Die Armeeführung braucht Hunderttausende zusätzlicher Soldaten, um die Front zu halten. Doch Wirtschaft und Gesellschaft stellen sich quer. Kiew steht vor einem schwer lösbaren Dilemma.
Nach zwei Jahren Verteidigungskrieg gegen Russland kämpfen die Ukrainer mit zwei fundamentalen Problemen: Ihre Armee hat nicht genug Munition und Soldaten. Bei den Rüstungslieferungen sind die Ukrainer stark vom Ausland abhängig. Die Mobilisierung zusätzlicher Kämpfer ist hingegen ihre eigene Verantwortung. 450 000 bis 500 000 Mann zusätzlich will das Oberkommando, um die Lücken an der Front zu schliessen, Truppen abzulösen und die Initiative zurückzugewinnen.
Die Forderung droht die Ukraine politisch und gesellschaftlich zu zerreissen. Präsident Selenski weiss das und zögert, während die Russen im Donbass vorrücken. Militärisch lässt sich die Untätigkeit kaum erklären. Doch die Widerstände gegen die Ausweitung der Mobilisierung sind riesig, und sie kommen aus verschiedensten Interessengruppen.
Mobilisierungsgesetz mit 4200 Änderungen
Zum Symbol dieses erbitterten Streits ist das Gesetz über die Mobilisierung geworden. Es hängt trotz grosser Dringlichkeit seit über zwei Monaten im Parlament fest. Eine erste Version musste das Verteidigungsministerium nach Tumulten in der Werchowna Rada zurückziehen. Die Neufassung durchlief Anfang Februar zwar die erste Lesung. Doch seither kamen über 4200 Änderungsanträge dazu, die eine Verabschiedung weiter verzögern.
Das Militär will das Mindestalter, ab dem Ukrainer in den Kampf geschickt werden, von 27 auf 25 Jahre senken. Sie sollen davor mindestens eine dreimonatige Ausbildung erhalten, was heute nicht immer garantiert ist. 18- bis 24-Jährige sollen nicht mehr zu fixen Zeiten die Rekrutenschule besuchen, sondern einen flexiblen fünfmonatigen Wehrdienst absolvieren. Das Gesetz regelt klarer, wer aufgrund von familiären Verpflichtungen oder Behinderungen freigestellt ist.
Zu den Neuerungen zählt auch die Einführung eines elektronischen Registers, über das der Einberufungsbescheid zugestellt werden kann. Oft wissen die Militärbehörden heute nicht, wo sich Stellungspflichtige befinden: Der Krieg hat Millionen innerhalb der Ukraine vertrieben oder zur Flucht ins Ausland gezwungen. Deshalb sollen sich auch Männer aus der Diaspora registrieren müssen.
Soldaten, die 36 Monate durchgehend gedient haben, sollen neu einen Antrag zur Demobilisierung schreiben können, über den das Oberkommando entscheiden muss. Gleichzeitig sieht die Vorlage härtere Strafen für jene vor, die sich dem Militärdienst zu entziehen versuchen. Diese reichen bis zur Beschlagnahmung von Besitztümern, etwa Autos.
Abwägen zwischen Wirtschaft und Krieg
Solche zusätzlichen Kompetenzen für die Aushebungsämter, die oft mit Korruption und Willkür assoziiert werden, sind stark umstritten. Menschenrechtler und Oppositionspolitiker setzten deshalb in der Neufassung eine Prüfung solcher Entscheide durch ein Gericht durch. Heikel sind auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte im digitalen Register sowie Korruptionsrisiken, etwa bei der Bewilligung von Anträgen zur Demobilisierung.
Doch es bleibt ein Grunddilemma: Die Ukraine muss stärker als je zuvor zwischen militärischen und wirtschaftlichen Interessen abwägen. Der Krieg ruiniert das Land. So hat Kiew für die Verteidigung dieses Jahr umgerechnet 40 Milliarden Dollar budgetiert. Dies deckt aber nur die heutige Grösse der Armee ab. Die zusätzliche Mobilisierung von einer halben Million Mann würde noch einmal 13 Milliarden Dollar kosten. Woher dieses Geld kommen soll, ist unklar.
Das Problem reicht aber noch tiefer: Bereits heute zahlen die westlichen Partner die Hälfte der Staatsausgaben, allerdings nur die zivilen. Das Militärbudget muss Kiew aus Steuererträgen finanzieren. 500 000 Mann zu mobilisieren, hiesse aber auch, dass diese als reguläre Angestellte und Steuerzahler wegfallen. Das Budgetloch würde dadurch noch grösser.
Deshalb steigen nun auch die Wirtschaftsverbände auf die Barrikaden. So fordert die European Business Association, die 1000 Firmen vertritt, «eine Balance zwischen der Front und der Wirtschaft». Viele Unternehmen leiden wegen Krieg und Flucht unter einem Arbeitskräftemangel und dem Ausbleiben von Aufträgen. Sie klagen auch, dass oft unklar bleibe, welche Sektoren als strategisch bedeutsam deklariert würden und welche Angestellten deshalb von der Mobilisierung ausgenommen seien.
Die Ukrainer fürchten Tod und Willkür
Auch wenn es keine Massen von Freiwilligen mehr gibt, sind die Ukrainer grundsätzlich weiterhin zum Kämpfen bereit. Doch sie fürchten Willkür ebenso wie das Sterben. So zeigte Ende Februar eine Umfrage, dass sich Männer aus diesen Gründen vor dem Dienst drücken: schlechte Ausrüstung, Angst vor dem Tod, die unbestimmte Länge des Dienstes und die Furcht vor einem schlechten Kommandanten – in dieser Reihenfolge.
Um solche Unsicherheiten zu umgehen, melden sich viele Kampfwillige direkt bei Brigaden statt über das staatliche Rekrutierungszentrum. Die Militäreinheiten setzen dabei zunehmend auf private Arbeitsvermittler, um Personal zu finden. Laut dem Verteidigungsministerium haben sich in den letzten Monaten so fast 50 000 Personen gemeldet. Das grösste Problem bleibt, Kandidaten für die Kampfeinheiten an vorderster Front zu finden. Hier sind die Bedingungen am härtesten: Fast alle kämpfen praktisch pausenlos seit zwei Jahren, oft in einfachen Unterständen gegen einen besser ausgerüsteten Feind.
Auch die Verluste sind hoch. Jüngst hat Selenski die Zahl von 31 000 Gefallenen und 15 000 Vermissten seit Februar 2022 genannt. Diese liegt deutlich tiefer als manche anonyme amerikanische Schätzung, aber nur leicht unter den seriösen Berechnungen ukrainischer Organisationen. Sie haben unter anderem über Todesanzeigen und postume Ordensverleihungen mindestens 24 500 Gefallene identifiziert und gehen davon aus, dass dies etwa 70 Prozent der Gesamtzahl entspricht. Dazu kommen gegen 100 000 Verwundete.
Die Verluste liegen zwar deutlich unter jenen der Russen. Doch sie stellen einen enormen Blutzoll für das viel kleinere Land dar. Zwar gehen Schätzungen davon aus, dass es in der Ukraine weiterhin ein Mobilisierungspotenzial von 7 bis 8 Millionen Mann gibt. Doch im Gegensatz zur russischen Diktatur kann die Ukraine ihre Soldaten nicht einfach tausendfach verheizen. Der demokratische Streit um den menschlichen Preis dieses Krieges ist erbittert und politisch explosiv.
Die Zukunft des Landes steht auf dem Spiel
Dabei geht es fundamental um die Zukunft des Landes. Um diese zu sichern, blieben Männer unter 27 Jahren vom Kampfeinsatz ausgenommen. Die Jugend soll weiterleben. Stattdessen muss die Generation ihrer Väter in die Schützengräben. Das Durchschnittsalter der ukrainischen Soldaten beträgt 42 Jahre. Solche Kämpfer sind zwar erfahren, aber physisch weniger belastbar, was zahlreiche militärische und gesundheitliche Probleme nach sich zieht.
Eine Verstärkung durch Jüngere wäre deshalb hochwillkommen. Doch die Krisen, Konflikte und Gebietsverluste haben die Bevölkerung der Ukraine stark schrumpfen lassen. Die Geburtenrate brach bereits in den neunziger Jahren ein. Laut Schätzungen der Weltbank liegt der Anteil der 20- bis 34-Jährigen an der männlichen Bevölkerung bei 17 Prozent, jener der 35- bis 49-Jährigen aber bei 26 Prozent. Der Rekrutierungspool ist also deutlich kleiner. Ihn anzuzapfen, erhöht die Risiken im Überlebenskampf noch zusätzlich.

