Dienstag, Oktober 8

In Belgien hat ein Autor eine krass antisemitische Kolumne veröffentlicht und sie als Satire bezeichnet. Der Schriftsteller Arnon Grünberg verwahrt sich gegen diese Form der Hassrede.

Am 6. August veröffentlichte das renommierte flämische Wochenmagazin «Humo» eine Kolumne des Autors Herman Brusselmans. Darin schreibt der Kolumnist über einen «weinenden und schreienden palästinensischen Jungen, der völlig verzweifelt nach seiner Mutter ruft, die unter den Trümmern liegt». Dann fügt er hinzu: «Ich werde so wütend, dass ich jedem Juden, dem ich begegne, mit einem scharfen Messer locker die Kehle durchschneiden könnte.» Und er schiebt hinterher, was zweifellos als Beschwichtigung gedacht ist, dass «nicht jeder Jude ein mörderischer Drecksack ist».

Was daraufhin geschah und immer noch geschieht, ist völlig vorhersehbar. Nachdem die European Jewish Association und die Internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus rechtliche Schritte angekündigt hatten, entschuldigte sich der Eigentümer von «Humo», die Firma De Persgroep. Die Redaktion des Magazins entfernte die fragliche Kolumne von ihrer Website, angeblich weil die jüdische Gemeinschaft beleidigt war. Die Redaktion unterstützt jedoch weiterhin den Kolumnisten und behauptet, die Kolumne sei Satire. In der Welt der Satire ist offenbar vieles erlaubt, wenn auch nicht so viel wie in der Welt der Rufschädigung.

Der stellvertretende Chefredaktor des Magazins erklärte, zweifellos um Vorsicht walten zu lassen: «Jeder, der ‹Humo› ein wenig kennt, weiss, dass es mit Sicherheit kein antisemitisches Magazin ist.» Ich selber schreibe seit vielen Jahren für dieses Magazin und kann bestätigen, dass es bis vor kurzem kaum antisemitisch war. Hingegen fällt mir auf, dass der stellvertretende Chefredaktor ein besserer Satiriker ist als der Satiriker selbst. Von nun an könnte auf der Titelseite des Magazins stehen: «Keine Zeitschrift von und für Antisemiten». Die Verkaufszahlen müssen nicht darunter leiden, denn es wird die Neugier des Lesers wecken. Wenn es nicht von und für Antisemiten ist, von wem ist es dann und für wen?

War Goebbels auch nur ein Satiriker?

Die fragliche Zeile aus der satirischen Kolumne ist als gewollte oder ungewollte Paraphrase einer Zeile aus einem Lied zu verstehen, das in den 1930er Jahren in Deutschland vor allem von SA-Männern gesungen wurde: «Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut.» Damals musste das jüdische Blut wegen des Bolschewismus und des Kapitalismus aus dem Messer spritzen, heute sind es Ereignisse in Gaza, die den geschichtsrevisionistischen Charakter der gegenwärtigen Satire hervorbringen.

Zwar wird der Massenmord an den Juden nicht geradezu geleugnet, doch versucht der Revisionismus hier in erster Linie, den satirischen Charakter alter Massaker hervorzuheben. Wenn der Wunsch, wahllos Juden die Kehle durchzuschneiden, als Satire bezeichnet wird, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass der Nationalsozialismus eine satirische Bewegung war, mit Joseph Goebbels als Minister für Satire.

Wenige Tage nach der Veröffentlichung der Kolumne trat ich nach fünfundzwanzig Jahren als Kolumnist bei «Humo» zurück. Ich schrieb den Herausgebern: «Ich bin für eine möglichst weite Auslegung der Meinungsfreiheit. Ich würde das Demonstrationsrecht von Neonazis verteidigen, aber das bedeutet nicht, dass ich mich ihrer Kundgebung anschliessen muss. Es steht Ihnen frei, den Revisionismus in Ihrer Zeitschrift herunterzuspielen und zuzulassen, aber das bedeutet nicht, dass ich an der Seite des Revisionisten veröffentlichen möchte.»

Die Reaktionen waren interessant.

Ein niederländischer Rundfunkredaktor, der mit mir über den Vorfall diskutieren wollte, meinte, ich würde überreagieren: Hatte der Satiriker seine Aussage nicht nuanciert, indem er zugab, dass es auch gute Juden gab? Ein anderer Interviewer meinte, der Vergleich mit SA-Liedern sei zu hart. Es schien, dass meine eigenen Assoziationen unangemessen waren, nicht jedoch die Mordphantasien des Satirikers.

Ein Leser schrieb mir, dass starke Kritik an Israel kein Antisemitismus sei. Viele andere Leser fragten sich, oft verärgert, wo meine Empörung über Gaza sei und ob eine etwas dumme Bemerkung, die angeblich Satire gewesen sei, schlimmer sei als 40 000 Tote in Gaza.

In der niederländischen Zeitung «Trouw» – die ironischerweise einst als Widerstandszeitung gegründet wurde – verteidigte ein Autor die Satire mit den Worten: «Der Jude, der von Brusselmans ein Messer in den Hals gerammt bekommt, existiert nicht wirklich», anders als der von Brusselmans erwähnte palästinensische Junge. Der Autor war der Meinung, dass der Leser, der durch eine Kolumne zum Mord an Juden angestiftet werden könnte, ebenfalls nicht existiert, wobei er nicht präzisierte, ob diese Leser in letzter Zeit ausgestorben sind oder ob ihre Existenz schon immer eine Lüge war. Auch hier handelt es sich um Revisionismus, der zumindest suggeriert, Antisemitismus sei kein ernstes Problem.

Verhöhnung der Opfer in Gaza

Genauso schmerzhaft wie der Revisionismus selbst ist die Verteidigung des Revisionismus. Der stellvertretende Chefredaktor von «Humo» stellte fest, dass der Satiriker wütend war, weil in Gaza viele unschuldige Menschen getötet werden. Gaza ist der Vorwand, Antisemitismus oder Verkaufszahlen sind das Ziel.

So wie manche Leute eine Louis-Vuitton-Tasche vor sich hertragen, in der Hoffnung, beachtet zu werden, stellt der Satiriker eine Tasche mit der Aufschrift «Gaza» zur Schau. In diesem satirischen Universum bedeutet Gaza nichts anderes als Louis Vuitton. Wer sich dem widersetzt, hat kein Mitgefühl für das palästinensische Leid oder nimmt die Dinge «sehr persönlich», wie mir die «Humo»-Redaktion mitteilte.

Von einem Juden wird erwartet, dass er schweigt, wenn ein Kollege davon phantasiert, einem Juden den Hals durchzuschneiden. Schliesslich handelt es sich um Satire und Engagement; die Mordphantasie ist ein Scherz und dient angeblich einem guten Zweck. Um es klarzustellen: Ich wäre auch zurückgetreten, wenn es in der Phantasie darum gegangen wäre, Muslimen die Kehle durchzuschneiden.

Gaza ist eine Katastrophe. Aber diese Katastrophe zu benutzen, um den Hass gegen Juden zu legitimieren, ist besonders beleidigend für die Opfer in Gaza. Offenbar sollen sie sich nun von Revisionisten unterstützt fühlen, die kein Massaker ernst nehmen: nicht in Gaza, nicht in Europa, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart.

Die Redaktion entschuldigte sich später in einer E-Mail bei mir für den Vorwurf, ich hätte den Vorfall zu persönlich genommen. In einem redaktionellen Kommentar in der Zeitschrift erklärte die gleiche Redaktion jedoch, der Wunsch, Juden zu ermorden, sei nichts anderes als «eine brachiale Bildsprache, ein übermässiger Gebrauch von Schimpfwörtern».

Vielleicht sollte man in Flandern den Nationalsozialismus jetzt als eine Bewegung zusammenfassen, die exzessiv Schimpfwörter verwendet hat. Wahrscheinlich wird es sogar so weit kommen. Die Realität übertrifft oft die Satire.

Hass gebiert weiteren Hass

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde der Hass auf Muslime in vielen Ländern, auch in den Niederlanden und Belgien, salonfähig. Die grösste politische Partei in den Niederlanden, die PVV von Geert Wilders, hat den Hass auf Muslime (und damit auch auf Asylbewerber und marokkanische niederländische Bürger) zu ihrem Markenzeichen gemacht.

Vor Jahren habe ich geschrieben, dass man in vielen Äusserungen nur das Wort «Muslim» durch «Jude» zu ersetzen braucht, um zu erkennen, was hier gerade passiert. Die Erniedrigung, die Demütigung und der Hass auf verletzliche Gruppen sind keine Religionskritik, geschweige denn eine Verteidigung der freien, liberalen Gesellschaft. Die Art und Weise, wie Politiker, Kolumnisten und Journalisten in Ländern wie den Niederlanden und Belgien in den letzten zwei Jahrzehnten über Muslime und Asylbewerber gesprochen haben, hat die Gesellschaft vergiftet.

Das ist nicht die einzige Ursache, aber sicherlich eine der Ursachen für den neuen Antisemitismus. Laut einem Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, der im Juli dieses Jahres veröffentlicht wurde, sind im letzten Jahr rund 96 Prozent der jüdischen Europäer mit Antisemitismus konfrontiert worden. Die Zahl der Berichte über muslimische Diskriminierung nahm in diesem Jahr ebenfalls zu, und zwar um 57 Prozent.

Der Tabubruch ist zur Norm geworden, und damit ist auch die Phantasie, Juden zu ermorden, salonfähig geworden. Man behauptet nun einfach, das geschehe wegen Gaza, und viele Leute – einschliesslich des wütenden Kolumnisten – werden diesen Hass als Engagement ausgeben wollen.

Scharfe Kritik ist möglich

Es funktioniert übrigens auch andersherum. Wäre der Satiriker islamischer Herkunft gewesen, hätten sich die Rechtsextremen auf ihn gestürzt: Sie hätten den Muslim gegeisselt und behauptet, es gehe ihnen darum, die Juden zu schützen. Aber der Satiriker war ein weisser Mann im Rentenalter, und die Leute blieben ruhig.

Was für Israel gilt, gilt auch für den Islam. Scharfe, unangenehme Kritik muss möglich sein – ob sie wirksam ist, ist eine andere Frage. Aber wo diese Kritik nur aus einer Mordphantasie besteht, aus nichts als Erniedrigung und Demütigung, aus Verallgemeinerungen, die auf Schuld durch Sippenhaft hinauslaufen, aus der Weigerung, anzuerkennen, dass der Staat Israel etwas anderes ist als «der Jude» – da beginnt die Hassrede.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben es deutlich gemacht: Wenn eine Minderheit zu einer vermeintlich legitimen Zielscheibe des Hasses wird, dann werden früher oder später auch andere Minderheiten von diesem Hass betroffen sein. Es war naiv, zu glauben, dass gewisse Texte nach dem 20. Jahrhundert in Europa nicht mehr in seriösen Magazinen gedruckt werden können. Hass macht letztlich süchtig, und wer süchtig ist, findet immer wieder neue Gründe für seinen Hass.

Arnon Grünberg ist ein niederländischer Schriftsteller und Journalist. Er lebt und arbeitet in New York. – Aus dem Englischen von rbl.

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