Mittwoch, Januar 22

In Italien leben rund 220 000 Menschen auf winzigen Inseln. Ihr Gefühl, von Rom vernachlässigt zu werden, verstärkt sich, wenn etwa die einzige Apotheke schliesst. Sie müssen auf Menschen wie Barbara Marrocco hoffen.

Da draussen, im weiten Blau des südlichen Mittelmeers, fühlen sie sich verlassen und vergessen. «Linosa abbandonata», titelt «Agrigento Notizie», ein Nachrichtenportal aus Südsizilien, und berichtet über anhaltende Klagen der Bewohner der kleinen Insel.

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Linosa liegt ungefähr gleich weit entfernt von Sizilien wie von Tunesien und gehört zu den sogenannten Pelagischen Inseln. Die Überfahrt von Porto Empedocle in Sizilien dauert mit der Fähre etwa sieben Stunden. Die Insel ist gerade einmal fünf Quadratkilometer gross, zählt rund 400 Einwohnerinnen und Einwohner und bildet politisch eine Einheit mit Lampedusa, das rund fünfzig Kilometer weiter südlich liegt.

Während Lampedusa immer wieder als Schauplatz dramatischer Rettungsaktionen von schiffbrüchigen Migranten aus Afrika Schlagzeilen macht, macht Linosa dagegen kaum von sich reden. Im Sommer gibt es einige Touristen, die sich wegen der Naturschönheiten, der bunten Häuser und des kristallklaren Wassers dorthin verirren. Aber kaum ist der Ferragosto vorbei, wird es auf Linosa still, sehr still.

Das änderte sich vor wenigen Tagen, als die lokalen Medien über die Schliessung der örtlichen Apotheke berichteten. Die Inhaberin sei aus gesundheitlichen Gründen ausserstande, ihr Geschäft offen zu halten.

Für die Linosani ist das ein Drama. Die Insulaner sind es zwar gewohnt, um alles zu kämpfen: um regelmässige Schiffsverbindungen etwa oder um zuverlässige Postdienstleistungen. Aber dass nun auch noch die Versorgung mit Medikamenten zu einem Problem wird, ist für sie des Guten zu viel.

Schon vor Monaten mussten sie zusehen, wie der einzige Arzt auf der Insel seine Präsenz reduzierte, weil er zusätzlich ein Pensum auf Lampedusa übernehmen musste. Drei Tage die Woche arbeitet er nun auf Lampedusa, drei auf Linosa. Am Sonntag versuche er sich zu erholen, sagte der gestresste Arzt kürzlich zur «Repubblica». Dazwischen ist Pendeln angesagt. Zwei Stunden mit der Fähre oder eine gute Stunde mit dem Tragflügelboot von Insel zu Insel – wenn es der Wellengang erlaubt. Verkehren die Schiffe nicht, muss er bisweilen Hunderte von Whatsapp-Anfragen von Patienten beantworten.

Veränderte Ansprüche

Aldo Di Piazza weiss um die Sorgen der Linosani. Er ist im örtlichen Gemeinderat zuständig für das Gesundheitswesen. Ende Dezember habe er einen Brief an die Behörden in Agrigent und Palermo geschickt und diese um Mithilfe bei der Suche nach einer raschen Lösung für Linosa gebeten, sagt er am Telefon. Die Schliessung der Apotheke könne dazu führen, dass der Bevölkerung unter Umständen lebensrettende Medikamente fehlten.

Im Moment behelfe man sich mit Notlösungen. Die benötigten Heilmittel werden dieser Tage mit der Fähre nach Linosa transportiert. Doch weil der Schiffsverkehr wegen schlechten Wetters immer wieder einmal eingestellt werden muss, ist man auf die Unterstützung durch die Küstenwache angewiesen. Deren Schiffe verkehren auch bei miesen meteorologischen Bedingungen und hohem Wellengang. «Das kann keine Dauerlösung sein», sagt Di Piazza, «denn die Küstenwache kann nicht verpflichtet werden, solche Transporte zu übernehmen.»

Di Piazza hat bis zu seiner Pensionierung in der Region als Arzt gearbeitet und kennt die Lage auf den Inseln nur allzu gut. Und er weiss auch, dass sich die Ansprüche der Bevölkerung verändert haben. «Heute gehen auch viele Insulaner davon aus, dass ihnen die gleiche Versorgung zusteht wie den Leuten auf dem Festland», sagt er. Das sei früher anders gewesen. Da habe man Situationen wie die jetzige schicksalshaft akzeptiert.

Desinteressierte Politiker

Linosa steht mit seinen Problemen nicht allein da. Die Gesundheitsversorgung der kleinen Inseln Italiens ist ein Dauerbrenner. Immer wieder gibt es Meldungen über Schliessungen von Arztpraxen, Apotheken, kleinen Spitälern oder Ambulatorien – und über die gravierenden Folgen, die dies mitunter nach sich ziehen kann: verspätete Nothilfe, mangelnde Versorgung, Behandlungsfehler, ja sogar Todesfälle, die vermeidbar gewesen wären. Denn selbst die Helikopter, die für dringende Patiententransporte von den Inseln aufs Festland vorgesehen sind, müssen bisweilen am Boden bleiben, wenn die Sicht zu schlecht ist oder Gewitter aufziehen.

«Gegenüber dem Jahr 2000 hat sich die Situation sogar verschlechtert», sagt Gian Piera Usai, Generalsekretärin der Ancim. Sowohl die Leistungen als auch die Qualität der Gesundheitsversorgung hätten abgenommen. Die Ancim vertritt die 35 kleinen Inselgemeinden Italiens in der Hauptstadt und damit insgesamt etwa 220 000 Menschen, die dauerhaft auf den vielen kleinen Inseln des Landes leben.

Im letzten Herbst hat die Ancim in einer Charta einige konkrete Lösungsansätze formuliert, etwa die Weiterbeschäftigung pensionierter Ärzte, eine bessere Ausbildung des lokalen Gesundheitspersonals, die Verbesserung der Verkehrsanbindungen, die Einführung von finanziellen Anreizen für Fachleute, die bereit sind, sich auf einer der Inseln niederzulassen. Im Rahmen der letzten Budgetdebatte im Römer Parlament hat die Vereinigung zudem gefordert, einen Teil der für das Gesundheitswesen gesprochenen Gelder spezifisch für die kleinen Inseln einzusetzen.

Doch die Politik habe die Vorschläge der Ancim achtlos vom Tisch gewischt. «Vergognoso» sei das, schändlich, findet Gian Piera Usai. Dabei habe man nicht einmal mehr finanzielle Mittel verlangt, sondern lediglich eine andere Priorisierung. Andere Länder machten es besser, sagt Usai und verweist auf Frankreich, Spanien oder Griechenland, welche das Gesundheitswesen auf ihren Inseln gezielt und mit eigens zugeteilten Finanzmitteln unterstützten. Zudem verfügten diese Länder über ein kontinuierliches Monitoring, um Ungleichgewichte und Ungleichheiten bei der Zuweisung und Verteilung der Mittel zu eliminieren.

Ab auf die Insel!

Manchmal nehmen Inselgeschichten in Italien aber auch einen anderen, einen positiven Ausgang. Zum Beispiel auf Marettimo, einer zwölf Quadratkilometer grossen Insel mit etwa sechshundert Einwohnern, die vor der Westküste Siziliens liegt. Auch dort zeichnete sich die Schliessung der Apotheke ab – bis sich Barbara Marrocco entschied, ihren Lebensmittelpunkt von Palermo auf die Insel zu verlegen. Was für die Apothekerin ein persönlicher Entscheid war, war für die Insulaner ein Glücksfall. Die Apotheke war gerettet, und sie gewannen erst noch ein geschätztes Mitglied der Inselgemeinschaft dazu.

Marroccos Umzug aus der Stadt auf die Insel machte die Runde in den Medien. Sie habe hier die kleinen Freuden des Lebens wiederentdeckt, sagte die 51-Jährige zu den Reportern: den Apéritif am Strand im Januar, den Spaziergang in den Bergen bei Sonnenaufgang, den Kaffee auf der Terrasse mit Blick aufs Meer, überhaupt den gemächlicheren Lauf der Dinge.

Seit dem letzten Sommer trägt sie den Titel einer «farmacista di frontiera», einer Apothekerin im Grenzland – ein Ausdruck, in dem auch eine Spur von Abenteuerlust und Wildem Westen mitschwingt. Die Ehrung wurde ihr beim kleinen Filmfestival verliehen, das jährlich auf der Insel stattfindet.

Als wir mit Barbara Marrocco über ihre Erfahrungen reden wollen, laufen unsere Anrufe ins Leere. Möglicherweise bedient sie gerade ihre Kunden. Oder geniesst die Stille am Meer.

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