Donnerstag, Januar 23

Gerichte haben die Niederlande dazu verpflichtet, den Stickstoffausstoss zu reduzieren. Die Regierung ist ratlos. Sie befürchtet wirtschaftliche Schäden, wenn sie die Urteile umsetzt.

Seltener fliegen, langsamer Auto fahren, weniger bauen oder Zehntausende Kühe schlachten und so die Landwirte wütend machen: Die niederländische Regierung steht vor schwierigen Entscheiden. Auf Geheiss der EU und einheimischer Gerichte muss sie die Emission des Gases Stickstoff reduzieren, das die Umwelt schädigt. Aber das ist aus heutiger Sicht nur zu schaffen, wenn die Regierung bereit ist, wirtschaftliche Aktivitäten einzuschränken.

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Die Niederlande wären schon seit Jahren verpflichtet, das Stickstoffproblem energischer anzugehen. Das Gas, das beim Autofahren, in der Industrie und in der Landwirtschaft entsteht, belastet als Ammoniak oder Stickoxid Seen und Böden. Und es zerstört die biologische Vielfalt.

Im Jahr 2019 entschied das höchste Verwaltungsgericht des Landes (Raad van State), dass die Natur in manchen Regionen in einem sehr schlechten Zustand sei. Daher müssten die Emissionen reduziert werden.

«Wir haben ein grosses Problem», sagt der Ministerpräsident

Trotz dem Urteil sind die Niederlande das Problem nur halbherzig angegangen, etwa indem die Regierung 2020 tagsüber ein Tempolimit von 100 km/h auf den Autobahnen verfügte.

Die zögerliche Haltung rächt sich nun, denn der Raad van State macht Druck. Besonders ein Urteil vom Dezember hat in der Politik und in der Wirtschaft eine Schockwelle ausgelöst.

Unternehmer müssen beim Stickstoffausstoss Obergrenzen befolgen. Hatten sie die Limiten bisher nicht ausgeschöpft, durften sie sich diese anrechnen lassen.

Ein Landwirt beispielsweise konnte einen zusätzlichen Stall bauen, wenn aus früheren Eingaben noch ein «Stickstoffguthaben» vorhanden war. Gemäss dem Urteil vom Dezember geht das aber nicht mehr. Jedes Projekt braucht eine neue Bewilligung, zudem wirkt das neue Urteil bis 2020 zurück.

Das bedeutet, dass die Unternehmen für vergangene und künftige Projekte Bewilligungen einholen müssen. Die Ämter dürfte das überfordern. Viele Bauvorhaben werden sich wohl verzögern, wenn sie überhaupt in Angriff genommen werden. Zudem herrscht in den Niederlanden nun die Furcht, dass weniger Wohnungen erstellt werden und sich die Knappheit verschärft.

«Wir haben ein grosses Problem», sagte der niederländische Ministerpräsident Dick Schoof vor wenigen Tagen. «Die Niederlande dürfen nicht zum Stillstand kommen.»

Am Mittwoch hat sich die Lage nochmals zugespitzt. Ein Gericht der ersten Instanz hiess eine Klage der Umweltorganisation Greenpeace gegen den Staat gut. Die Richter verpflichteten die Regierung, beeinträchtigte Naturgebiete rascher wiederherzustellen als geplant.

Die Regierungskoalition ist uneins

Schoof schätzt die Lage mittlerweile so dramatisch ein, dass er vergangene Woche einige Minister in ein eigens gebildetes Komitee berufen hat. Es soll Lösungen suchen für das Stickstoffproblem, ohne aber der Wirtschaft schweren Schaden zuzufügen.

Einen Konsens zu finden, dürfte schwierig werden. Das hängt mit der Zusammensetzung der regierenden Vier-Parteien-Koalition zusammen. Ihr gehören die rechtspopulistische Partei für die Freiheit (PVV) an, die dem Umweltschutz keine Bedeutung beimisst, und die Bauern-Bürger-Bewegung (BBB), deren Gründung 2019 auf Bauernproteste zurückgeht. Diese hatten sich gegen den Plan der Regierung gerichtet, den Viehbestand stark zu reduzieren, um so das Stickstoffproblem in den Griff zu bekommen. Die Regierung schreckte vor strikten Massnahmen dann jedoch zurück.

Nach wie vor wäre es naheliegend, den Hebel bei der Landwirtschaft anzusetzen. Auf sie entfällt rund die Hälfte der Stickstoffemissionen. Die Bauern betreiben seit Jahrzehnten eine Hochleistungs-Landwirtschaft. Im vergangenen Jahr exportierte das dichtbesiedelte Land Agrargüter für 83,4 Milliarden Euro. Dieser Wert ist dreimal so hoch wie derjenige, den die Schweiz mit dem Uhrenexport erzielt.

Jahrzehntelang hatten Politiker und kreditgebende Banken die Landwirte dazu angestachelt, möglichst effizient zu wirtschaften – das heisst: in möglichst grossen Mengen.

Die Politik fürchtet die Wut der Bauern

Heute sind es aber ausgerechnet die Finanzinstitute, die von den 50 000 Bauernbetrieben eine ökologische Neuausrichtung verlangen. Sie befürchten, Landwirte als Schuldner zu haben, die aufgrund schärferer Umweltgesetze nicht mehr in der Lage sind, genug Geld zu verdienen, um die Kredite zu bedienen.

Die Politik dagegen will es sich mit den Landwirten nicht verscherzen. Denn die Bauernproteste könnten jederzeit wieder aufflammen. Deshalb reagiert die Regierung auch eher ratlos auf die Urteile. Er wisse nicht, ob der Flughafen Amsterdam-Schiphol nun noch zusätzlich schrumpfen müsse, sagt der Infrastrukturminister Barry Madlener, welcher der PVV nahesteht.

Diese Partei war es allerdings auch, die in den Koalitionsverhandlungen vor einem Jahr darauf gedrängt hatte, die Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen wieder zu lockern. Auf drei Streckenabschnitten darf man ab Mitte Jahr voraussichtlich auch tagsüber wieder 130 km/h fahren.

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