischer Erinnerung waren ihm die Berichte der Überlebenden. Es soll auf dem Floss zu Fällen zu Kannibalismus gekommen sein.

«Das Floss der Medusa» als Symbolbild eines Zivilisationsbruchs? Géricault schreckt auch vor dem Schockierendsten nicht zurück, zu dem Menschen in Extremsituationen fähig sind. Auf einer seiner Skizzen nagt ein Mann am Arm eines Toten. Doch verzichtet der Maler letztlich auf solch makabre Details in dem Gemälde. Er setzt auf Evokation. Und auf die Vorstellungskraft und die schlimmen Phantasien der Betrachter. In deren Köpfen wurde sein «Floss der Medusa» zum Schreckensbild eines Menschheitsdesasters.

Die Folgen waren dramatisch. Nach seinem Tod fand Géricaults Pionierleistung gewaltigen Nachhall. «Das Floss der Medusa» stellte den Weckruf der Romantik in Frankreich dar: Diese zeigte sich in ihrem malerischen Ausdruck weit kruder und drastischer – man denke an Delacroix – als in ihren schwärmerischen Spielarten in Deutschland und England. All jenen, die sich von der klassizistischen Idee der Idealisierung abwandten und das eigene Empfinden als das einzig Wahre ins Zentrum ihrer Kunst stellten, galt «Das Floss der Medusa» als Referenzwerk.

Das Bild, das sich heute in Paris im Louvre befindet, ist so berühmt, dass es immer wieder als Menetekel für Katastrophen und desaströse Situationen aller Art herbeigezogen wird. Den 68ern galt es als Symbol für den Klassenkampf, die Klimawarner von heute sehen darin ein solches für den bevorstehenden Kampf um Ressourcen.

Während der Flüchtlingskrise 2015 zitierte der anonyme Graffiti-Star Banksy das Werk in einem Schablonen-Spraybild an einer Hausfassade in Calais in der Nähe eines illegalen Flüchtlingscamps. Auf dem Floss waren moderne Flüchtlinge zu sehen, am Horizont kreuzte eine Jacht. Mit Bezug auf die Misere im Mittelmeer kommentierte der Künstler sein Werk mit «We’re not all in the same boat».

Die Welt als Floss: Wo steuert sie hin? Dieses Monument von einem Bild kann auch als existenzialistische Parabel gelesen werden für das Unglück der Menschheit, die nicht aus ihrer Verstrickung in unlösbare Konflikte herausfindet. Vor dieser Wahrheit erstarrt man zu Stein wie beim Anblick des schrecklichen Gorgonenhaupts der Medusa. Denn letztlich gilt eben dennoch: Wir sitzen alle im selben Boot.

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