Donnerstag, Oktober 10

Kauen, Schmatzen, Rascheln: Die meisten Menschen nehmen so etwas kaum wahr. Wer unter Misophonie leidet, empfindet bestimmte Alltagsgeräusche hingegen als Folter. Die Forschung zu dem eigenartigen Phänomen steht erst am Anfang.

Irgendwann, in der fünften oder sechsten Klasse, fing es an. «Ich konnte plötzlich nicht mehr mit meinem Bruder in einem Zimmer schlafen», erzählt Lina Meier (Name geändert). «Seine Schlafgeräusche haben mich so gestört, dass ich die ganze Nacht wach lag.» In Schullagern war es noch schlimmer. «Ich hatte immer Angst vor dem Abend», sagt die 19-Jährige, die in der Nähe von Basel lebt. «Mit anderen in einem Raum zu sein und sie atmen zu hören, hat mich extrem gestresst. Irgendwann habe ich überallhin Ohropax mitgenommen.»

Lange Zeit wusste Lina nicht, worunter sie leidet. War es eine Phobie? Eine Zwangsstörung? Eine Überempfindlichkeit – aber gegen was genau? «Ich fühlte mich so alleine, weil mich niemand verstehen konnte», erzählt die junge Frau. Selbst beim alltäglichen Abendessen in der Familie. «Das Schmatzen meines Bruders hat grosse Wut in mir ausgelöst. Meine Mutter hat ihn natürlich in Schutz genommen, weil er in ihren Augen nichts falsch macht. Das hat das Familienleben richtig belastet.»

Eine Kinder- und Jugendpsychologin stellte schliesslich die Diagnose: Misophonie. Der Begriff setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern «misos» (Hass) und «phoné» (Geräusch) – also ein Hass auf bestimmte Geräusche. Die Forschung zu diesem Leiden steht noch ganz am Anfang. Grossangelegte vergleichende Studien fehlen bis jetzt, ebenso ein einheitlicher Diagnosekatalog. Gemeinsam ist Betroffenen, dass sie eine unkontrollierte Wut entwickeln, sobald sie ein bestimmtes Geräusch hören.

Eine Studie der University of South Florida aus dem Jahr 2014 legt nahe, dass mehr Personen davon betroffen sein könnten, als man zunächst vermuten würde. Von 483 befragten Studierenden gaben rund 20 Prozent an, «klinisch signifikante Symptome» aufzuweisen. Dass dies keine blosse Einbildung ist, konnte ein Team der Universität Amsterdam im Jahr 2019 aufzeigen. Mithilfe einer Magnetresonanztomografie (MRT) wiesen sie nach, dass im Kopf von Betroffenen tatsächlich etwas geschieht. Sobald bestimmte Reizgeräusche erklangen, zeigten Hirnareale eine erhöhte Aktivität, die für Emotionen und Hörverständnis zuständig sind. Auch eine Erhöhung der Herzfrequenz habe festgestellt werden können, schreiben die Forschenden in der Fachzeitschrift «Scientific Reports». Mit 23 Patienten und 21 gesunden Personen handelte es sich allerdings um eine sehr kleine, nicht repräsentative Testgruppe.

Was ist noch «normal»?

Als besonders unangenehm empfinden Misophonie-Patienten offenbar menschliche Geräusche: Kauen, Schlucken, Schmatzen, Atmen, Räuspern, Husten. Doch auch andere Töne – raschelnde Popcorntüten, ein tropfender Wasserhahn, das Ticken einer Uhr – können starke Reaktionen hervorrufen. Wobei sich immer die Frage stellt, ab welchem Zeitpunkt man von einer Krankheit sprechen sollte: Beim schrillen Kratzen von Kreide auf einer Schultafel oder beim lauten Schreien eines Babys zuckt wohl jeder zusammen. Aber was, wenn man sich über das Hochziehen von Nasensekret ärgert? Oder wütend wird, wenn jemand ungeniert pupst? Ist das schon Misophonie? Oder nur eine «normale» Reaktion?

«Es kommt auf den Leidensdruck an», erklärt Anne Möllmann. Die Psychotherapeutin arbeitet an der Universität Bielefeld und ist eine der wenigen Expertinnen für Misophonie im deutschsprachigen Raum. Sie berichtet von Patientinnen und Patienten, die sich selbst für ihre Wut schämen, aber diese trotzdem nicht unterdrücken können. «Mit Willenskraft gegenzuhalten, ist da einfach nicht möglich», sagt die Expertin. In Beruf und Schule könne es immer wieder zu solchen Situationen kommen, vor allem aber im häuslichen Umfeld. Bei vielen sei der Leidensdruck so gross, dass sie sich immer weiter abschotteten – obwohl sie per se gar keine ungeselligen Menschen seien.

Lina Meier, die 19-Jährige aus der Basler Agglomeration, berichtet von Campingferien, die eskalierten, wenn sie kein Einzelbett bekam. Oder von der gemeinsamen Zeit mit ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren eine Beziehung führt. «Er zeigt sich extrem verständnisvoll», sagt sie. «Aber natürlich ist es schwierig. Es stellt sich sogar die Frage, ob wir noch zusammen in einem Bett schlafen können.» Lina, die sonst sehr fröhlich und aufgeweckt wirkt, ringt nun mit den Tränen. «Ich bin eine junge Frau, eigentlich steht mir die Welt offen. Aber dann kommen immer wieder neue Trigger.»

Trigger – das sind die Geräusche, die die starken Reaktionen auslösen. Waren es bei Lina am Anfang vor allem Schmatzen und Atmen, haben sich im Laufe der Zeit weitere und andere Trigger entwickelt: das Husten der Mitschüler. Das Klicken eines Kugelschreibers. Das Zirpen der Grillen im heimischen Garten. «In Stressphasen ist es besonders schlimm», berichtet die 19-Jährige. «Während meiner Matura habe ich sogar einen Trigger auf die eigene Atmung entwickelt. Da konnte ich kaum noch schlafen.»

So wenig man bis jetzt über die Ursachen von Misophonie weiss, so schlecht scheint auch das Gesundheitssystem auf die Krankheit – die ja offiziell keine ist – vorbereitet zu sein. Lina berichtet, wie sich ihre Mutter «durch ganz Europa telefoniert» habe, um eine fachkundige Person zu finden. Die Bielefelder Psychologin Anne Möllmann kennt das Problem. «Wir können noch gar nicht genau festlegen, um welche Art von Krankheit es sich handelt und in welches Fachgebiet sie fällt. Ist es ein psychologisches oder ein HNO-Phänomen? Oder doch etwas Neurologisches?» Dementsprechend schwer fällt es Betroffenen, eine geeignete Therapie zu finden – oder überhaupt erst einmal jemanden, der sie ernst nimmt.

Fachleute sind sich uneins

Bei der Recherche im Internet stossen die meisten früher oder später auf Patrick Crauser und Andreas Seebeck aus Deutschland. Klassische (Schul-)Mediziner sind beide nicht: Crauser, 28, leidet selbst unter Misophonie und betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er sein «Misophonie-Coaching» bewirbt. Seebeck, 58, ist Heilpraktiker und hat einen Sohn, der betroffen ist. Beide haben Bücher geschrieben, und sie arbeiten zusammen, um Misophonie bekannter zu machen. «Ich wäre froh, wenn es mehr Konkurrenz gäbe», sagt Seebeck. Viele Psychologinnen und Psychologen hätten noch nie etwas von Misophonie gehört. Nicht wenige vermuteten schlimme Erfahrungen im Elternhaus als Ursache für die Qualen. Oder sie setzten auf Methoden, die nicht wirkten.

«Wir sind zehn Jahre von einem Therapeuten zum nächsten gelaufen», erzählt Seebeck. Die meisten hätten seinem Sohn geraten, Trigger-Geräusche nicht zu vermeiden. «Genau diese Konfrontation hat es aber nur schlimmer gemacht», sagt Seebeck. Misophonie sei eben keine Phobie und keine Zwangsstörung; deshalb wirkten auch die klassischen Rezepte nicht. «Es ist besser, die Trigger zu übertönen», sagt Seebeck. Da könnten schon ganz simple Dinge helfen: Musik anstellen, Kopfhörer aufsetzen, den Esstisch verlassen, sobald es unangenehm wird. Oft könne er mit Entspannungsübungen eine Verbesserung erreichen, sagt der Heilpraktiker. Aber auch er räumt er ein: «Ich kann nicht allen helfen.»

Am Universitätsspital Basel wiederum kommt die HNO-Ärztin Antje Welge-Lüssen mehrmals im Jahr mit dieser «Spielform der Geräuschempfindlichkeit» in Kontakt. Sie behandelt Misophonie-Patienten in ihrer Tinnitus-Sprechstunde, zusammen mit einer Psychologin. Dem «Übertönen» steht sie skeptisch gegenüber. «Das ist vielleicht eine kurzfristige Massnahme, um wieder gemeinsam am Esstisch sitzen zu können», sagt die Professorin. «Aber eine Person soll ja nicht ihr ganzes Leben mit Kopfhörern herumlaufen.» Stattdessen konzentriert sie sich auf Entspannung und Gegenkonditionierung. «Je jünger jemand ist, desto grösser die Erfolgsquote», sagt Welge-Lüssen. Zwei ihrer Patientinnen und Patienten könnten inzwischen wieder normal essen.

Die Betroffene Lina Meier kennt beide Welten. Sie war schon bei mehreren Schulmedizinern, hat aber auch den Heilpraktiker Andreas Seebeck in Norddeutschland aufgesucht. Demnächst hat sie ihren ersten Termin in der Tinnitus-Sprechstunde von Antje Welge-Lüssen. «Ich hatte immer extrem grosse Hoffnungen», sagt sie, «aber noch habe ich nicht die ideale Methode gefunden, die bei mir funktioniert.» Seitdem der Matura-Stress nachgelassen hat, geht es ihr wieder besser. «Ich kommuniziere meine Misophonie jetzt ganz offen», sagt die 19-Jährige. «Das hilft, denn es nimmt den Druck raus. Und im Zweifel trage ich eben Kopfhörer.»

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