Mittwoch, Oktober 9


GArtenbesuch

Im späten Frühling breiten sich die Hasenglöckchen so effektiv aus, dass sich schier endlose blaue Teppiche bilden. Es ist ein Spektakel, das man vor allem in Grossbritannien entdecken kann.

Sonnenstrahlen fallen durch lichte Baumkronen, Vögel singen, es duftet süsslich, und der Waldboden ist blau. Ja, blau. Es ist ein tiefes, fast ins Violett gehende Blau. Beugt man sich hinunter, erkennt man winzige, blaue Glöckchen, Hasenglöckchen, die zu Tausenden und Abertausenden hier wachsen. Der Effekt ist überwältigend, ein Wald, der wie verzaubert wirkt. Es ist ein bisschen wie nach dem ersten Schnee, wenn eine gewohnte Landschaft plötzlich ganz neu erscheint. Nur, dass Blau deutlich ungewöhnlicher ist als Weiss.

Wer hat die vielen Glockenblumen gepflanzt? Niemand. Es gibt Wälder, in denen sich Hasenglöckchen so effektiv ausgebreitet haben, dass sie im späten Frühling schier endlose blaue Teppiche bilden. Einige findet man im äussersten Westen Deutschlands und in Belgien. Bei weitem die meisten Wälder dieser Art sind jedoch in Grossbritannien, das etwa die Hälfte der weltweiten Hasenglöckchen-Populationen beherbergt.

Niederwaldwirtschaft begünstigt das Vorkommen

Es gibt einen interessanten Grund dafür, dass Bluebells, wie die Hasenglöckchen auf Englisch genannt werden, sich auf den Britischen Inseln so wohl fühlen. Dort ist eine alte Form der Waldwirtschaft, die Niederwaldwirtschaft, die in anderen Teilen Europas in Vergessenheit geraten ist, noch recht verbreitet.

Dabei handelt es sich um eine Art der Waldbewirtschaftung, bei der fast alle Bäume in regelmässigen Abständen knapp über dem Boden abgesägt werden. Aus jedem Baumstumpf wachsen dann mehrere dünne Stämme, die nach ein paar Jahren ihrerseits wieder gefällt werden. Der Zeitraum variiert je nach Baumart zwischen sieben und dreissig Jahren.

Der Wald wird in so viele Parzellen eingeteilt, wie die Bäume Jahre brauchen, um nachzuwachsen. Dann schlägt man pro Jahr die Bäume auf einer Parzelle. Die Praxis gibt es wahrscheinlich seit der Steinzeit. Es ist eine nachhaltige Form der Holzwirtschaft, die entwickelt wurde, um die regelmässige Holzversorgung sicherzustellen und zudem möglichst gerade Stämme für Bauzwecke zu erhalten.

Die Niederwaldwirtschaft ist ökologisch von Bedeutung für die Artenvielfalt, denn sie verstärkt die Effekte der natürlichen Erneuerung eines Laubwaldes. Normalerweise fallen alte Bäume irgendwann um und sorgen so für eine Phase, in der Sonnenlicht den Waldboden erreicht. Der Zeitraum, bis sich die Lücke im Blätterdach schliesst, bietet einer Vielzahl von Arten, wie den Bluebells, ideale Bedingungen. Jede Niederwaldparzelle, auf der die Bäume gefällt wurden, wirkt wie fünfzig oder hundert gefallene, alte Bäume, und das jedes Jahr. Das Ergebnis ist ein ewig junger Wald – der perfekte Lebensraum für Bluebells.

In den letzten Jahrzehnten wird die Idylle der englischen Bluebells-Wälder jedoch bedroht. Spanische, aus Gärten ausgewilderte Verwandte der Bluebells breiten sich aus. Neben negativen Folgen für die Ökosysteme leidet auch der Zauber der Wälder. Englische Bluebells (Hyacinthoides non-scripta) sind nämlich viel zierlicher, ihre Glöckchen haben hübsch eingerollte Blütenblättchen. Hasenglöckchen von der Iberischen Halbinsel (Hyacinthoides hispanica) fehlt der süsse Duft, und ihr Blau ist fliederfarben und vergleichsweise blass.

Bluebells werden in Grossbritannien fast so sehnsüchtig erwartet wie die Kirschblüten in Japan. Während der wenigen Wochen der Blüte im späten Frühling sind die verzauberten Wälder ein beliebtes Ausflugsziel. Leider bringt die Begeisterung auch Gefahren für die kleinen Zwiebelblümchen. Nur ein, zwei Schritte auf dem blauen Teppich für das besondere Instagram-Foto, das wird ja nicht so schlimm sein. Doch, das ist es. Das Drauftreten verletzt die Blätter, nimmt ihnen die Fähigkeit, Fotosynthese zu betreiben, und schwächt oder tötet die Pflanze. Glücklicherweise kommen die meisten Besucher nur zum Staunen, vom Weg aus.

Man kann Hasenglöckchen auch pflanzen. Die im Handel erhältlichen Sorten sind meist Hybride aus atlantischen und spanischen. Sogar in einem Blumentopf sehen sie sehr schön aus. Aber das Gefühl, durch einen Wald voller kleiner, blauer Glöckchen zu gehen, können sie nicht ersetzen.

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