Die Grossmutter liegt im Spital. Der Chirurg fühlt sich nach der Diagnose nicht mehr zuständig. Das wird zum menschlichen wie ökonomischen Problem. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».

«Ich schicke Ihre Grossmutter morgen vom Spital nach Hause, für mich gibt es nichts mehr zu tun», verkündete der zuständige Unfallchirurg dem Enkel einer guten Freundin. Die Seniorin hatte sich bei einem Sturz einen nicht operablen Bruch zugezogen.

Auf die erstaunte Nachfrage, wie man denn das Leben zu Hause für die Grossmutter organisieren solle – sie konnte kaum laufen und noch nicht mit dem Rollator umgehen, zudem stand sie unter starken Schmerzmitteln und besass auch keine barrierefreie Wohnung –, meinte der Arzt nur ungerührt: «Das interessiert mich nicht, ich bin nicht für die Pflege alter Leute zuständig.»

Die Familie war schockiert.

Klar, der Arzt hat insofern recht, als dass er als Unfallchirurg nicht dafür zuständig ist, wie die Familie die Betreuung kranker Angehöriger organisiert. Und wenn es keine Operation gibt, muss eine Person auch nicht tagelang im Spital liegen.

Aber ist ein Arzt wirklich in gar keiner Weise dafür zuständig, wie es seinen Patientinnen und Patienten nach einem Unfall und Spitalaufenthalt geht? Wie weit sollte ärztliche Fürsorge gehen?

Die betroffene Familie kannte sich mit den medizinischen Erfordernissen nicht aus. Wie lange dauert die Heilung, was sollte die Patientin tunlichst vermeiden und was unbedingt tun? Ist eine Reha sinnvoll und wann? Fragen über Fragen.

Das ärztliche Ethos

Der Fall hat auch mich sehr betroffen und nachdenklich gemacht. Ich will nicht den Begriff ganzheitliche Medizin überstrapazieren. Und ich weiss, in einem stressigen Spitalalltag kann nicht jede Ärztin und jeder Arzt sich stundenlang Sorgen und Ängste von Angehörigen anhören.

Aber ist es wirklich zu viel verlangt, den direkt Betroffenen und ihren Angehörigen wenigstens einmal für eine umfangreichere Fragerunde zur Verfügung zu stehen? Muss man wirklich medizinische Hilfestellung so eng definieren? Vielleicht bin ich naiv, aber für mich gehört es zur ärztlichen Ethik, Ratsuchenden mit medizinischem Fachwissen beizustehen, und zwar nicht nur als Hausärztin oder Hausarzt.

Ich erwarte von einem Unfallchirurgen keine psychotherapeutische Behandlung in einer Krisensituation. Aber doch etwas Beratung. Sich um kranke Angehörige zu kümmern, verursacht eine Vielzahl von Problemen für die jeweils betroffenen Familien.

In dem hier geschilderten Fall hat die Familie das interne Hilfsnetzwerk aktiviert. Mehr als ein halbes Dutzend Verwandte haben Betreuungsmöglichkeiten gegoogelt, mit Ärzten sowie Fachleuten in Heimen oder bei Krankenkassen telefoniert, Formulare ausgefüllt. Manches wird auf Empfehlung eines Gesprächspartners organisiert, stellt sich nach weiteren Abklärungen dann aber als unnötig heraus.

Organisationsarbeit während normaler Arbeitszeit

Insgesamt kamen so in einer Woche rund 60 Arbeitsstunden zusammen. Da sich erschreckend wenig digital erledigen liess und die meisten Ansprechpartner nur tagsüber erreichbar waren, musste notgedrungen vieles während der regulären Arbeitszeiten der Angehörigen erledigt werden. Der Aufwand hat sich gelohnt: Die Dame kam vorübergehend in eine Pflegeeinrichtung, erhielt eine passende Physiotherapie und es geht ihr mittlerweile deutlich besser.

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Die Unwilligkeit des Arztes hat nicht nur Ängste und auch Wut geschürt, sondern zudem Folgekosten verursacht. Diese haben nolens volens andere Arbeitgeber übernommen oder die Selbständigen im Hilfsteam mit Verdienstausfall bezahlt. Ich hoffe jetzt, auch im Namen von Staat und Unternehmen, dass nicht alle Ärzte ihre Hilfsbereitschaft so eng definieren wie jener Unfallchirurg.

In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.

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