Mittwoch, April 30

In der Welt, die Mareike Fallwickl schildert, leiden alle Menschen – offen oder uneingestanden – an Überforderung. Die österreichische Schriftstellerin taucht im Roman «Und alle so still» in die Abgründe des kapitalistischen Systems ein.

Wie Mareike Fallwickl in der Danksagung zu ihrem neuen Roman schreibt, kam ihr die Idee dazu schon, als sie an ihrem letzten, «Die Wut, die bleibt», sass. Sie wollte das «Motiv der Verweigerung» literarisch umsetzen, und nach längeren Recherchen liegt das Ergebnis nun vor: «Und alle so still».

Eine Woche umfasst die Handlung des Romans. Eine Woche, in der die Welt aus den Fugen gerät und alles, was das gesellschaftliche System bislang zusammenhielt, zu kollabieren droht. Drei Figuren, zwischen denen sich nach und nach Verbindungen offenbaren, stehen im Mittelpunkt des Geschehens.

Da ist die junge Elin, die im Wellnesshotel ihrer Mutter lebt, sich die Zeit damit vertreibt, ihre 1,2 Millionen Follower in den sozialen Netzwerken zu befriedigen, und sich wahllos mit Männern zum schnellen Sex trifft. Da ist Nuri, knapp zwanzig, der noch auf den ersten Geschlechtsverkehr wartet, es bei seinen Eltern nicht mehr aushält und sich als Barkeeper, Pizzabote, Hilfspfleger und Möbelpacker mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, um finanziell halbwegs über die Runden zu kommen. Da ist Ruth, eine sich in der täglichen Care-Arbeit aufreibende Krankenschwester, die vor vielen Jahren ihren behinderten Sohn verlor und nun als Chorsängerin in der Musik Erfüllung findet.

Erhalterinnen eines maroden Systems

Fallwickl erzählt abwechselnd aus den unterschiedlichen Perspektiven dieser Figuren und anhand der beiden Stimmen «Die Pistole» und «Die Gebärmutter», die zum einen auf drohende Gewaltausbrüche hindeuten und zum anderen historische und statistische Informationen liefern.

In der Welt, die Fallwickl schildert, leiden alle Menschen – offen oder uneingestanden – an Überforderung. Vor allem die Frauen sind es, die mit ihrem selbstlosen, oft schlecht bezahlten Einsatz das marode System am Leben erhalten. Selbst Elin, die Internetikone, kommt mit den Hassreden, die ihr entgegenschlagen, kaum noch zurecht. «Was tagsüber mit ihr im Netz passiert», kriecht nachts «zu ihr unter die Decke». Elin löscht ihren Account, sie hat ohnehin andere Sorgen: Einer ihrer Sexpartner hat heimlich sein Kondom abgestreift, so dass Elin befürchtet schwanger zu sein.

Die Stärke dieses Romans liegt darin, dass Mareike Fallwickl sich in soziale Milieus begibt, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten vorkommen. Sie lässt sich auf den Krankenhausalltag ein, zeigt sich aufreibende Pflegekräfte, die in den unterbesetzten Kliniken das Elend verwalten und die Feuerwehr rufen müssen, um gestürzten, schwergewichtigen Patienten aufzuhelfen, und sie beschreibt kalte Manager, die nur den Profit im Auge haben. Ebenso anschaulich schildert die Autorin die demütigende Ausbeutung, die die Bringdienste ihren überforderten Mitarbeitern zumuten. Noch ehe ein Job erledigt ist, wartet der nächste – eine fatale Spirale.

Fallwickl belässt es nicht dabei, in die Abgründe des kapitalistischen Systems einzutauchen. Die Österreicherin will dem etwas entgegensetzen, sie will ihrem Text eine Utopie einschreiben, die von einem eindeutigen «So geht es nicht weiter!» ausgeht. Irgendwann nämlich verweigern sich die unter einem «kollektiven Burn-out» leidenden Frauen und streiken auf ganz besondere Weise: Sie legen sich, im Krankenhaus oder auf öffentlichen Plätzen, auf den Boden und signalisieren, dass mit ihnen nicht mehr zu rechnen ist. Die Bewegung weitet sich aus. Frauen tun sich zusammen, bilden – in Ruths ererbtem Häuschen zum Beispiel – Solidargemeinschaften, wohingegen der Staat hilflos mit einem «Verbot der Arbeitsniederlegung» reagiert.

Kein Vertrauen in den Leser

Das grosse Dilemma von «Und alle so still» liegt darin, dass Mareike Fallwickl nicht auf ihre erzählerischen Qualitäten vertraut, es nicht für aussagekräftig genug erachtet, Einzelszenen für sich sprechen zu lassen, und ihre Leserinnen und Leser nicht ihr eigenes Urteil bilden lässt. Stattdessen kommentieren ihre Figuren, baut Fallwickl Betrachtungen in den Plot ein, die besser in einen engagierten Essay gepasst hätten, und reiht einen gutgemeinten, aber hölzernen Dialog an den anderen.

Kulminationsfigur ist dabei Nuri, der – da auch Männer Opfer des rabiaten Systems sind – als verständnisvoller Mann zu agieren hat und ständig Kanzelsätze wie «Die Frauen befreien sich seit Jahrhunderten, sie lernen, entwickeln sich weiter, emanzipieren sich, und die Männer machen nicht mit!» von sich gibt. Solche deklamatorischen Passagen sind ein literarischer Offenbarungseid, und so hört man am Ende der Erzählstimme nur noch resigniert zu, wenn sie Handlungsanweisungen formuliert: «Wenn es noch eine Zukunft gibt, dann nur durch Gemeinsamkeit. Denn es ist wahr, und es führt kein Weg daran vorbei. Menschen brauchen Menschen.»

Es genügt nicht, wenn Autoren in ihren Romanen wichtige Themen anpacken. Sie müssen ästhetische Mittel für deren Darstellung finden und dürfen ihre Protagonisten nicht zu meinungsstarken Pappfiguren degradieren.

Mareike Fallwickl: Und alle so still. Roman. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2024. 368 Seiten, Fr. 34.90.

Exit mobile version