Im Februar verlor Wendy Holdener ihren Bruder Kevin, der lange krank war. Das Skifahren hilft ihr im Trauerprozess.
Wenn Wendy Holdener Ski fährt, schweifen ihre Gedanken oft ab. Zu Kevin. «Er ist auf der Piste immer präsent», sagt sie. Das Skifahren, als Leidenschaft wie als Beruf, ist untrennbar mit ihrem Bruder verbunden.
Am 22. Februar 2024 stirbt Kevin Holdener 34-jährig. Er hatte Krebs, letztlich starb er an einer Lungenentzündung. Seither hat sich Wendy Holdener aus der Öffentlichkeit zurückgezogen – bis zu diesem Dienstag. In Dübendorf holen die Swiss-Ski-Athleten wie jedes Jahr das Material für die Saison ab. Doch die gewöhnlichen Plaudereien darüber, wie der Sommer so verlaufen sei, weichen bei Wendy Holdener in diesem Jahr einem starken, emotionalen Auftritt.
20 Minuten lang spricht Holdener mit Journalisten über den Tod ihres Bruders. Darüber, wie es ihr heute geht, wie sie trauert. «Kevin wäre stolz gewesen, wie unsere Familie diese Zeit meistert, wie wir uns gegenseitig unterstützen», sagt die 31-Jährige. Mal ist ihre Stimme fest, mal überkommen sie die Tränen.
Die intensive Zusammenarbeit schweisst die Geschwister zusammen
Holdener möchte nicht, dass ihre Erinnerungen an den Bruder nur traurig sind. Sie mag es, mit anderen Menschen Geschichten über gemeinsame Erlebnisse mit Kevin auszutauschen, «weisch no?» Steht sie vor einem Problem, fragt sie sich: «Was würde Kevin sagen?»
Kevin Holdener war viel mehr als nur Wendys Bruder. Er war auch ihr Manager, ihr Karriere-Backoffice. Er sortierte Anfragen aus, organisierte Termine, überprüfte ihren Kalender, dass alles so läuft wie geplant. Er war der erste Ansprechpartner für alle, die mit der Skifahrerin in Kontakt treten wollten. Immer erreichbar, charmant, manchmal ein bisschen grossspurig, spitzbübisch, herzlich, engagiert, immer zu einem Spruch aufgelegt. Er war Wendys frühestes Idol – und ihr grösster Fan.
Zuerst aber war er einfach ihr grosser Bruder, vier Jahre älter, Wendy eifert ihm nach. 2016 sagt Kevin Holdener bei einem Termin am Sihlsee, an dem die Geschwister in ihrer Kindheit den Grossteil des Sommers verbracht hatten: «Sie wollte immer dabei sein und beweisen, dass sie es gleich gut kann.» Zum Beispiel als Kleinste auch über die neue, grosse Schanze im Skigebiet springen. Worauf sie sich prompt am Fuss verletzte und zwei Wochen nicht Ski fahren durfte.
Es gibt noch einen älteren Bruder von Wendy Holdener, Steve. Auch er fuhr Ski. Als er die Volksabfahrt auf dem Hoch-Ybrig gewann, fand er, er trete nun auf dem Höhepunkt ab. Wendy und Kevin aber fanden sich in ihrem Ehrgeiz: Sie wollten mehr vom Skisport.
Im Winter 2010/11 erhält der C-Kader-Athlet Kevin Holdener die Krebsdiagnose, damals ist er 20 Jahre alt. Seine Schwester sitzt mit ihm im Spital bei der Chemotherapie, und muss dann wieder auf die Piste. Zu dieser Zeit widerstrebt ihr das Skifahren – es ist das, was ihr Bruder am liebsten tut und nun nicht mehr tun kann. Sie hadert damit, dass ein so junger Mensch krank wird, der Spitzensportler ist und nie geraucht hat.
Jahrelang sagen die Menschen in Wendy Holdeners Umfeld: «Geht es Kevin gut, geht es Wendy gut.» Bei den regelmässigen Check-ups ist sie nervöser als er. Reagiert er auf einen Telefonanruf mal nicht, ist ihre Konzentration im Training dahin.
Kevin Holdener gibt den Rücktritt, er beginnt ein Studium der Betriebsökonomie. Er ist im Reinen mit dem frühen Karriereende als Skifahrer, glaubt, dass er es ohnehin nicht so weit geschafft hätte wie die kleine Schwester. Ab und zu, wenn er bei einem Training dabei ist, nimmt er die Slalomski mit und zeigt, wie schnell er noch ist.
Und als Wendy auf der Suche nach einem neuen Management ist, wird er ein Teil von Wendys Karriere. Das eine ergibt das andere. Für die beiden beginnt ein Lernprozess, wie sie das Privat- und Berufsleben zusammenbringen. Da geht es etwa um den Ton – Wendy kann sehr direkt sein. Oder darum, dass Kevin manchmal vergisst, dass er eben auch der Bruder ist, wenn er sie anruft. Und nicht nur der Manager.
Die intensive Zusammenarbeit schweisst sie zusammen. Wendy vertraut ihrem Bruder komplett, sie hört auf seinen Rat. Kevin plant ihr Leben, und er schätzt es, dass er so dem Skizirkus verbunden bleibt: «Ich geniesse die schönen Seiten und muss den Rest nicht machen.» Er meint meint damit das harte Training.
Für die Öffentlichkeit gilt Kevin Holdener in diesen Jahren als gesund. Erst am Dienstag sagt Wendy, dass ihr Bruder in dieser langen Zeit nur zwei Jahre lang keinen Rückschlag hatte. «Für unsere Familie war das Thema Krebs immer präsent.» Mehr als ein Jahrzehnt lang kämpft er gegen die Krankheit. Vor einem Jahr verschlechtert sich sein Zustand.
Mitte Dezember 2023 bricht sich Wendy Holdener im Training das Sprunggelenk. Vielleicht musste das so sein, sagen Leute in ihrem Umfeld. Auf jeden Fall nutzt Wendy die gewonnene Zeit zu Hause mit der Familie, fernab des Rampenlichts, in dem unweigerlich Fragen aufgekommen wären, wenn Kevin gefehlt hätte.
Einen Monat nach Kevins Tod postet Wendy Holdener auf Instagram Bilder von einem Heliskiing-Trip in Kanada. Auf dieser Reise hätte Kevin dabei sein sollen; nun fährt die Familie ohne ihn. Und anders als früher gibt das Skifahren Wendy nun Kraft und Energie in dieser schwierigen Zeit.
SRF zeigt Ende Oktober einen Dokumentarfilm
Einer von Kevin Holdeners Wünschen war, einen Dokumentarfilm zu drehen. Zwei Wochen vor seinem Tod erhielt er die Nachricht, dass SRF ihm ein Budget bewilligt hat. Seit Beginn der Krebskrankheit vor 14 Jahren hat er sein Leben gefilmt. Wendy Holdener sagt: «Er wollte, dass sein Leben anderen Krebskranken hilft, Hoffnung zu finden.» Wendy und Kevins Frau Carmen haben sich zusammengetan und das Projekt nach Kevins Tod selbst vorangetrieben. Ab 24. Oktober wird die Dokumentation im Schweizer Fernsehen zu sehen sein.
Zwei Tage später beginnt in Sölden die neue Weltcup-Saison. Wäre Kevin noch da, hätte Wendy Holdener künftig auf den Riesenslalom verzichtet; er hätte ihr zu viel wertvolle Familienzeit geraubt. Doch das ist nun kein Thema mehr. Ebenso wenig wie ein Rücktritt.
Zu sehr liebt Wendy Holdener das Skifahren, zu sehr verbindet es sie mit ihrem Bruder.