Montag, November 25

Dank Stars wie Burna Boy und Wizkid hat die afrikanische Pop-Musik die internationalen Charts erobert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei auch der Einfluss der afrikanischen Diaspora in Europa und den USA.

Man hört sie überall. Sie schallen aus Autoradios und Friseursalons, Coffee-Shops und Shisha-Bars und bringen die Leute an Grillpartys ebenso zum Tanzen wie in mondänen Klubs: süssliche Gesänge über galoppierenden Rhythmen, kurzum: Afrobeats aus Afrika und insbesondere aus Nigeria.

In den letzten zehn Jahren hat der Sound von Lagos aus die globale Pop-Kultur erobert. Der Hype dominiert die Radiostationen, DJ-Pulte und Streaming-Plattformen. Junge Menschen, die das westafrikanische Land auf der Weltkarte kaum finden könnten, singen heute die Refrains von Wizkid, Davido oder Ayra Starr mit, obwohl mitunter in Yoruba und Pidgin-Englisch gesungen wird. Und sie schauen sich auch die entsprechenden Videos «made in Lagos» an, wo nichts zu sehen ist von Armut, Krieg und Elend. Stattdessen werden verschwenderische Partys und stilvolle Romanzen gezeigt.

2021 schrieb Wizkids «Essence» Geschichte: Als erster Song aus Nigeria gelang ihm der Sprung in die amerikanischen Billboard-Top-100. Kurz danach erklomm CKays «Love Nwantiti» gar die Nummer drei der britischen Charts, während das von Rema und Selena Gomez Ende 2022 veröffentlichte «Calm Down» bis heute allein auf Youtube knapp eine Milliarde Klicks gesammelt hat.

Polierte Sounds, komplexe Rhythmen

Wie konnten sich die Afrobeats innerhalb kurzer Zeit international durchsetzen, während sich vorige Generationen afrikanischer Künstler vergeblich darum bemühten? Angeblich hatte der Begriff «Afrobeats» – nicht zu verwechseln mit Fela Kutis «Afrobeat», einem Jazz-Funk-Gebräu aus den 1970er Jahren – seine Ursprünge in den Londoner Klubs, wo Partygänger mit nigerianischen und ghanaischen Wurzeln den Sammelbegriff für die Pop-Musik ihrer Herkunftsländer prägten: moderne, polierte Sounds über komplexen afrikanischen Rhythmen.

CKay - Love Nwantiti Remix ft. Joeboy & Kuami Eugene [Ah Ah Ah] [Official Music Video]

«Was die Welt heute Afrobeats nennt», erklärt Buki Sawyer, die PR-Managerin von Stars wie Burna Boy, per Video aus Lagos, «ist eigentlich eine Fusion vieler Stile. Letztlich bezeichnet es ganz einfach unsere Pop-Musik – im Gegensatz zu europäisch-amerikanischer Pop-Musik.»

Nigeria habe nicht zufällig die Tür in die globalen Charts aufgestossen: Bei 300 Millionen Einwohnern habe das Land eine der höchsten Migrationsraten weltweit. Gut zwei Millionen Emigranten liessen sich jährlich im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten nieder. «Wenn sie Heimweh haben und gute Musik aus der alten Heimat hören, dann schaffen sie einen Auswärtsmarkt dafür.» So gebe es in London oder New York eine grosse Afrobeats-Fanbase, die auch offen sei für Fusionen von Afrobeats mit anderen westlichen Pop-Strömungen.

Den weltweiten Durchbruch erlebte das Genre 2022, als Burna Boy für sein Album «Twice as Tall» den Grammy für das beste World-Music-Album gewann. Vielleicht auch deshalb, weil der lange in London lebende Nigerianer Spuren von Fela Kuti in die eskapistischen Herzensbrecher- und Schlafzimmerlieder trug.

Aber Burna Boy, der auch gesellschaftliche Kritik in seinen Songs ausdrückt, hat es eigentlich geschafft, aus dem Ghetto sogenannter World Music auszubrechen – es handelte sich um einen Begriff aus den 1980er Jahren, mit dem nichtwestliche Musik vermarktet wurde. Afrikanische Musikerinnen und Musiker wie Angélique Kidjo, Oumou Sangaré oder Salif Keita wurden damals aus dem Pop ausgegrenzt, um zu Galionsfiguren exotischer Traditionen stilisiert zu werden.

Eine neue Strategie

Die Afrobeats hingegen sind heute Teil der internationalen Pop-Szene, ihre Hits entsprechen internationalem Produktionsniveau. «Was uns von früheren Generationen afrikanischer Musiker abhebt, ist vor allem die strategische Herangehensweise», erklärt Sawyer. «Wir haben Business- und Talent-Manager, Rechtsanwälte, Marktforscher und PR-Leute, die alle daran arbeiten, dass Afrobeats nicht in der World-Music-Kiste landet.» Es gehe dabei vor allem darum, den amerikanischen Markt zu knacken – das Tor in eine globale Karriere. «Als ich zuerst in die USA kam, dachten manche Amerikaner noch, wir Afrikaner lebten auf Bäumen.» Buki Sawyer lacht laut auf. «Und nun schallt unsere Pop-Musik aus ihren Kinderzimmern.»

Zum Erfolg des Afrobeats beigetragen haben auch Kollaborationen mit westlichen Stars. Das fing 2015 mit Drakes Feature für Wizkid in seinem Hit «One Dance» an. Und Beyoncé lud für «Don’t Jealous Me» die Afrobeats-Stars Tekno, Yemi Alade und Mr Eazi ein. Buki Sawyer sieht inzwischen eine Verschiebung der Machtbalance in Richtung Afrika. «Heute sind es meist westliche Stars, die eine Kollaboration mit einem nigerianischen Sänger oder Produzenten suchen. Sie wollen sich auf diese Weise gegen die Konkurrenz absetzen.» Früher seien von amerikanischen Labels vor allem jamaicanische Dancehall-Stars eingeladen worden. Heute gehe nichts über einen Afrobeats-Remix.

Heute lernen junge Musikfans ihre Lieblingssongs vor allem über soziale Netzwerke und Streamingdienste kennen und überspringen dabei geografische und sprachliche Barrieren. So könnten sich die Musiker – vorbei an den ehemaligen Gatekeepern der Szene – direkt an ihre Fans wenden. Plattenfirmen haben ihr Geschäftsmodell längst geändert: Heute werden sie vor allem noch gebraucht, um ihren Künstlern den Weg in die «Neue Songs der Woche»-Playlists von Apple, Spotify und Amazon zu ebnen. Und so die weltweite Hysterie für den Pop aus Afrika am Laufen zu halten.

Wichtig für Teenager sind auch die sogenannten Tiktok-Dance-Challenges. Es sind Tanzvideos zum Mitmachen: Kaum sind sie online, schwenken Teenager in Seoul, Tokio, Zürich und Kapstadt im Gleichtakt die Hüften. Oder sie erfinden eigene Moves: Als der Hit «Love Nwantiti» des Singer-Songwriters CKay global die Charts stürmte, posteten Tiktok- und Instagram-Benutzer bereits 2019 wöchentlich bis zu 10 Millionen Videos mit tänzerischen Interpretationen des Songs.

Jenseits der Betrügerei

Was aber bedeutet diese neue Sichtbarkeit für die kulturelle Identität der Nigerianer? Wie ändert sie das Fremdbild, das in letzter Zeit durch Betrugsversuche im Internet gelitten hat? Buki Sawyer kann sich über diese Frage in Rage reden. «Wir Nigerianer gelten für viele im Westen immer noch als eine Nation von Internet-Betrügern. Aber fast niemand hat etwas mit 419 am Hut.» «419» – die Zahl meint einen Paragrafen des nigerianischen Strafgesetzbuchs, der jene Betrugsmails unter Strafe stellt, die den Empfängern Millionen Euro für einen Bruchteil von Spesen versprechen.

Die Afrobeats repräsentieren ein ganz anderes Nigeria: eine Gesellschaft von Aufsteigern – unter ihnen nicht wenige Studenten und Studentinnen, die an britischen und amerikanischen Universitäten mit Bestnoten abschliessen. Tatsächlich gehört die neue afrikanische Pop-Musik in eine Kultur des Aufbruchs, die auch Literaten, Künstler, Fashion-Designer sowie den weltweit zweitgrössten Filmmarkt hervorgebracht hat.

Letztlich seien die Afrobeats auch ein Mittel gegen uralte kolonialistische Stereotype, findet Buki Sawyer. «In den letzten fünf Jahren interessieren sich die Menschen plötzlich für Nigeria: Sie probieren unsere gesunde Küche. Sie kopieren unsere Mode. Sie wollen mehr über unsere ethnischen Yoruba- oder Ibo-Traditionen erfahren. Und das alles aus Liebe zu unserer Pop-Musik.»

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