Schlorzifladen, Dreikönigskuchen, Farina bóna: Das sind nur drei von über 450 Nahrungsmitteln, die zum kulinarischen Erbe der Schweiz zählen. Nun sind sie alle in einem Band versammelt.
Am 6. Januar eint Jahr für Jahr ein kranzförmiges Gebäck aus süssem Hefeteig die Schweiz, verbunden mit der Frage, wer in der Familie zum temporär gekrönten Haupt werde: Der Dreikönigstag ist wie viele Feiertage mit einem kulinarischen Brauchtum verbunden, das in diesem Fall allerdings erst vor rund sechzig Jahren zum Massenphänomen wurde, als die Branche die jahrhundertealte Idee mit frischen Rezepten wiederbelebte. 1,5 Millionen Exemplare sollen heutzutage jeweils davon verkauft werden – für jede Person im Land stünde somit zumindest ein Stücklein bereit, in dem die Königsfigur versteckt sein könnte.
Und an den übrigen 364 Tagen im Jahr? Was verbindet kulinarisch dieses Land, das ein Röstigraben trennen soll, obwohl Rösti doch beidseits auf den Tisch kommt? Hält vielleicht ein zäher Fonduefaden es zusammen oder eher eine Darmhaut, auch Pelle genannt?
Zersplitterte Identität
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Diese Käse-, Wurst- und Willensnation ist auch auf dem Teller nicht auf einen Nenner zu bringen.
Jeder der vier Landesteile hat seine eigene Identität, die der Kantönligeist weiter zersplittert, wie ein Blick ins neue Buch «Das kulinarische Erbe der Schweiz» zeigt. Ein gleichnamiger Verein, vor zwanzig Jahren gegründet, hat im Auftrag des Bundes landesweit traditionelle einheimische Spezialitäten aufgespürt und über 400 auf der Website www.kulinarischeserbe.ch versammelt, vom Absinth bis zum Zigerkrapfen. Sie alle und ein paar mehr sind nun erstmals in einem einzigen Band beschrieben: Auf 775 Seiten entfaltet sich laut Untertitel «ein Panoptikum des Ess- und Trinkbaren», höchst geistreich verfasst von Paul Imhof, «Tages-Anzeiger»-Journalist in Pension und Vorstandsmitglied des Vereins.
Wer ein Erbe in Aussicht gestellt erhält, mag an einen Todesfall denken. Doch hier geht es um grossteils noch lebendige Traditionen, die von der Topografie, der bäuerlich geprägten Vergangenheit und den Mentalitäten des Landes zeugen. Diese Aspekte sind im Buch mit kultur- und sprachgeschichtlichen Aspekten so gekonnt verwoben, dass es wie aus einem Guss wirkt. Einige Quellen werden zum Erhellen einzelner Sachverhalte immer wieder beigezogen, etwa der unverwüstliche «Larousse gastronomique» oder die unsterbliche Schweizer Kochbuchautorin Elisabeth Fülscher.
Das eigentlich nach Regionen gesammelte Material ist den einzelnen Kantonen zugeordnet, was zu einigen Verlegenheitslösungen führt. Der Dreikönigskuchen etwa, in der Westschweiz übrigens mit der französischen Galette à la Frangipane konkurrierend, wird Luzern zugeschlagen; der als Fisch weltweit verbreitete Felchen taucht ebenso bei Zürich auf wie das Weggli, das etwa in Basel sein kurzes Dasein als Schwöbli fristet. So bringt es der bevölkerungsreiche Kanton auf immerhin zwei Dutzend Einträge, während sich Zug mit fünf begnügen muss, inklusive Kirsch samt Torte. Das mit Cola-Fröschli, Schinkengipfeli und zwei Handvoll weiteren Spezialitäten abgespeiste Baselbiet darf sich zum Trost überraschenderweise mit dem Cordon bleu brüsten, zu dem es fast so viele Ursprungsmythen gibt wie Rezeptvarianten.
Kulinarisch am «artenreichsten» präsentieren sich nebst der Westschweiz mit den Gourmet-Hochburgen Waadt und Fribourg die Kantone Bern, Graubünden und das Tessin, das sogar obenaus schwingt mit über vierzig Einträgen, von der Schweinswurst Luganiga bis zum Maismehl Farina bóna. Seine in der Cucina povera wurzelnde Küche scheidet nach wie vor das Sopra- vom Sottoceneri, das Alpine vom Mediterranen, ist dabei aber laut Imhof überaus reichhaltig geworden.
Erfindungskraft im Detail
Wir Schweizer gelten als erfinderisch, spätestens seit Anbruch des Industriezeitalters. Man weiss: Wir haben nicht nur Ricola ersonnen, sondern auch das Conchieren, das erst die heutige Finesse von Schokolade ermöglichte (nur gab’s damals noch keinen Trommelwirbel von Social-Media-Hypes, die heute vergleichsweise nichtige Inventionen wie die Dubai-Schokolade begleiten). Uns verdankt die Menschheit die Milchschoggi, und das Birchermüesli hat von hier aus ebenso die Welt erobert wie ein System, Kaffee zu verkapseln. Und sonst?
Die meisten Spezialitäten dürften zwar bestenfalls eine Variation importierter Ideen sein, doch dieses Buch hilft uns, die Innovationskraft in den Nuancen zu finden. Über vierhundert verschiedene Würste sind hierzulande beispielsweise im Lauf der Jahrhunderte kreiert worden, wovon der Band allerdings nur einen Bruchteil aufnehmen kann, wie auch von den über 700 einheimischen Käsesorten. Die Liste reicht von A wie Appenzeller bis Z wie Zincarlin aus dem Valle di Muggio. Das Wallis darf mit seinem famosen Raclette du Valais die Fahnen eines Nationalgerichts hochhalten, und im Kapitel «Nidwalden» stossen wir auf den grossartigen Sbrinz. Er muss sich nicht hinter dem Parmesan verstecken, und Imhof nennt ihn das Urgestein der Schweizer Sorten – als ältestes Exportgut der Käsenation.
Wurst, Käse oder Trockenfleisch stehen dafür, wie viel wir im Grunde der Verderblichkeit verdanken: Gerade der Zwang zur Haltbarmachung von Lebensmitteln hat die Kreativität unserer Vorfahren entscheidend beflügelt. Die Vielfalt dieser Erzeugnisse zeigt auch, wie sehr unsere Traditionen mit tierischen Produkten verknüpft sind – und wie wenig dem Kulturgut Essen gerecht wird, wer diese Erzeugnisse verteufelt.
Viel Lesestoff für Schleckmäuler
Die Menge der im Buch verzeichneten Fleisch- und Milcherzeugnisse wird einzig von den Back- und Konditoreiwaren übertroffen, bei denen auch der Reichtum an Süssgebäck auffällt. Der Schlorzifladen etwa, der lautlich Franz Hohlers «Totemügerli» entsprungen sein könnte, ist ein köstlicher Ostschweizer Kuchen mit Dörrbirnen. Ruhig merken dürfen sich unsere deutschen Freunde auch, dass Leckerli nicht so heissen, weil sie lecker sind, sondern weil es etwas zu lecken gibt (den Zuckerguss).
In Zürich wie in Basel ist der im ganzen Land verbreitete Mohrenkopf aufgelistet, und zwar unter dieser Bezeichnung – hoffentlich ohne dass der Autor gecancelt würde, der nicht nur die Namensgebung ausführlich erörtert. Auch die Spur der Vermicelles nimmt er auf, die schon 1794 vom Walliser Joseph Favre schriftlich vermerkt wurden, nachdem die Grundmasse im Jahrhundert zuvor als Püree aus Frankreich eingewandert war. Mehrere Seiten sind einem süsslichen Gewürz gewidmet, das im Wallis schon im Mittelalter angebaut wurde: Safran. Diese Krokusart wird heute auch in anderen Gebieten kultiviert, im Wallis aber einzig noch im Örtchen Mund. Und auch dies nur dank einer Rettungsaktion durch eine 1979 dort gegründete Safranzunft.
Das Kapitel zu jedem Kanton wird mit dessen Kurzporträt eingeleitet, das dank Imhofs Schreibgewandtheit ebenso zum Genuss wird. Das «Millionenzürich» definiert er als «Kondensat der provinziellen Schweiz, verrührt mit globaler Weltläufigkeit», dort sei «die alte protestantische Hinwendung zur Verinnerlichung von einem pomadisierten Hedonismus überkleistert worden». Den diesem Kanton zugeschlagenen Produkten lässt er aber dieselbe Liebe und Sorgfalt angedeihen wie allen anderen, und dass die Züri-Leckerli den besten Basler Pendants nicht das Wasser reichen können, verschweigt er gnädig.
Die Berücksichtigung der Zürcher Zweifel-Chips zeigt, dass diese Sammlung nicht vor Industrieprodukten zurückschreckt. So finden auch massenhaft getrunkene Blööterliwasserklassiker wie Rivella, Elmer Citro, Pepita Aufnahme, ebenso eine über Generationen hinweg geschätzte Streuwürze: Aromat steht womöglich für unseren Hang zur Gleichmacherei.
Mit diesem Buch neu in die Sammlung aufgenommen werden etwa die Brunnenkresse – der Oberaargau verfügt über die einzige verbliebene traditionelle Nasskultur in ganz Mitteleuropa – und der vor gut hundert Jahren nach italienischem Vorbild kreierte Zürcher Wermut Jsotta, der eine erstaunliche Renaissance erfährt. Auch der pionierhafte Riso nostrano ticinese, seit 1997 in der Maggia-Ebene trocken angebaut, gehört nun offiziell zum kulinarischen Erbe der Schweiz, das sich also ständig wandeln darf.
Die Suche nach dem Nationalgericht
Und das verbindliche Nationalgericht? Gibt es nicht. Gälte es bei all der Vielfalt doch eines zu bestimmen, fiele die Wahl aufs Fondue: Das sieht auch Imhof so, wobei keinem Land ein Exklusivanspruch zusteht auf die Grundidee, Käse zu schmelzen. Das älteste erhaltene Fonduerezept stammt aus einem Zürcher Kochbuch von 1699, doch die Ursprünge wären gewiss in der Westschweiz zu suchen. In den Kantonskapiteln sucht man das Gericht allerdings so vergeblich wie die Rösti. Diese taucht dafür im krönenden «Menu suisse» auf, in dem der Autor aus dem Vollen schöpft und statt eines einzigen Nationalgerichts einen eidgenössischen Kompromiss in zehn Gängen auftischt: Da stehen Älplermagronen einträchtig neben den Pizzoccheri und bei den Fleischgerichten die St. Galler Kalbsbratwurst neben dem Zürcher Geschnetzelten.
Und welche der 453 im Buch erörterten Ideen und Gerichte sind nun genuin eidgenössisch, welche eher der Kultur umliegender Länder abgeschaut? Das ist schwer auszumachen. Die Frage könnte geradewegs in einen Streit führen, wie ihn der italienische Wirtschaftshistoriker Alberto Grandi in den letzten Jahren zum kulinarischen Erbe seiner Heimat angezettelt hat. Doch ob die Meringues nun in Meiringen erfunden worden sind oder irgendwo sonst in Mitteleuropa: Sie zählen zu den Spezialitäten, die unser Selbstverständnis geprägt haben. Und es lernt sie noch mehr – oder wieder – lieben, wer sich in die sinnlich verschlungenen Herkunftstheorien und die geheimnisvolle etymologische Spurensuche vertieft.
Paul Imhof: Das kulinarische Erbe der Schweiz. Echtzeit-Verlag, Basel 2024. 776 S., ca. 78 Franken.