Der Kanton Luzern gilt mit seiner intensiven Landwirtschaft als «Schweine-Valley». Seit vier Jahrzehnten leiden die Seen und Flüsse daran. Initianten wollen nun, dass auch die Gewässer Rechte bekommen. Aber geht das?

Die Bürgerinnen und Bürger im Kanton Luzern könnten bald mit einer philosophischen Frage vor dem Stimmzettel sitzen: Soll es möglich sein, einen Fluss vor Gericht zu verteidigen? Ja, finden die Verfasser einer Initiative. Wenn ein Bauer oder eine Fabrik die Reuss mit Gülle oder Gift verschmutzen, wenn das Amt für Umwelt Grenzwerte für Schadstoffe nicht durchsetzt: Dann dürfe das nicht straflos bleiben.

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Der Verein Rechtsperson Reuss sammelt seit etwas mehr als einer Woche Unterschriften. In seiner Initiative steht: «Alle Gesellschaftsmitglieder, auch nicht-menschliche, sollen sich auf die Verfassung stützen und ihre Rechte vor Gericht einklagen können.»

Die Vorlage fordert, dass alle öffentlichen Gewässer im Kanton Grundrechte erhalten. Ihnen soll auch die Rechtspersönlichkeit zugesprochen werden – also der Status als Subjekt, das im Rechtssystem selber aktiv werden, sich verteidigen und klagen kann. Doch ist das für einen Fluss oder einen See überhaupt möglich?

Markus Schärli ist einer der Mitinitianten. Der 70-Jährige sagt: «Auch Unternehmen oder Vereine haben den Status als Rechtspersönlichkeit, selbst Vermögen in Form einer Stiftung – nur die Natur nicht.» Das möchte er ändern.

Die Initianten schlagen Folgendes vor: Das kantonale Parlament müsste ein unabhängiges Gremium aus Experten wie Hydrologen oder Umweltingenieuren bestimmen. Diese würden quasi als Anwälte der Gewässer amten. Sie würden überwachen, ob Normen eingehalten werden. Sie würden klagen, wenn es Verstösse gegeben hat.

Schärli ist Präsident des Vereins Rechtsperson Reuss. Er hat einen Doktortitel in Ökonomie, war SRF-Journalist und begann gegen Ende seiner Berufstätigkeit ein Rechtsstudium. Seine Bachelorarbeit schrieb er in Rechtsphilosophie zu den Rechten der nichtmenschlichen Natur. Er sagt: «Die Rechtspersönlichkeit ist die entscheidende Währung. Wer nicht über sie verfügt, hat im Rechtssystem nichts zu sagen und kommt unter die Räder.»

Gesetze werden nicht eingehalten

Denn heute ist die Situation so: Der Mensch hat Rechte, unsere Umwelt noch keine. Es gibt zwar Gesetze, um die Gewässer zu schützen. Aber auch in der Schweiz werden sie in den Augen der Initianten nicht konsequent umgesetzt.

Mit dem heutigen Bundesgesetz über den Schutz der Gewässer kann es zwar sein, dass der Kanton nach einem Fehlverhalten zum Beispiel einen Bauern büsst. «Die Strafen sind aber minim und tun kaum weh», sagt Schärli. Der Bauer verschmutze lieber weiter, als dass er teure Massnahmen treffen würde. Zudem gehe die Busse an den Staat. Damit sei nicht garantiert, dass dieser die Gelder einsetze, um die verlorene Biodiversität wiederherzustellen.

Die Initiative will über die Einzelfälle hinausgehen. Denn viel schwerer wiege die Gesamtsituation. «Es sind nicht Einzelne, die die Gewässer verschmutzen, es sind alle zusammen», sagt Schärli, «deshalb braucht es eine grundlegende Massnahme.»

Schweizer Wasser zu oft belastet

Vielerorts ist die Wasserqualität in der Schweiz bedenklich. Auf Anfrage schreibt das Bundesamt für Umwelt: «Obwohl sich die Wasserqualität in gewissen Bereichen verbessert hat, erfüllt sie die gesetzlichen Mindestanforderungen vielerorts nicht.» Pestizide aus der Landwirtschaft und Arzneimittel aus Siedlungsabwasser würden viele Bäche und Flüsse des Mittellandes und der Talebenen beeinträchtigen. «Das Grundwasser ist verbreitet mit Nitrat und Abbauprodukten von Pestiziden belastet. Deshalb kann es mancherorts nur noch eingeschränkt als Trinkwasser genutzt werden.»

Der Kanton Luzern ist ein besonderes Fallbeispiel. Nicht zufällig entsteht diese Initiative gerade hier, im sogenannten «Schweine-Valley». Rund um Sempacher-, Hallwiler- und Baldeggersee liegt die grösste Ansammlung an Schweinebauern der Schweiz. Lange lebten im Kanton mehr Schweine als Menschen. Sie bringen 1 Milliarde Umsatz jährlich, sorgen für 3500 Arbeitsplätze – und für eine belastete Umwelt.

Die Luzerner Seen ringen nach Luft. Grund dafür ist eine zu hohe Konzentration an Phosphor. Er gelangt aus den Ställen und den überdüngten Feldern übers Regenwasser in die Seen. Dort lässt er zuerst Algen übermässig wuchern. Dann sterben sie ab und entziehen dem Wasser Sauerstoff – das tötet Fischarten wie die Felchen.

Die Lage in den Seen hat sich in den letzten Jahrzehnten zwar stark verbessert, wie das Luzerner Departement für Bau, Umwelt und Wirtschaft auf Anfrage schreibt. Aber: «Sempacher-, Baldegger- und Hallwilersee erfüllen die gesetzliche Anforderung an mindestens 4 Milligramm Sauerstoff pro Liter Wasser nicht zu jeder Zeit und müssen deshalb künstlich belüftet werden.»

Und das passiert seit vierzig Jahren. Um die drei Seen künstlich zu belüften, setzte der Kanton Luzern laut SRF-Recherchen mehr als 130 Millionen Franken Steuergelder ein. Wieso?

Umweltamt gegen Lobby

Es geht um wirtschaftliche Interessen. Greift der Kanton in die Handelsfreiheit der Bauern ein? Schränkt er ihre Arbeit ein, ihre Einnahmen, um die Richtlinien im Gewässerschutz einzuhalten? Die Verbesserungen der Wasserqualität zeigen: Ja, es wird etwas getan. Aber immer noch zu wenig, finden die Initianten. «Das Amt für Umwelt untersteht einem Regierungsrat. Und dieser steht wiederum unter dem Druck von Parteien und einer starken Lobby», sagt der Initiant Markus Schärli. Deshalb würden Interessen abgewogen. Und diejenigen der Natur kämen da meistens zu kurz.

Mit der Initiative sollen die Gewässer aber im Recht «auf Augenhöhe mit dem Verursacher» angehoben werden, sagt Schärli. Die Grünen des Kantons Luzern unterstützen das Vorhaben, auch das Forum für Ethik und Ökologie, die Klimagrosseltern Zentralschweiz sowie Organisationen, die sich für die Rechte von Tieren einsetzen.

In Zeiten des Klimawandels ist die Idee aus dem Kanton Luzern nicht neu. In Neuseeland hat der Fluss Whanganui diesen Status erhalten. Auch dem Mar Menor im Süden Spaniens wurde die Rechtspersönlichkeit zugesprochen, nachdem sich 2019 und 2021 zwei Katastrophen ereignet hatten: Tonnenweise verendeten Fische. Von der umliegenden Landwirtschaft geraten zu viel Nährstoffe in die Salzlagune.

Antwort auf Schutz der Gletscher war verhalten

In der Schweiz hat bisher 2017 Lisa Mazzone, die heutige Präsidentin der Grünen, im Nationalrat ein Postulat eingereicht. Sie forderte die Rechtspersönlichkeit für die schmelzenden Gletscher. Der Bundesrat antwortete verhalten, «es würde unserem Rechtsverständnis zuwiderlaufen». Gletscher seien durch landschaftsschutzrechtliche Schonvorschriften und teilweise mittels Schutzzonen geschützt.

Ähnlich ist es für die Gewässer. Das gibt die Rechtsprofessorin der Universität Zürich Isabelle Häner zu bedenken. Ein Kanton könne wie im Fall der Luzerner Initiative «durchaus einen ‹Grundrechtsschutz› für die Gewässer vorsehen». Das gelte dann aber «einzig im Rahmen des Bundesrechts». Überall dort, wo der Bund bereits abschliessende Regelungen getroffen hat, könne der Kanton keine strengeren vorsehen, sagt Häner.

Laut der Rechtsprofessorin dürfte die Initiative bei der Umsetzung Schwierigkeiten bereiten, gerade weil sie «sorgfältig mit dem übergeordneten Recht in Einklang gebracht werden» müsste. Häner stellt auch die Frage in den Raum, wie viel Durchschlagskraft die Gewässer als juristische Person tatsächlich hätten und ob sie in einem Ernstfall bis vor Bundesgericht gelangen könnten. Das sei nur möglich, wenn der Verfassungsgeber – im konkreten Fall der Kanton Luzern – den Schutz der Grundrechte der Gewässer als staatliche Aufgabe festschreibe und eine von der Verwaltung unabhängige Behörde schaffe, welche diese Rechte einfordere, erklärt Häner.

Das sind durchaus Punkte, die die Initianten fordern. «Doch selbst dann könnte diese Behörde nur in Ausnahmefällen bis ans Bundesgericht gelangen – wenn etwa sehr wesentliche öffentliche Interessen betroffen sind. Das könnte man sich beim Bau eines Wasserkraftwerks als schweren Eingriff in das Grundrecht des Gewässers vorstellen», sagt Häner. Die Initianten hätten hohe Ziele, die sie vermutlich nicht alle erreichen würden, mutmasst die Rechtsprofessorin.

Die Grundfrage ist philosophisch. Sie ist auch idealistisch. Deshalb wollen die Initianten auch nicht vor diesen rechtlichen Hürden zurückschrecken. «Das gesamte Rechtssystem ist ein von Menschen erdachtes Konstrukt», sagt Markus Schärli. Wenn man wolle, gehe alles. Die Frage ist: Will es die Luzerner Bevölkerung?

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