Sonntag, November 24

In Deutschland wollten grüne Ministerien untersuchen, wie klimaschonend die Kernkraft wirklich ist. Doch das Ergebnis des Gutachtens stand fest, bevor es überhaupt in Auftrag gegeben wurde. Eine Recherche der NZZ.

Als die Opposition in Deutschland vor einigen Monaten die Umstände des Atomausstiegs näher untersuchen wollte, gab sich Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen gelassen. Sein ganzes Haus habe «ohne Denkverbote» gearbeitet, sagte er, auf «der Basis von Fakten». Umweltministerin Steffi Lemke klang ähnlich. Sie verwahrte sich gegen den Vorwurf, die Mitarbeiter ihres Ministeriums hätten «politisch gefärbte Entscheidungen» getroffen. Das grenze an «Ehrabschneidung».

Die Grünen, so lautete die Botschaft, haben nichts zu befürchten. Sie haben eine Laufzeitverlängerung der deutschen Reaktoren auf dem Höhepunkt der Energiekrise 2022/23 unvoreingenommen geprüft und sich dann dagegen entschieden. Es ging um Sachzwänge, nicht um vorgefasste Meinungen. Die Partei hat kein grundsätzliches Problem mit der Atomkraft, sie setzt auf die Macht der Wirklichkeit. Stimmungsmache betreiben die anderen.

Eine Recherche der NZZ stellt dieses Bild nun infrage. Sie beruht auf Unterlagen aus einem Untersuchungsausschuss, den das Parlament im Sommer dieses Jahres eingesetzt hat. Sie zeigt eine Partei, die die Kernenergie so vehement ablehnt, dass sie sich bei ihrem Kampf nicht allein auf Deutschland beschränkt. Sie bekämpft den Bau von Meilern auf der ganzen Welt, und das mit mindestens einem politischen Gefälligkeitsgutachten.

Die Geschichte spielt wenige Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, auf dem Höhepunkt der Energiekrise. Russland drosselte damals die Lieferungen von Gas durch die Nord-Stream-1-Pipeline, die Preise für Energie explodierten. Wo immer es ging, sollten die Deutschen ihren Verbrauch einschränken; im Fernsehen erklärte man ihnen, dass sie ihr Frühstücksei von nun an besser mit Deckel kochten.

Eine Studie, von der man sich ein klares Ergebnis erwartete

Besonders ausgiebig stritt man sich im Land über den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken. Damals waren noch drei in Betrieb, drei weitere waren erst wenige Monate zuvor vom Netz genommen worden. Diese Reaktoren hätten zusammengenommen 12 Prozent des deutschen Stromes klimaschonend und rund um die Uhr beisteuern können, auch bei Flaute und Dunkelheit. Viele Fachleute waren deshalb für den Weiterbetrieb, wie auch die seinerzeit noch regierende FDP. Die Grünen waren dagegen.

In dieser Lage gab das grün geführte Umweltbundesamt eine Studie in Auftrag, die mit 250 000 Euro Steuergeld gefördert wurde. Sie sollte untersuchen, wie klimaschonend Atomkraftwerke wirklich sind. In die Bilanz sollte zum Beispiel auch der Abbau von Uran oder die Endlagerung von Brennstäben genau einbezogen werden. Das ist nicht völlig unberechtigt. Der Abbau von Uran kann eine schmutzige Sache sein, dabei wird in einigen Fällen viel Kohlendioxid ausgestossen. Die Untersuchung war also von öffentlichem Interesse.

Nur stand das Ergebnis bereits fest, lange bevor die Untersuchung überhaupt begonnen hatte. Das geht aus einem internen Papier einer Abteilungsleiterrunde im Umweltministerium hervor. Darin formulierte man Monate vor der Ausschreibung klare Erwartungen an die Studie. Sie sollte mit folgenden Botschaften einhergehen: «Atomenergie ist nicht nachhaltig und kein Klimaretter.»

Das Konzeptpapier stammte vom Bundesamt für nukleare Entsorgung, einer dem Umweltministerium unterstellten Behörde. Es legte zu diesem Zeitpunkt zusammen mit dem Umweltbundesamt fest, was die Studie leisten sollte. Offenbar sehr gründlich.

Das Amt weist diese Darstellung auf Anfrage der NZZ zurück. Es sei «falsch», dass die Ergebnisse der Studie vorher festgestanden hätten. Die Formulierung aus dem Papier beziehe sich nicht auf die Inhalte der Studie selbst, sondern auf den allgemeinen Kenntnisstand des Amtes. Es sei die «grundsätzliche Bewertung» der Behörde, «dass Atomenergie keine nachhaltige Energieform darstellt und absehbar nicht in der Lage sein wird, einen signifikanten Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels» zu leisten.

Das Umweltbundesamt argumentiert ähnlich. Es habe keine vorherige Festlegung bei der Studie gegeben, schreibt es. «Forschungsprojekte sollen Antworten auf bislang nicht ausreichend geklärte Fragen geben.» Andernfalls wären sie «sinnlos».

Eine Meinung hatte man, nun brauchte es noch Fakten

Wenn die Studie aber ergebnisoffen war, wie kann eine grüne Behörde dann schon Monate vorher festhalten, welche Botschaft damit verknüpft sein wird? Und wenn sie ohnehin grundsätzlich weiss, dass die Kernkraft angeblich «kein Klimaretter» ist, wozu braucht es dann noch eine Studie, um genau das zu beweisen?

Das Forschungsvorhaben war also in erster Linie ein politisches. Das wird umso klarer, wenn man sich anschaut, mit welchen Worten das Umweltbundesamt es später bewilligte. Die Atomkraft, heisst es in dem Dokument, erlebe als «vermeintlich sichere, nachhaltige und emissionsarme» Technologie eine «vermeintliche Renaissance». Eine Meinung hatte man bereits. Nun sollten die Forscher die Fakten dazu liefern.

Darauf deutet auch der Bewerbungsprozess hin beziehungsweise: der vermeintliche Bewerbungsprozess. Es bewarb sich nämlich nur ein einziges Institut für das Vorhaben, als es Mitte Juni 2022 ausgeschrieben wurde: das Öko-Institut. Der Verein ist Ende der siebziger Jahre aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangen. Da sich niemand sonst bewarb, bekam er den Zuschlag. Ein Anti-Atomkraft-Institut sollte also prüfen, wie nachhaltig die Kernenergie ist. Gefördert mit 250 000 Euro Steuergeld.

Warum aber überhaupt diese Studie? Die Autoren sollten daran immerhin zwei Jahre lang arbeiten, weit über das Datum des endgültigen Atomausstiegs hinaus. Befürchtete man bei den Grünen etwa, dass die Stilllegung der deutschen Meiler angesichts der Energiekrise doch noch aufgeschoben werden würde?

Das Papier, mit dem das Vorhaben im Umweltbundesamt bewilligt wurde, legt einen anderen Schluss nahe. Es ging den grün geführten Behörden demnach gar nicht um den Atomausstieg in Deutschland. Sie hatten weiterreichende Pläne.

Ziel war die «Beeinflussung des internationalen Diskurses», wie es in dem Papier heisst. Sobald erste Ergebnisse vorlägen, sollten diese «gezielt in Ländern mit starken Ausbauplänen für Atomkraft» eingebracht werden, sowie in die Diskussionen im Weltklimarat.

Das ist bedeutsam. In den Berichten des Weltklimarats wird die Bedeutung der Atomkraft für den Klimaschutz anerkannt. An ihnen wirken Hunderte renommierte Wissenschafter aus aller Welt mit, sie haben deshalb besonderes Gewicht. Offenbar störten sich die grün geführten Ministerien und Behörden daran, dass die Kernenergie in diesen Berichten so gut wegkam. Mit der Studie wollte man an der vermeintlichen Wurzel des Problems ansetzen.

Genau so geschah es dann auch. Es war wenige Tage vor der Konferenz im November 2023 in Dubai. Ein Bündnis von Industriestaaten forderte damals, die Erzeugung von Strom durch Kernkraft bis zum Jahr 2050 weltweit zu verdreifachen, darunter die Vereinigten Staaten, Frankreich und Grossbritannien. Nun sah man die Gelegenheit gekommen, erste Ergebnisse des Forschungsvorhabens in die Diskussion einzubringen.

Eine einmalige Gelegenheit

«Entschuldigt bitte den Zeitdruck», schrieb ein Mitarbeiter des Umweltbundesamtes in einer Mail an einen externen Mitarbeiter aus dem Wirtschaftsministerium sowie einen Beschäftigten der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. «Aber hier ist ein Window of Opportunity, was genutzt werden sollte.» Die drei Mitarbeiter bereiteten anschliessend ein englischsprachiges Informations-Paper auf der Basis der noch unfertigen Studie vor.

Der externe Beschäftigte beim Wirtschaftsministerium bedankte sich. Ein Mitarbeiter und er selbst «finden beide das Dokument sehr gut: knackig und präzise.» Es werde «gut sein», es für die Weltklimakonferenz «bereit zu haben».

Die Klimabilanz von Atomkraftwerken spielte in dem Dokument keine Rolle. Es kritisierte vor allem das Ziel der nuklearen Allianz, die Erzeugung von Atomstrom jährlich massiv zu erhöhen. Die Autoren hielten das für unerreichbar.

Unabhängig davon, wie man zu dieser Einschätzung steht: Sind nicht auch die Ausbauziele für Windräder und Solardächer mindestens genauso ehrgeizig? Und wieso bestand ein wesentlicher Beitrag der deutschen Delegation auf der vergangenen Weltklimakonferenz vor allem darin, Stimmung zu machen gegen die Kernenergie? Schliesslich geht es bei dieser Konferenz um ein übergeordnetes Ziel, nämlich darum, schnellstmöglich Klimaneutralität zu erreichen. Dazu können neben den Erneuerbaren auch Atomkraftwerke beitragen, trotz ihrem Müllproblem.

Besonders brisant ist, dass auch ein Mitarbeiter der Entwicklungshilfe eingebunden war. Grüne Behörden setzten also deutsches Steuergeld ein, um Länder davon abzuhalten, überhaupt in die Atomkraft einzusteigen. Dabei liefern diese Kraftwerke klimafreundlichen Strom. Man kann also sagen: Mit deutschem Steuergeld wird der Klimaschutz untergraben.

Wie steht es aber nun um die zentrale Frage, die diese Studie beantworten sollte, die wahre Klimabilanz von Atomkraftwerken? Die Studie selbst ist noch nicht erschienen, obwohl die Frist abgelaufen ist. Über die Gründe ist bis heute nichts bekannt. Es gibt also noch kein endgültiges Ergebnis. Aber in den Unterlagen des Untersuchungsausschusses findet sich ein Feinkonzept. Und schon das wirft Fragen auf.

Bemerkenswerte Annahmen

Die zentrale Annahme der Autoren ist, dass die Emissionswerte für Atomkraftwerke in den bisherigen Berichten des Weltklimarats zu niedrig angesetzt sind. Zum Beispiel kritisieren sie, dass Atommeiler in der Regel weniger lang am Netz sind als angenommen, nämlich nicht bis 65 Jahre, sondern im Schnitt nur 30,9 Jahre.

Nur: Das hat auch mit politischen Entscheidungen und Protesten der Grünen zu tun. Deutschland beispielsweise hat seine Meiler abgeschaltet, lange bevor sie ihre maximale Lebensdauer erreicht hatten. Erst sorgen Grüne dafür, dass Atomkraftwerke frühzeitig abgeschaltet werden, dann wollen sie der Technologie genau das in einer Studie vorhalten. Es ist paradox.

Schon die Grundannahme der Studie ist bemerkenswert. Während die Autoren nämlich davon ausgehen, dass die Bilanz der Atommeiler viel zu positiv sei und deshalb neu berechnet werden müsse, wollen sie die Bilanz der Erneuerbaren nicht neu berechnen. Hier gehen sie davon aus, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei, und verlassen sich auf die bisherige Literatur. Das Öko-Institut schreibt dazu auf Anfrage der NZZ, es sei nun einmal nicht gefordert worden, die Werte für erneuerbare Energien neu zu berechnen.

Anna Veronika Wendland, eine Kernkraft-Aktivistin, kritisiert das deutlich. Sie weist im Gespräch mit der NZZ darauf hin, dass Studien über Erneuerbare die Lebensspanne der Anlagen ebenfalls viel länger ansetzen als die bisherige reale Haltbarkeit, nämlich auf 40 Jahre bei Solaranlagen und auf 30 Jahre bei Windrädern.

Man kann zu praktisch jedem Ergebnis gelangen

Aus ihrer Sicht muss man sich schon entscheiden: Entweder man vergleicht beide Technologien besonders umfassend miteinander, oder eben nicht. Alles andere sei unseriös. «Kurz gesagt: Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Öko-Institut in einem unfairen Vergleich landen wird.»

Ähnlich sieht es der Ökonom Manuel Frondel. Den Treibhausgasausstoss eines Kernkraftwerks umfassend zu berechnen, inklusive der Endlagerung, sei ein «sehr anspruchsvolles und komplexes Unterfangen». Aufgrund der Vielzahl der zu treffenden Annahmen könne man mit einer solchen Analyse «zu praktisch jedem erdenklichen Ergebnis gelangen».

Der Parlamentarier Andreas Lenz ist Obmann für die CDU/CSU im Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg. Er findet es «fragwürdig», wenn Botschaften einer Studie schon vorher definiert würden. Dass eine solche Auftragsarbeit dann aber noch auf der Weltklimakonferenz genutzt werde, um eine feststehende Argumentation zu untermauern, sei «skandalös».

Vor kurzem wurde der Präsident des Umweltbundesamtes Dirk Messner im Ausschuss zu besagter Studie befragt, das Protokoll liegt der NZZ vor. Messner verteidigte die Arbeit. Der Atomausstieg sei beschlossene Sache, sagte er vor dem Gremium. Nun erarbeite man eben «Argumente, mit denen wir versuchen, andere zu überzeugen, unseren Politikoptionen Gewicht beizumessen». Seine Behörde sei da aber «natürlich völlig frei in Bezug auf die Methoden und die Schlussfolgerungen». Wissenschaftsfreiheit sei die Grundlage dafür, «seriöse Politikberatung zu machen».

Es klang überzeugt. Nur wenig überzeugend.

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