Mittwoch, April 30

Bestehende Wohnsiedlungen durch grössere Überbauungen zu ersetzen, wird immer schwieriger. Das zeigt sich an einem Beispiel in Chur.

Die Wohnkolonie «Waldhaus» in Chur wirkt beschaulich. Die Siedlung auf dem Cadonau-Areal besteht aus zwölf Häuschen. Sie wurden 1945 für die Angestellten der Klinik Waldhaus gebaut und sind von viel Grün umgeben. Über der Idylle schwebt ein Damoklesschwert: Der Siedlung droht seit einiger Zeit der Abriss. An ihrer Stelle soll eine moderne Überbauung mit 125 Wohnungen entstehen.

Dagegen wehren sich Bewohner und Nachbarn. Sie haben vor dem Bündner Verwaltungsgericht Beschwerde gegen den von der Stadt Chur genehmigten Quartierplan Areal Cadonau eingelegt. Die Beschwerdeführer verlangen, dass bei der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege ein Gutachten eingeholt wird. Dies, weil die zwölf Häuschen im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (Isos) aufgeführt sind.

Das Verwaltungsgericht hat diese Forderung vor einem Jahr unterstützt. Die Denkmalpflegekommission des Bundes soll folgende Frage klären: Ist der Quartierplan, der den Abbruch der Waldhaus-Siedlung vorsieht, mit den Schutzzielen des Isos vereinbar? Diese verlangen zwar einen integralen Erhalt, sind aber je nach Umständen rechtlich nicht zwingend.

Kanton will nichts wissen von Denkmalschutz

Eigentümer der Häuschen und Parzellen in der Waldhaus-Zone ist nicht irgendwer, sondern der Kanton Graubünden. Der Kanton hat den Gerichtsentscheid angefochten. Dies aus offensichtlichem Eigeninteresse, hatte er doch erfolgreich einen Investorenwettbewerb ausgeschrieben und bereits ein Bauprojekt ausgewählt. Dieses Projekt bildet die Grundlage für den umstrittenen Quartierplan.

Bereits zwei Jahre vor der Ausschreibung des Wettbewerbs lag ein architekturhistorisches Gutachten vor. Es war von der kantonalen Denkmalpflege in Auftrag gegeben worden. Darin bestätigte die unabhängige Sachverständige Ludmila Seifert die Schutzwürdigkeit der Waldhaus-Siedlung.

Seifert empfahl, über einen qualifizierten städtebaulichen Wettbewerb die räumlich und architektonisch beste Lösung für das Areal auszuloten. Dabei sollte die Frage des Abbruchs beziehungsweise Erhalts der Siedlung grundsätzlich offengelassen werden. Allerdings sei mit dem Entscheid, ein Bieterverfahren durchzuführen, um Angebote für ein Baurecht zu erhalten, die Option Erhalt faktisch von vornherein ausgeschlossen, sagt Seifert.

Doch nun schöpfen die Bewohner neue Hoffnung. Das Bündner Verwaltungsgericht hat kürzlich die Einsprache des Kantons behandelt und endgültig entschieden: Das Gutachten der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege muss eingeholt werden. Das kantonale Hochbauamt teilte auf Anfrage lediglich mit, man akzeptiere den Entscheid.

Bewohner opponieren, wenn Isos ignoriert wird

Seit 2014 sind in der Schweiz das teilrevidierte Raumplanungsgesetz und die revidierte Raumplanungsverordnung in Kraft. Beide sehen Massnahmen gegen die allgemeine Zersiedelung vor und erschweren das Bauen auf der grünen Wiese. Die Folge ist: Die Bautätigkeit hat sich deutlich in die Zentren der Städte und Dörfer verlagert. Verdichten ist das Gebot der Stunde.

In den Zentren führten Isos-Zonen und schützenswerte Objekte besonders oft zu Konflikten, sagt Martin Killias. Laut dem Präsidenten des Schweizer Heimatschutzes sind im Isos-Inventar vor allem Kleinsiedlungen ab zehn Gebäuden in Randgebieten aufgeführt, wo es weniger Konfliktpotenzial gibt. Im Gegensatz zu den Städten, wie das aktuelle Churer Beispiel zeigt.

Neubauprojekte führen vor allem in einem Fall zu Auseinandersetzungen: Wenn die Behörden das Isos-Inventar und seine Bestimmungen ignorieren, wehren sich die betroffenen Bewohner und Nachbarn häufig dagegen.

Dies könnte auch die Ursache für die Schwierigkeiten in Chur sein. Die Kantone und Gemeinden sind gehalten, in ihrer Bau- und Zonenordnung die Isos-Vorgaben zu berücksichtigen. Bei Abweichungen im Rahmen eines konkreten Bauvorhabens müssen sie begründen, warum sie besagte Vorgaben nicht befolgen. In Chur sind vermutlich beide Bedingungen nicht erfüllt worden.

Die gleiche Ursache sieht Killias im Fall des Stadtzürcher Viertels Brunau-Laubegg. Es handelt sich um eine ältere Siedlung mit 240 Wohnungen, die im Isos-Inventar verzeichnet ist. Unmittelbar daneben will die Besitzerin der Siedlung, die Pensionskasse einer Bank, seit Jahren ein Neubauprojekt realisieren. Geplant sind 500 neue Wohnungen.

Projekte in Zürich gescheitert

Wegen Einsprachen der Laubegg-Bewohner sind bisher zwei Anläufe gescheitert. Zuerst konnten die Nachbarn mit Berufung auf schärfere Lärmschutzvorgaben das Bauprojekt verzögern. Und schliesslich hat im März dieses Jahres das Zürcher Verwaltungsgericht eine weitere Beschwerde von Privatpersonen gegen das überarbeitete Projekt gutgeheissen – wegen ungenügender Rücksichtnahme auf das geschützte Laubegg-Quartier selbst.

In Chur-Waldhaus und Zürich-Laubegg haben die Bewohner und Nachbarn die Initiative ergriffen, nicht der Schweizer Heimatschutz. Letzterer intervenierte zum Beispiel im prominenten Fall der hundertjährigen, in Isos figurierenden Stadtzürcher Siedlung Friesenberg. Dort leben rund 5700 Personen inmitten von viel Grün. Der Heimatschutz machte von seinem Verbandsbeschwerderecht Gebrauch, um den teilweisen Abbruch und Bau neuer Wohnungen zu verhindern. Mit Erfolg: Das Bundesgericht untersagte 2020 das Vorhaben.

In vielen Schweizer Agglomerationen herrscht Wohnungsmangel, insbesondere im Raum Zürich. Deshalb kommt es dort vermehrt zu Abrissen von Häusern mit wenig Wohnraum. Das betrifft auch Bauten, die schützenswert erscheinen. Hier gilt es, ein Gleichgewicht zwischen der Erhaltung historischer Bauten und dem dringend notwendigen Bau neuer Wohnungen zu finden.

Gerade in Agglomerationen scheint sich ein neuer Trend abzuzeichnen. Wenn Bewohner einer geschützten Siedlung ein geplantes Neubauprojekt bekämpfen, haben sie mit dem «Heimatschutzargument» gute Chancen vor Gericht – auch ohne das Zutun des Heimatschutzes.

Doch wie viele Gebäude stehen in der Schweiz unter Schutz? Bei grösseren Städten und Siedlungen beschränkt sich der Schutz in der Regel auf ein eng begrenztes Gebiet. Dies betrifft vor allem die Altstädte, markante Einzelbauten oder gewisse Pionierquartiere wie Friesenberg oder Laubegg in Zürich. Wenn man dies auf die Anzahl Gebäude bezieht, dann stehen nur etwa drei Prozent der Häuser im Bereich eines national geschützten Ortsbildes. Insgesamt geniessen höchstens zehn Prozent aller Bauten in der Schweiz einen Schutzstatus.

Lasche Bewilligungspraxis der Gemeinden

Durch die Verdichtung und den Bauboom in den städtischen Zentren ist der Heimatschutz heute viel stärker gefordert. Im Kanton Zürich ist laut Killias die Zahl der ausgeschriebenen Bauprojekte, die geschützte Bauten oder Ortsbilder betreffen, innert zehn Jahren von 400 auf 1200 gestiegen. Davon ficht der Heimatschutz etwas weniger als zehn Prozent an.

In diesen Fällen ist die Erfolgsquote vor Gericht relativ hoch. «Im Strafrecht haben kaum zehn Prozent der Rechtsmittel Erfolg, aber im Baurecht haben die Gerichte bis zu dreissig Prozent aller Beschwerden akzeptiert, auch von Privaten», sagt Killias, der emeritierter Rechtsprofessor ist. Das deute auf eine zu lasche Bewilligungspraxis der Gemeinden hin.

Nach Killias’ Einschätzung hat der Heimatschutz in allen Kantonen wachsenden Erfolg. Sehr aktiv sei er zum Beispiel im Tessin, wo er vor Gericht immer wieder recht bekomme. Anders verhält es sich in den Kantonen Graubünden, Wallis und Schwyz. Dort sei die Situation wegen des fehlenden Verbandsbeschwerderechts schwierig, wie die vielen realisierten Bausünden zeigten, so Killias. Besonders negativ sei die Situation im Kanton St. Gallen. Dort sei wegen des fehlenden Beschwerderechts in den letzten zehn Jahren sehr viel historische Bausubstanz zerstört worden.

Alles in allem zeichnet der Präsident des Schweizer Heimatschutzes aber ein positives Bild. Er stellt bei den meisten Behörden wie auch bei der Bauindustrie und ihren Anwälten mehr Respekt vor historischen Bauten fest. Trotz vereinzelten heftigen Konflikten ist das für ihn ein hoffnungsvolles Zeichen.

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