Sonntag, November 24

Am Grossen Tschingelhorn im Kanton Glarus sind mehr als 10 000 Kubikmeter Gestein niedergegangen. Fast zwei Wochen lang blieb der Felssturz unbemerkt.

Die Tschingelhörner in der Glarner Tektonikarena Sardona gehören zum Weltnaturerbe. Dank dem Martinsloch ist die Bergkette weltbekannt. Dort ereignet sich zweimal im Jahr ein Naturschauspiel, das viele Schaulustige anzieht: Im Frühling und im Herbst scheint der Lichtstrahl der aufgehenden Sonne hier genau eine Minute lang durch das natürliche Felsenfenster.

Künftig blicken die Beobachter jedoch auf ein verändertes Panorama. Das Grosse Tschingelhorn, schräg über dem Martinsloch, wirkt seit einigen Tagen schlanker. Wenige Tage nachdem die Sonne am 30. September durch das Martinsloch schien, kam es auf dem Gipfel zu einem Felssturz. Laut ersten Schätzungen des ortsansässigen Vereins Welterbe Sardona sind mindestens 10 000 Kubikmeter Gestein sowohl auf der Glarner als auch auf der Bündner Seite ins Tal gestürzt.

Felssturz war im Tal nicht zu hören

Laut dem Welterbe-Geologen Thomas Buckingham passierte der Felssturz am 3. Oktober um 9 Uhr 46. Das würden Daten des Schweizerischen Erdbebendienstes zeigen, die den Felssturz zum besagten Zeitpunkt mit einer Messgrösse der Stärke 2,2 erfasst haben. Trotzdem blieb er tagelang unbemerkt.

Erst als Einwohner der Gemeinde Glarus Süd Tage später feststellten, dass der Berg plötzlich anders aussehe, wurde der Felssturz registriert. Der Verein «Unesco Welterbe Tektonikarena Sardona» bestätigte dies schliesslich am Dienstagabend nach einem Reko-Flug des Kantons Glarus – fast zwei Wochen nachdem die Felsen niedergingen.

Die betroffene Abbruchstelle ist laut Buckingham vom Tal aus kaum sichtbar. «Der Ton des Aufpralls wurde wohl über die vorgelagerten Berge geleitet und erreichte das Siedlungsgebiet nicht direkt.» Es sei deshalb wenig erstaunlich, dass der Niedergang auch aufgrund des bedeckten Wetters tagelang unbemerkt blieb. «Dort oben gibt es weder Infrastruktur noch sind Menschen bei Schlechtwetter unterwegs», sagt Buckingham.

Naturereignisse lockern die Gesteine auf

Doch was bedeutet es für das Gebirge, wenn plötzlich über 10 000 Kubikmeter Fels abstürzen? «Es ist ein riesiges Volumen. Ein solcher Felssturz kommt in der Schweiz nicht jeden Tag vor. Für uns ist ein solch gewaltiger Felssturz ein grosses Ereignis», sagt Buckingham. Im Vergleich zum Gesamtvolumen des Gebirges handelt es sich aber um eine kleine Menge. «Die Verwitterung und der Abtrag von Gesteinen ist ein fester Bestandteil der Gebirgsbildung.»

Im betroffenen Gebiet kommt es laut Buckingham immer wieder zu Felsstürzen. Das Bergmassiv besteht aus dem sandigen Schiefergestein, dem sogenannten Verrucano-Gestein. Dieses ist für seine Instabilität bekannt. «Das Gestein gerät regelmässig ins Rutschen und Stürzen», sagt Buckingham. In den vergangenen zwanzig Jahren ereigneten sich verschiedene ähnliche Vorfälle. So gab es unter anderem 2007 beim Kärpf und 2022 beim Piz Dolf einen grossen Felssturz.

Naturereignisse wie Erdbeben, starker Niederschlag oder anhaltender Regen können die Gesteine auflockern. Der Bereich schräg über dem Martinsloch ist zudem für seine hohe Steinschlagaktivität bekannt. Was den plötzlichen Felsabsturz am Tschingelhorn ausgelöst hat, weiss man laut Buckingham noch nicht. Solche Massenbewegungen seien jedoch Teil des natürlichen Gebirgszerfalls.

Das Martinsloch werde durch die Felsstürze nicht gefährdet. Der jüngste Niedergang entlaste es vielmehr, da ein Teil des Felsens oberhalb des Lochs weggefallen sei, sagt Buckingham. Trotzdem ist das Martinsloch gegenwärtig gesperrt und für Berggänger nicht mehr erreichbar. Auch von Klettertouren und Wanderungen in der unmittelbaren Umgebung werde dringend abgeraten. In Glarus gehen sie davon aus, dass in nächster Zeit mit weiteren Abbrüchen zu rechnen ist.

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