Montag, November 25

Die Bundesregierung ist in einer schweren Krise und steht möglicherweise vor dem Aus. Doch automatische Neuwahlen sieht die Verfassung nicht vor. Dafür müsste Bundeskanzler Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellen.

Die deutsche Regierung befindet sich in ihrer schwersten Krise seit Bestehen. Unklar ist, ob sich die Koalitionspartner nochmals zusammenraufen können. Deshalb wird immer mehr über Neuwahlen und den Weg dorthin spekuliert.

In Deutschland kann der Kanzler nach einer Regierungskrise keine Neuwahlen ausrufen, auch nicht der Bundespräsident. Bundeskanzler Olaf Scholz kann zwar seine Minister entlassen und sich so seines liberalen Koalitionspartners entledigen. Doch sind Minderheitsregierungen instabil und haben in der bundesdeutschen Geschichte nie lange gehalten. Somit führt der einzig gangbare Weg zu Neuwahlen über die Vertrauensfrage, die der Bundeskanzler dem Parlament stellen muss.

Sollte er dabei keine Mehrheit hinter sich versammeln, kann der Regierungschef den Bundespräsidenten bitten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, wie es Artikel 68 des Grundgesetzes regelt. Eine verlorene Vertrauensfrage wäre der Beleg dafür, dass eine Bundesregierung nicht mehr handlungsfähig ist.

Der Bundeskanzler kann aber auch bewusst die Vertrauensfrage verlieren, um Neuwahlen herbeizuführen. In der bundesdeutschen Geschichte wurde dieses Verfahren letztmals von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2005 nach der innerparteilichen Kritik an seinen Arbeitsmarktreformen angewandt.

Allerdings ging Schröders Kalkül nicht auf: Bei den angesetzten Neuwahlen verloren die Sozialdemokraten die Mehrheit an die CDU. Angela Merkel wurde Kanzlerin.

«Die Verfassung ist grundsätzlich skeptisch gegenüber Neuwahlen. In Deutschland ist es nicht wie in anderen Ländern möglich, dass sich das Parlament selbst auflöst», sagt der Staatsrechtler Volker Boehme-Nessler der NZZ. Das seien Lehren aus der Weimarer Republik, weil sich dort kurz hintereinander der Reichstag mehrfach aufgelöst habe.

Vertrauensfrage als Schachzug für Neuwahlen

Insgesamt fünf Mal stellte in der Geschichte der Bundesrepublik der Regierungschef die Vertrauensfrage. Nur zweimal allerdings hatten die Bundeskanzler tatsächlich die Absicht, sich den Rückhalt der Parlamentsmehrheit zu sichern, so wie es ursprünglich im Grundgesetz vorgesehen war.

1982 liess sich der Sozialdemokrat Helmut Schmidt in einer Koalitionskrise das Vertrauen aussprechen. Allerdings wurde Schmidt noch im selben Jahr durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Bundestags von Helmut Kohl abgelöst. 2001 sicherte sich Gerhard Schröder die Zustimmung für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, den viele Sozialdemokraten und Grüne kritisierten. Es war auch das erste Mal, dass ein Kanzler die Vertrauensfrage mit einer Sachfrage verband.

In den drei übrigen Fällen nutzten die Bundeskanzler die Vertrauensfrage als Schachzug, um Neuwahlen einzuleiten: Als 1972 Willy Brandt, 1982 der gerade ins Amt gekommene Christlichdemokrat Helmut Kohl und 2005 Gerhard Schröder die Vertrauensabstimmungen verloren, war das beabsichtigt. Sie alle wollten ihre Regierung nach Koalitionskrisen mit einer Neuwahl stabilisieren. Brandt und Kohl gelang dies, Schröder scheiterte.

Die gegenwärtige Regierungskoalition aus SPD, Grünen und Liberalen steckt schon lange im Umfragetief und hätte demnach keine eigene Mehrheit mehr. Eine Vertrauensfrage würde nach heutigem Stand auch das Ende der Kanzlerschaft von Olaf Scholz bedeuten. Dies mag der entscheidende Punkt sein, warum sie von ihm noch nicht gestellt wurde.

Minderheitsregierungen sind instabil

Das Recht des Bundeskanzlers ist es, Bundesminister zu ernennen und zu entlassen. Wenn Scholz allerdings die liberalen Minister entliesse, wäre das ein Koalitionsbruch, und die Regierung hätte ihre Mehrheit im Parlament verloren. Bisher gab es vier Mal Minderheitsregierungen auf Bundesebene, die alle nur wenige Tage bis Monate hielten.

Ein weiterer Weg, Regierungskrisen zu beenden, ist das konstruktive Misstrauensvotum. Der Staatsrechtler Boehme-Nessler hält diesen Weg aber derzeit für unwahrscheinlich. Dann würde das Parlament den Kanzler stürzen und müsste sogleich einen neuen Kanzler wählen, sagt er. Um eine politische Legitimation zu bekommen, würde – wie 1982 Helmut Kohl – der Kanzler Neuwahlen ausrufen.

In der bundesdeutschen Geschichte versuchte der Bundestag zwei Mal, den Kanzler zu stürzen. Das erste Mal, im Jahr 1972, scheiterte der Christlichdemokrat Rainer Barzel bei dem Versuch, den Sozialdemokraten Willy Brandt aus dem Amt zu befördern.

Das zweite Misstrauensvotum zehn Jahre später war erfolgreich. 1982 löste Kohl den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt ab. In Artikel 67 des Grundgesetzes heisst es dazu: Nur wenn sich im Bundestag eine Mehrheit für die Wahl eines Nachfolgers findet, darf der bisherige Bundeskanzler entlassen werden.

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