Dienstag, Oktober 8

Die harte Selektion in der 6. Klasse wird von zahlreichen Fachleuten kritisiert. In den Kantonen Zürich und Luzern steht deshalb die Abschaffung des sechsjährigen Gymnasiums zur Diskussion.

Es hat eine Weile gedauert, bis der Sprengsatz gezündet hat. Im Frühjahr dieses Jahres lancierten die Schweizer Schulleiter eine Diskussion, welche die Emotionen hochkochen lässt. «Die Selektion in der sechsten Klasse muss abgeschafft werden», erklärte der Präsident des Verbandes Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH), Thomas Minder, in der «NZZ am Sonntag». Spätestens in der 5. Klasse, wenn die Gymiprüfung ansteht, steige der Druck auf die Kinder enorm. Der Stress bei Schülern, aber auch ihren Eltern und Lehrpersonen sei enorm, so Minder.

Mit dieser Haltung vertritt er die Mehrheit der Schulleitungen aus der ganzen Schweiz, wie eine Umfrage unter den Mitgliedern des VSLCH ergeben hat. 55 Prozent der Schulleitungen sind demnach dafür, dass alle Kinder vom Kindergarten bis zum Ende der Oberstufe zusammenbleiben. Nun hat die Alternative Liste (AL) des Kantons Zürich diesen Steilpass aufgenommen und fordert in einer kürzlich eingereichten Motion die Abschaffung des sechsjährigen Langzeitgymnasiums. Derzeit kennen neben Zürich noch neun weitere Deutschschweizer Kantone dieses Modell.

Chancengleichheit nicht gewahrt

Die AL sieht durch das Langzeitgymnasium die Chancengerechtigkeit für die Schülerinnen und Schüler verletzt. Mit dem 2023 in Kraft gesetzten Prüfungsreglement werde der Übertritt von der sechsten Primarklasse ins Langzeitgymnasium zusätzlich erschwert und der Druck auf zwölfjährige Kinder noch steigen. Seit dem letzten Jahr ist beim Übertritt von der 6. Primarklasse inklusive Vornoten ein Durchschnitt von 4,75 nötig. «Unterschiedliche Studien zeigen, dass die Selektion aus neurologischer Sicht zu früh und zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt erfolgt, nämlich dann, wenn die Kinder in die Pubertät kommen», hält die AL fest.

Diese Selektion führe zu einer Diskriminierung von sozioökonomisch benachteiligten und fremdsprachigen Kindern. Es sei eine Tatsache, dass Kinder von Eltern, die studiert haben, überdurchschnittlich oft ins Langzeitgymnasium wechseln würden. Notwendig sei jedoch die Schaffung einer Gesamtschule.

Auch im Kanton Luzern wird derzeit über die Zukunft des Langzeitgymnasiums diskutiert. Dort sind es neben den Schulleitern auch Wirtschaftsvertreter, die diesem Modell zunehmend kritisch gegenüberstehen, wie die «Luzerner Zeitung» berichtete. Das Gewerbe befürchtet, dass das Gymnasium weiter an Attraktivität gewinnt und durch die frühe Selektion zunehmend der Nachwuchs für die Berufslehre fehlt.

Im Kanton Zug wird das Modell des Langzeitgymnasiums zwar nicht grundsätzlich infrage gestellt, auch hier wächst die Unzufriedenheit. Nachdem die gymnasiale Maturitätsquote in den letzten Jahren stetig gestiegen ist, wollen der zuständige Regierungsrat Stephan Schleiss und der kantonale Erziehungsrat neu eine Gymiprüfung einführen. Bisher genügten eine gute Vornote und eine Empfehlung der Lehrperson, um den Sprung ins Langzeitgymnasium zu schaffen.

Der Vorschlag ist höchst umstritten. Viele Zuger befürchten, dass mit diesem Prüfungselement «Zürcher Verhältnisse» drohen. Dass also nur noch Schüler eine Chance haben, ins Langzeitgymnasium zu kommen, wenn sie sich mit viel Geld und Aufwand – sprich: mit ausserschulischen Lernkursen – für die Gymiprüfung vorbereiten.

Ein vehementer Gegner des Langzeitgymnasiums ist Filippo Leutenegger. Für den Vorsteher des Stadtzürcher Schul- und Sportdepartements läuft das heutige Langzeitgymi in die falsche Richtung. Er bezieht Stellung in der zurzeit von der Alternativen Liste lancierten Diskussion. «Durch den Run aufs Gymnasium wird die Sekundarschule als Ganzes geschwächt», sagt Leutenegger auf Anfrage der NZZ. «Für den dualen Bildungsweg und die Lehrberufe richtet die zunehmende Selektion langfristig Schaden an.»

Aus seiner Sicht ist die zu frühe Selektion für Kinder, Eltern und Schule eine zunehmende Belastung. «Die Kinder verpassen die Möglichkeit, Schnupperlehren in den Betrieben zu absolvieren, und schon in der fünften Klasse fängt für viele Kinder der Stress an», erklärt Leutenegger. Am liebsten würde er das Langzeitgymnasium wie in anderen Kantonen ganz abschaffen und den Eintritt ins Gymi zeitlich in die Sekundarschule verschieben. Sollte dies nicht möglich sein, würde er das Langzeitgymnasium stark reduzieren und den schulischen Überfliegern vorbehalten.

Filippo Leutenegger ist auch Präsident der Zürcher FDP, die sich nachdrücklich hinter die Beibehaltung des Langzeitgymnasiums stellt. «Ich bin mir bewusst, dass ich in dieser Frage eine andere Haltung vertrete», sagt der Stadtzürcher Schulvorsteher. «Doch es handelt sich nicht um eine politische Frage, sondern eine pädagogische. Das zeigt mir, dass viele Fachleute meine Einschätzung teilen.» Entscheidend sei, dass «unser weltweit einmaliges duales Bildungssystem mit einer Aufwertung der Sekundarschule künftig gestärkt und nicht geschwächt» werde.

Sein Parteikollege Marc Bourgeois, der in der Bildungskommission des Zürcher Kantonsrats sitzt, hält gar nichts von einer Schwächung des Langzeitgymis. «Würde man das Langzeitgymnasium abschaffen, würde man den begabten Schülern einen Weg versperren, der sie ans Ziel bringt. Auf dieses Angebot sollten wir nicht verzichten.» Das Schweizer Schulsystem sei in den letzten Jahren viel durchlässiger geworden. Diese Vielfalt an Möglichkeiten gelte es zu erhalten. Laut Bourgeois denkt ein grosser Teil der FDP-Fraktion ähnlich.

Geringe Unterstützung

Bourgeois hält nichts davon, dass alle Kinder vom Kindergarten bis zum Ende der Oberstufe in der gleichen Klasse zusammen unterrichtet werden. Dieses Modell würde nur zu einer Nivellierung nach unten führen. Bourgeois, der selber ein Kind in der 5. Klasse hat, widerspricht auch dem Argument, dass der Druck auf dieser Stufe zu gross sei. Der Druck komme sowieso. «Wenn ein Schüler es in der Sekundarstufe II immer noch nicht geschafft hat, wird er umso grösser», ist er überzeugt.

Die Diskussionen um die Langzeitgymnasien sind keineswegs neu. Einige Kantone wie der Thurgau oder Solothurn haben diese Schulform in den vergangenen Jahren denn auch abgeschafft. Doch dort, wo das Langzeitgymnasium eine lange Tradition hat, sind die Angriffe jeweils nach kurzer Zeit wieder versandet. Dies könnte auch diesmal der Fall sein. Im Zürcher Kantonsrat haben ausschliesslich AL-Vertreterinnen und -Vertreter die Motion unterzeichnet.

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