Donnerstag, Oktober 24

Der unbekannte König der Zürcher Bahnhofstrasse ist ein 49-Jähriger mit einem silbern gesprenkelten Dreitagebart, einer nur halb gezähmten Mähne und einem gewinnenden Lachen. Paolo Di Stefano wirkt noch immer wie der Architekt, der er einmal war. Inzwischen ist er als Schweizer Immobilienchef beim Versicherungskonzern Swiss Life Hüter eines Milliardenvermögens.

Elf Liegenschaften an der teuersten Einkaufsmeile des Landes gehören zu seinem Portfolio. Das ist jede achte Hausnummer. Niemand hat mehr Einfluss auf die Entwicklung der Bahnhofstrasse. Es ist daher tiefgestapelt, wenn Di Stefano sagt, dass die Vermietungen von Swiss Life diese «zu einem gewissen Grad beeinflussen können».

Sie können es nicht nur, sie tun es auch.

Wie Swiss Life zur dominanten Kraft wurde

Der Aufstieg von Swiss Life ist die prägende Geschichte der letzten dreissig Jahre auf diesem kleinen, exklusiven Immobilienmarkt. Anfangs besass sie nur ein einziges Gebäude: die unscheinbare Nummer 63 vis-à-vis des ehemaligen Spielwarengeschäfts Franz Carl Weber. 2001 kaufte sie das ehemalige Manor-Warenhaus. 2013 folgte der alte ZKB-Hauptsitz zwischen Sprüngli und der heutigen Kantonalbank, 2016 das Franz-Carl-Weber-Haus.

Der Aufstieg des Versicherungskonzerns lässt sich rekonstruieren mittels exklusiver Daten, welche die NZZ anhand alter Dokumente und Telefonbücher sowie von Grundbuchdaten zusammengetragen hat.

Obwohl laut Maklern an der Bahnhofstrasse nur selten Häuser auf den Markt kommen, weil alteingesessene Familien ihren Besitz über Generationen weitergeben, hat seit Mitte der neunziger Jahre knapp die Hälfte aller Adressen den Besitzer gewechselt. Und Swiss Life bekam bei jeder vierten dieser Handänderungen den Zuschlag.

Das begann nach der Jahrhundertwende und beschleunigte sich in den 2010er Jahren – parallel zur forcierten Expansion internationaler Luxusmarken an der Bahnhofstrasse.

Swiss Life wurde wiederholt die Rolle des Bösewichts zugeschrieben, wenn liebgewonnene Geschäfte wie Manor oder Franz Carl Weber verschwanden. Von einem «Monopoly» war in den Medien die Rede, von fehlendem Verantwortungsbewusstsein, «Profitgier», «Miet-Schocks» und «Verödung». Ein Betroffener bezeichnete die Verantwortlichen des Konzerns als «Gauner, die die ganze Stadt kaputtmachen».

Die These dahinter: Weil Swiss Life teuer zukaufe, müsse sie Mieten verlangen, die sich lokale Unternehmen mit Charakter nicht mehr leisten könnten. Folge sei eine Monokultur. Laut der Immobilienberatungsfirma Wüest Partner müssen eingemietete Ladenbetreiber an der Bahnhofstrasse zurzeit jährlich bis zu 11 000 Franken pro Quadratmeter zahlen.

Paolo Di Stefano wehrt sich gegen solche Vorwürfe: Die Mieten steigen laut ihm deshalb, weil an der Bahnhofstrasse eine grosse Nachfrage auf ein sehr knappes Angebot trifft. Und das wiederum liege auch am Erfolg der Stadt Zürich, die sich in den letzten dreissig Jahren zu einem attraktiven Zentrum mit grosser Lebensqualität gewandelt habe. Einem Zentrum, das wohlhabende Menschen mit viel Kaufkraft anziehe.

Das Ergebnis dieser Entwicklung: «Wer stabile Erträge sucht, findet sie an der Bahnhofstrasse – das ist etwas vom Sichersten in der Schweiz.» Deshalb habe Swiss Life mitgeboten, wenn sich die Gelegenheit ergab. Hohe Sicherheit bedeutet laut Di Stefano aber auch geringe Rendite – denn wo die Erträge verlässlich sprudeln, werden Kaufpreise nah am Limit dessen geboten, was sich noch rechnet. Für Renditemaximierung sei das daher der falsche Ort.

Swiss Life investiere an der Einkaufsmeile langfristig. «Eine nachhaltige Durchmischung ist wichtig, daher holen wir nicht jeden schnellen Rappen heraus», sagt er. «Die Mieter sollen sich nicht kannibalisieren, sondern ergänzen – das zieht noch mehr kaufkräftiges Publikum an und ergibt einen Mehrwert für die ganze Strasse.» Und die Strasse ist zu einem guten Teil im Besitz von Swiss Life.

Darum hat sie im Brannhof, dem ehemaligen Manor-Warenhaus, nicht zehn weitere Uhrenmarken einquartiert – andernorts an der Bahnhofstrasse haben sich diese in jüngerer Zeit ungehemmt ausgebreitet.

Ein anderes Beispiel ist die Bahnhofstrasse 102 nahe dem Hauptbahnhof, wo sich jahrzehntelang eine Metzgerei befand. Als diese ins Shop-Ville zog, bewarben sich mehrere Schuhgeschäfte, aber Schuhe gab es schon in einem anderen Swiss-Life-Gebäude vis-à-vis. Deshalb bekam der Dietliker Sushi-Anbieter Yooji’s den Zuschlag.

Warum Private verkaufen: der Ruf nach mehr Rendite

Die hohe Sicherheit, die die Zürcher Einkaufsmeile bietet, erhöht die Kaufpreise. Laut Martin Greiner vom Immobiliendienstleister Colliers sind sie «vermutlich die höchsten in der ganzen Schweiz».

Dies erklärt, weshalb zu den Zukäufern der letzten dreissig Jahre neben Swiss Life primär ähnlich potente Firmen zählen: die beiden grossen Immobiliengesellschaften Swiss Prime Site und PSP, die sich je fünf Adressen sicherten, sowie die Axa-Anlagestiftung mit drei Zukäufen.

Verkäufer waren oft die Erben von untergegangenen Traditionsbetrieben oder solchen in Schwierigkeiten, die ihren alten Standort zu Geld machten. Jelmoli, Franz Carl Weber, Kleider Frey, Séquin-Dormann – oder die Broderie Sturzenegger. Das Geschäft mit dem etwas angestaubten Namen hielt sich fast neunzig Jahre lang an der Bahnhofstrasse 48, wo Omega heute Uhren verkauft. Sein Fall zeigt exemplarisch, wie es dazu kommen kann, dass familiäre Besitzer eine derart einträgliche Immobilie aus den Händen geben.

Der Ostschweizer Robert Mähr hat das Ende der Broderie hautnah miterlebt. Mähr, ein unterhaltsamer Hobbychronist, erzählt es heute mit heiterer Gelassenheit. Beruflich hat er sich längst von der Bahnhofstrasse verabschiedet, er ist Pensionär und bietet Dienste als Ritualmeister an. Aber früher hat er das Familienunternehmen geleitet, hat mit ihm gelitten und ist mit seiner Geschichte bestens vertraut.

Die Broderie, ein Geschäft für Wäsche aus St. Galler Spitze, habe den Wandel der Branche verschlafen, Mähr sagt das freiheraus. Ein Versuch, sich im Luxussegment neu zu erfinden, scheiterte. Trotzdem hielt sich der Laden an der Zürcher Bahnhofstrasse bis hinein ins 21. Jahrhundert. Spitze war da längst nicht mehr en vogue.

Möglich war dies nur, weil die Eigentümer des Spitzenwäschegeschäfts zu einem guten Teil identisch waren mit jenen, denen die Liegenschaft gehörte – dadurch überschnitten sich die Interessen. «Wir hatten eine Immobilien- und eine Textilfirma, und die eine hat die andere quersubventioniert, keine Frage», sagt Mähr. Doch das änderte sich um die Jahrhundertwende, als mehr und mehr internationale Marken nach einer Adresse an der Zürcher Einkaufsmeile suchten.

Die Aktie der Sturzenegger-Immobilienfirma, lange eine Familienangelegenheit, sei wegen der Liegenschaft an der Bahnhofstrasse – dieses «Goldnuggets» – hoch gehandelt worden, erzählt Mähr. Je mehr Fremde ins Aktionariat kamen, desto schwächer wurde die familiäre Verbundenheit mit dem Textilbetrieb und desto lauter der Ruf nach mehr Rendite. Da die Broderie wenig Miete zahlte, war der Ertrag bescheiden, gleichzeitig fielen hohe Steuern an.

Als die Hausbank dem Geschäft den Betriebskredit drastisch kürzte, reichte laut Mähr die Liquidität nicht mehr, um die Filialen weiter zu betreiben. 2004 verkündete sein Bruder, der damalige Geschäftsführer, in den Medien, dass man die Rendite an der Bahnhofstrasse optimieren wolle. Wenige Monate später zog dort die italienische Jeansmarke Diesel ein – und die Broderie war Geschichte.

Diese hatte laut Robert Mähr pro Jahr 300 000 Franken Miete bezahlt, die Italiener zahlten mehr als eine Million. «Das war ein unglaublicher Betrag, das holt man mit ein paar Spitzenunterhosen niemals herein.»

Einige Jahre später wurde die Liegenschaft an Swiss Life verkauft, ein Makler hatte sie herumgeboten, und die Angebote waren ganz einfach zu gut. «Es gab einen gewaltigen Run darauf», sagt Mähr. «Es wurde ein Superpreis geboten – mehr, als man mit Mieten wieder hereinholen konnte.» Er ist überzeugt: «Da wurde viel zu viel bezahlt.»

Die schwindende Bedeutung der Banken

Wie viel Geld für ein Haus über den Tisch gehen kann, zeigt das Beispiel der Bahnhofstrasse 65, die vor drei Jahren für rund 100 Millionen Franken von den Erben der über 140-jährigen Papeterie Landolt-Arbenz an die Anlagestiftung der Credit Suisse ging. So ist das im Portfolio der Bank vermerkt. Zwei Jahre später wurde das Haus dort bereits mit einem Verkehrswert von 120 Millionen Franken geführt.

Trotz solchen Zukäufen nimmt das Gewicht der Banken als der Liegenschaftsbesitzer an der Bahnhofstrasse ab. Mitte der neunziger Jahre gehörte ihnen noch fast jede vierte Adresse, jetzt ist es noch etwa jede siebte. Für diese Entwicklung steht als bekanntestes Beispiel das Grieder-Haus beim Paradeplatz. Weil die unter Druck stehende Credit Suisse Kapital brauchte, verkaufte sie das Prunkstück vor zehn Jahren an die Swatch-Gruppe.

Auch Swiss Life war an diesem Prestigebau interessiert. Sie zog aber den Kürzeren, wie auch bei einigen anderen Gebäuden in der Umgebung. «Dass wir uns immer und überall durchsetzen, ist ein Märchen», sagt Di Stefano. «Wir sind nicht bereit, jeden Preis zu zahlen. Wir kommen bei weniger als jedem zehnten Verfahren zum Zug.»

Ausländische Investoren suchen Sicherheit

In Wellen klopfen auch ausländische Investoren, die eine andere Strategie verfolgen und daher anders rechnen können, bei der Zürcher Einkaufsmeile an. Derzeit seien es vor allem solche, die sich hier gegen die Unsicherheit in ihren Heimatmärkten absichern wollten, sagt Martin Greiner vom Immobiliendienstleister Colliers. Sie würden deshalb zurzeit eine wichtige Rolle spielen.

Wie präsent sie tatsächlich sind, ist schwer zu sagen, weil ihre Namen in den öffentlich verfügbaren Daten zum Teil gar nicht auftauchen. Dies zeigt das Beispiel der Bahnhofstrasse 52, wo die Metzgerei-Dynastie Niedermann lange das Lebensmittelgeschäft Picnic betrieb. Das Haus gehörte damals wie heute der Bahnhofstrasse Immobilien AG – aber die AG ist nicht mehr die gleiche, und es stehen auch nicht mehr die Niedermanns dahinter.

Das Unternehmen wurde 2011 von einer anderen Immobiliengesellschaft übernommen, die sich den Namen der aufgelösten Gesellschaft überstülpte. Verwaltungsratspräsident ist ein Deutscher, der auch Geschäftsführer der Firma RFR Management ist.

Diese wiederum gehört zwei Prominenten: dem Frankfurter Immobilienmogul Aby Rosen und seinem Partner Michael Fuchs. Rosen hat für Aufsehen gesorgt, als er mit dem inzwischen insolventen Investor René Benko in New York das ikonische Chrysler-Gebäude kaufte. Es ist seine Gesellschaft, die im ehemaligen «Picnic» an der Bahnhofstrasse demnächst eine Chanel-Filiale eröffnet.

Ein anderer ausländischer Immobilienbesitzer ist John Latsis, der reichste Mann Griechenlands. Er besitzt die Bahnhofstrasse 17, wo er bis vor zehn Jahren eine Niederlassung seiner EFG-Bank betrieb; seither ist dort das Londoner Juweliergeschäft Graff eingemietet, dessen Gründer wiederum zu den reichsten Briten gehört.

Ein besonderes Muster beobachtete Di Stefano nach der Jahrhundertwende, als der Euro eingeführt wurde und manche gegen die Einheitswährung wetteten. «Die kauften ein Haus in Schweizerfranken, verkauften es nach dem Zerfall des Euro-Kurses wieder und machten Währungsgewinne.»

Alter Familienbesitz – Käufer unerwünscht

Traditionelle Eigentümer staunen über die «Mondpreise», die ihnen für ein Haus an der Bahnhofstrasse manchmal geboten werden. Beteiligungsgesellschaften mit unbekannten Investoren bringen Summen ins Spiel, bei denen nicht vorstellbar ist, wie sie noch eine Rendite erzielen wollen – oder ob sie bloss Geld parkieren.

Sie klopfen gerne bei Häusern an, die sich im Besitz von Privatpersonen befinden. Und solche gibt es an der Bahnhofstrasse nach wie vor einige. Oft gehören sie Familien und Erbengemeinschaften oder den Nachkommen der ehemaligen Geschäftsinhaber. In seltenen Fällen auch jenen der gegenwärtigen, zum Beispiel bei Sprüngli am Paradeplatz.

Unter den Eigentümern befinden sich in der Öffentlichkeit kaum bekannte Kaderleute von grossen Unternehmen, aber auch klingende Namen aus der Schweizer Wirtschaftswelt, die sich hinter Firmen wie Belimba, Capitol, Tanova oder Silberhof verbergen. Gemeinsam ist den meisten, dass sie Wert auf Diskretion legen.

Dies gilt auch für die Mitglieder der Familie P., die nicht mit vollem Namen genannt werden wollen. Ein Vorfahre hat vor über hundert Jahren ein Haus an der Bahnhofstrasse errichten lassen. Den Familienbetrieb gibt es schon lange nicht mehr, aber ein Verkauf der Liegenschaft ist kein Thema.

Die Familie fühlt sich dem Haus aus Tradition verbunden und pflegt nach eigener Aussage gute Kontakte zu ihren Mietern. Es tauchten zwar immer wieder Kaufinteressenten auf, die mit hohen Millionenbeträgen lockten. Diese würden aber jeweils rasch abgeblockt – und das werde sich in dieser Generation auch nicht ändern.

Paolo Di Stefano hat die Familie P. noch nie angerufen. «Hausnummern abklappern ist nicht unser Stil», sagt er. Swiss Life sei als Anlegerin bekannt genug. «Interessierte Verkäufer kontaktieren uns direkt, wenn sie ein Objekt auf den Markt bringen wollen.»

Aber wenn ein Angebot passt, steht der unbekannte König der Bahnhofstrasse bereit. Gut möglich also, dass Swiss Life in Zukunft noch mehr Einfluss auf die Entwicklung der Bahnhofstrasse nimmt.

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