Beim Turnier in Côte d’Ivoire zeigt sich Afrika von seiner besten Seite. Manchmal auch von seiner klischierten. Ein Besuch im Stadion.
Unten auf dem Rasen rennt sich einer der teuersten Fussballer der Welt die Seele aus dem Leib. Oben auf der Tribüne, Sektor B12, trötet der Nigeria-Fan-Block, was das Zeug hält. Unten: Victor Osimhen, Stürmer von Napoli, Star von Nigeria, Transferwert über 100 Millionen Euro. Oben: die Fans Nigerias, grün-weiss gekleidet, mit Trompeten und Trommeln, die nur in der Halbzeitpause verstummen. Es ist heiss, im Fan-Block tanzen viele trotzdem während neunzig Minuten durch, man teilt sich das Wasser.
Es ist Afrikacup, Afrikas Kontinentalmeisterschaft. Bis zum 11. Februar messen sich Afrikas Nationalmannschaften in Côte d’Ivoire, um die beste unter ihnen zu küren. Am Freitag beginnen die Viertelfinals. Die meisten Favoriten sind ausgeschieden, Nigeria ist noch dabei. Dank diesem Sieg gegen Kamerun im Achtelfinal. Nigeria – Kamerun ist ein Klassiker des afrikanischen Fussballs, «Super-Adler» gegen «unzähmbare Löwen», an diesem Abend: 2:0. Auch dank Victor Osimhen, der zwar kein Tor schiesst, aber rennt und dribbelt, immer wieder zu Fall gebracht wird und für ständige Unruhe in Kameruns Defensive sorgt.
Nach Spielende tanzt Osimhen vor der Kurve, die während Minuten seinen Namen skandiert, wie sie das schon während des Spiels getan hat. Der Stürmer, vor kurzem zu Afrikas Fussballer des Jahres gewählt, sei ein Mann auf einer Mission, schreibt eine Journalistin auf dem Nachrichtendienst X. Sie lautet: Afrika-Meister.
Der Südafrikaner schunkelt bei den Nigerianern mit
Der Afrikacup ist besonders. Das liegt nicht nur am Sport. Das Turnier bringt einen Kontinent zusammen, der in mehr als fünfzig Länder zersplittert ist, von denen viele kaum etwas gemeinsam haben. Doch alle zwei Jahre kleben in Townships in Südafrika, in hochpreisigen Bars in Nairobi und vor Garküchen in Abidjan Menschentrauben vor Bildschirmen und jubeln und leiden mit der eigenen Nationalmannschaft – oder auch mit der eines anderen Landes.
Man sieht es auf der Tribüne bei Nigeria – Kamerun. 22 000 Zuschauer sind ins Félix-Houphouët-Boigny-Stadion gekommen, benannt nach einem Präsidenten, der zu lange im Amt blieb wie viele afrikanische Präsidenten. Im Nigeria-Block schunkelt zwischen den grün-weiss gewandeten Trompetern ein Fan mit, der sich einen Anzug aus der südafrikanischen Flagge hat schneidern lassen. Ein paar Meter weiter sitzt eine junge Frau in einem Trikot von Côte d’Ivoire, in ihrem Haar steckt eine kleine nigerianische Flagge. Manche Fans, die Osimhens Namen am lautesten schreien, haben die ivoirische Flagge umgebunden.
Der Topskorer aus der dritten spanischen Liga
Der Afrikacup ist auch deshalb besonders, weil Stars wie Victor Osimhen gegen Nobodys antreten. Und die Nobodys die Stars häufig ausstechen. Der gegenwärtige Topskorer zum Beispiel heisst Emilio Nsue, er ist 34, spielt in der dritthöchsten spanischen Liga und am Afrikacup für Äquatorialguinea. Nsue (Marktwert drei Nullen weniger als Osimhen) hat fünf Tore geschossen, das sind vier mehr als Osimhen.
Das Turnier ist auch sonst voller irrwitziger Überraschungen und Wendungen. Schon in den Gruppenspielen schieden Schwergewichte wie Ghana, Algerien und Tunesien aus. In den Achtelfinals erwischte es die Turnierfavoriten Senegal, Ägypten und Marokko – das sich an der letzten Weltmeisterschaft in Katar als erste afrikanische Mannschaft für die Halbfinals qualifiziert hatte.
Dafür wuchsen vermeintliche Zwerge über sich hinaus: Allen voran die Kapverden, ein kleiner Inselstaat vor der westafrikanischen Küste. Sie gewannen ihre Gruppe souverän, räumten im Achtelfinal Mauretanien zur Seite, eine andere Überraschungsmannschaft. Im Viertelfinal treffen sie auf das alles andere als unbezwingbare Südafrika.
Dabei hatten sich Experten vor Turnierbeginn besorgt gezeigt, dass die Aufstockung von 16 auf 24 Teams der sportlichen Qualität schaden könnte. Davon spricht niemand mehr. Stattdessen sprechen viele vom besten Afrikacup aller Zeiten.
Die verrückte Geschichte des Gastgeberlands
Eine der verrücktesten Geschichten schreibt bis anhin das Gastgeberland. Côte d’Ivoire war praktisch ausgeschieden, nachdem sich die Mannschaft mit 0:4 gegen Äquatorialguinea blamiert hatte. Sie tat das vor den Augen des Premier- und des Aussenministers. Diese hatten den amerikanischen Aussenminister Antony Blinken mitgebracht, der zu Besuch weilte. Das vergrösserte die Schmach noch.
Die Stimmung in den darauffolgenden Tagen war seltsam in Abidjan, der ivoirischen Küstenmetropole und einer der modernsten Städte auf dem Kontinent. Abidjan hatte sich für die Spiele herausgeputzt. Die Stadt war orange geschmückt, der Stürmerstar Sébastien Haller lachte von allen Plakaten, doch sonst lachte niemand mehr, wenn das Gespräch auf die Nationalmannschaft kam. Taxifahrer und Barbesucher raunten Verschwörungstheorien; der nationale Fussballverband sei schuld, die Politik auch, die dafür gesorgt habe, dass nicht die besten Spieler aufgeboten worden seien, sondern die politisch genehmen. Zeitungen formulierten Durchhalteparolen: «Nach dem Schmerz – weshalb wir weiter glauben müssen.»
Und dann tatsächlich die Wiederauferstehung. Dank einem Sieg von Marokko gegen Sambia war Côte d’Ivoire plötzlich einer der besten Gruppendritten und damit doch noch Achtelfinalist. In Abidjan knallte Feuerwerk im Nachthimmel, Fans rannten mit Nationalflaggen durch die Strassen und feierten vor dem Hotel ihrer Nationalspieler, die nichts getan hatten, ausser wie der Rest der Nation vor dem Fernseher mitzuleiden. Noch im Morgengrauen gingen die Gebetsrufe der Muezzins im Lärm Vuvuzela-trötender Fans unter.
Wenige Tage später dann das nächste Delirium. Côte d’Ivoire warf im Penaltyschiessen den Favoriten und Titelverteidiger Senegal aus dem Turnier, der bis dahin den besten Fussball aller Teams gespielt hatte. Côte d’Ivoire siegte notabene ohne Trainer, denn den bisherigen hatte man nach der 0:4-Schmach entlassen. Das Team führt nun einer der Assistenten, der sich unsterblich machen könnte. Am Samstag geht es im Viertelfinal gegen Mali.
Neue Stadien, Strassen, Brücken und Tunnel
Der Afrikacup ist oft Afrika von seiner besten Seite, manchmal auch von seiner klischierten. Während der Gruppenspiele verunfallte ein Bus, der Journalisten transportierte. Mehrere von ihnen mussten verletzt ins Spital. Einer von ihnen erzählte ein paar Tage später in einer Hotelbar, gleich mehrere ivoirische Minister seien im Spital aufgetaucht. Offenbar seien diese um das Image des Gastgeberlandes mindestens so besorgt gewesen wie um die Gesundheit der verunfallten Journalisten. Ein Minister habe einem verletzten Kollegen einen Umschlag in die Hand gedrückt, mit der Bitte, doch zurückhaltend zu berichten. Darin: 100 000 CFA-Francs, umgerechnet 140 Franken.
Die Sorge der Regierung ist verständlich, sie hat für den Afrikacup viel aufs Spiel gesetzt. Sie hat für über eine Milliarde Franken neue Stadien, Strassen, Brücken und Tunnel bauen lassen. Das Ziel: Côte d’Ivoire dem Kontinent und der Welt als afrikanisches Vorzeigeland zu präsentieren. Als wenige Monate vor Beginn des Turniers ein Testspiel im neuen Nationalstadion abgebrochen werden musste, weil der Rasen überflutete, kostete das den Sportminister seinen Job.
Deshalb hat die Regierung wenig Verwendung für ausländische Journalisten, die Negatives schreiben, und eine Nationalmannschaft, die versagt. Man kann davon ausgehen, dass Präsident und Minister nach der unerwarteten Achtelfinalqualifikation so laut jubelten wie die Fans in den Strassen.
Der Trainer aus der Kolonialmacht ist weg
Auch sonst ist der Afrikacup nicht von Politik zu trennen. In Kamerun haben anglofone Separatisten die Fussballfans zu Feinden ihres Unabhängigkeitskampfs erklärt. Sie haben Fernseher und Radios gestohlen und mehrere Fans entführt und getötet. In Côte d’Ivoire war der entlassene Nationaltrainer ein Franzose; nach seiner Absetzung sagten manche: «Es konnte ja nicht gut kommen mit einem aus der ehemaligen Kolonialmacht. Höchste Zeit, dass wir uns von ihm befreit haben.» Im Viertelfinal trifft Côte d’Ivoire auf Mali, ein Nachbarland, das von Putschisten regiert wird, die gerade ihren Austritt aus der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) bekanntgegeben haben und so mit der ivoirischen Regierung brachen.
Der Afrikacup ist auch Geopolitik. Der Matchbesuch des amerikanischen Aussenministers Blinken fand in einem Stadion statt, das mit chinesischem Geld gebaut worden war – wie viele Stadien auf dem Kontinent. Bei Blinkens diplomatischer Reise ging es denn auch darum, Boden wieder gutzumachen, den die USA in Afrika an China, Russland und andere Mächte verloren haben. Blinken sprach in Côte d’Ivoire über Fussball und über islamistischen Terrorismus, der sich in der Region ausbreitet.
Es steht also viel auf dem Spiel an diesem Afrikacup. Doch der Stimmung tut dies keinen Abbruch seit der wundersamen Wiederauferstehung der Gastgeber. Nach dem Achtelfinal zwischen Nigeria und Kamerun weigern sich Fans auch eine halbe Stunde nach Spielschluss, das Stadion zu verlassen. Manche filmen sich selber mit dem Handy, andere, mit bemaltem Körper, brüllen den Namen von Victor Osimhen in die Mikrofone von Hobbyreportern, die auf Youtube streamen.
Vor dem Stadion sinkt wenig später ein Fan in Nigeria-Trikot und -Mütze auf den Asphalt und jubelt sich die Lunge aus dem Leib: «Deux-zéro, deux-zéro», jauchzt er. Weshalb er es auf Französisch tut, eine Sprache, die im englischsprachigen Nigeria kaum jemand beherrscht, ist unklar. Aber es spielt keine Rolle am Afrikacup, einem verrückten Turnier, das einen zersplitterten Kontinent zusammenbringt.