Der Autor sammelt regelmässig Geld und bringt Waffen und militärische Güter an die Front in der Ukraine. Jetzt erscheint sein neuer Roman «Kälte».
Szczepan Twardoch nimmt den russischen Helm aus seinem Bücherregal. Man sieht die Einschläge von Granatsplittern. Über die Geschichte des Soldaten, der ihn getragen hat, weiss man nichts. Im polnischen Gliwice ist der Ukraine-Krieg plötzlich ganz nah. Nicht nur die Stadt in Oberschlesien, sondern das ganze Land hat Angst davor, dass der seit über zwei Jahren dauernde Kampf sich zum Flächenbrand ausweiten könnte.
360 Kilometer sind es von Gliwice bis zur ukrainischen Grenze. Wieder und wieder ist Twardoch in den letzten Monaten mit seinem geländegängigen Toyota Land Cruiser ins Nachbarland aufgebrochen. Er tut, was Schriftsteller sonst nicht tun. Fährt bis an die Schützengräben der Front. In den Donbass, nach Pokrowsk und Kurachowe. Dann Richtung Norden am Fluss Oskil entlang und in die Region Kupjansk.
An den militärischen Checkpoints zeigt Twardoch seinen polnischen Journalistenausweis. Die Männer, die ihn kontrollieren, schauen schnell weg, wenn sie sehen, was er transportiert: Drohnen für die Front, gekauft in Polen. Mavic 3T mit Wärmebildkamera zur Aufklärung in der Nacht, aber auch Kamikaze- und Bombendrohnen. An der Front wird dieses Material dringend gebraucht, und es ist nicht so schwer, es durch das Chaos der ukrainischen Kriegsführung zu manövrieren.
Die Angst beim Überlebenskampf
«Das Chaos ist Teil des Kriegs», sagt Szczepan Twardoch. Mit dem notwendigen Anwachsen der ukrainischen Truppen von 200 000 Mann auf eine Million ist das Chaos noch exponentiell gewachsen. Die polnisch-jüdische Journalistin Monika Andruszewska, die seit dem Euromaidan in der Ukraine lebt, stellt Kontakte zu den unteren Führungsebenen der Armee her, vorbei an der Generalität. Die Wege für die in Polen per Crowdfunding finanzierten Drohnen sind kurz.
Szczepan Twardoch hat grossartige Romane über das Wesen des Krieges geschrieben, Bücher über die historischen Linien, an denen Europa in die Raserei des Inhumanen kippt, aber das hier ist wirklicher Krieg. Er weiss, dass mit den Waffen, die er in die Ukraine bringt, Menschen getötet werden. In einer Notwehrsituation, aber eben doch.
Der Schriftsteller sagt: «Wenn du als Soldat eine Drohne siehst, kannst du nur hoffen, dass sie dich nicht zuerst gesehen hat.» Er sagt auch etwas über die Angst beim Überlebenskampf: «Solange man noch das Krachen der feindlichen Projektile hört, ist man nicht tot.»
Es sind Informationen aus den Geschichten der Soldaten, die tatsächlich an der Front kämpfen. Sich selbst will Twardoch in der Ukraine nicht in Gefahr bringen, aber wenn Putin mit seinen Truppen plötzlich auch in Polen stünde, dann würde er die Waffe zur Hand nehmen.
Im Büro des Schriftstellers in der 180 000-Einwohner-Stadt Gliwice stehen schwere Möbel. Auf dem Bücherstapel am Schreibtisch liegt Barbara Tuchmans Buch «The March of Folly» ganz oben. Es ist eine aus den achtziger Jahren stammende Analyse über die Selbstzerstörungskraft politischer Systeme. Geschrieben im Kalten Krieg und während eines Wettlaufs neuer Bewaffnung zwischen der westlichen und der östlichen Hemisphäre, ist «Die Torheit der Regierenden» heute von schlagender Aktualität.
Auf dem Couchtisch liegt bei Twardoch ein prachtvoller Bildband über Hieronymus Bosch. War Bosch mit seinen Bild gewordenen Emanationen des Wahnsinns und der menschlichen Kreatürlichkeit jemals nicht aktuell? Als Schriftsteller arbeitet Szczepan Twardoch mit den Energiepunkten der Geschichte und eigener Phantasmagorien. Seinen Büchern gehen grosse Recherchen voraus, aber sie sind oft auch Metaphern für den Kampf des Menschen mit sich selbst. Und für etwas sehr Spezielles: wenn an sich selbst gescheiterte Menschen beginnen, gegen andere zu kämpfen.
Putin kennt nur die Sprache der Gewalt
Dieser Tage erscheint der neue Roman von Szczepan Twardoch. Er heisst «Kälte» und erzählt von einem Entwurzelten, der gleichermassen durch Europa wandert, wie die Geschichte Europas durch ihn hindurchwandert. Erst war dieser Konrad Widuch Maat in der kaiserlichen Marine von Wilhelm II., dann Parteigenosse im deutschen Spartakusbund. Er ist nach Russland gegangen, um dort als Bolschewik die proletarische Revolution voranzutreiben. Stalin wirft ihn ins Lager. Er kann fliehen und irrt hungernd durch Sibirien.
Wie Schemen ziehen kriegerische Heere an ihm vorbei. Die Menschen werden zu Menschenfressern. Jeder kämpft für sich, aber wie durch einen Vorhang hört man die Kakofonie der Ideologien und das Machtgebrüll des grossen Usurpators: Russland. «Wenn Russland kommt, dann kann eine Siedlung allein sich nicht verteidigen, ihr bleibt nur die Flucht. Ihr seid so lange sicher, wie Russland nichts von euch weiss», heisst es in «Kälte».
«Kälte» ist ein grosser Schlüsselroman zur Gegenwart, eine Reise durchs kollektive Unbewusste Europas. Dass sich eine Siedlung unter der Bedrohung von Russland nicht allein verteidigen kann, hört man von Szczepan Twardoch im Gespräch auch ganz unmetaphorisch: Die Nato müsse in die Ukraine. Das Zaudern des deutschen Kanzlers sei fatal. «Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist die Sprache der Gewalt», sagt der polnische Schriftsteller.
Geboren ist der Konrad Widuch des Romans am Ende des 19. Jahrhunderts im kleinen schlesischen Ort Pilchowice. Der liegt gleich neben Gliwice, und da kommt auch Szczepan Twardoch her. Eine Familiengeschichte? Nein, sagt der 44-jährige Schriftsteller beim Abendessen in einer Gleiwitzer Weinbar, die am Stadtrand liegt. In den ehemaligen Stallungen des preussischen Heeres. Vorfahren mit dem Namen Widuch hat es gegeben und unter den Ahnen auch Preussen.
Seit vierhundert Jahren lebt die Familie in einem Umkreis von fünfzehn Kilometern, ist fest verwurzelt in einer Identität, die der Schriftsteller, Nachfahr von Kleinbauern und Minenarbeitern, nicht verraten will. Auch wenn er deshalb für manche in Polen als Verräter gilt, als «Volksdeutscher», wie ihn die Politiker der rechten PiS-Partei schmähen.
Man unterstellt Schlesien Autonomiegelüste, dabei ist der Landstrich am Ober- und Mittellauf der Oder so etwas wie das deutsche Friesland. In seinem Programm «100 Versprechen für die ersten 100 Tage» seiner Amtszeit hat der polnische Ministerpräsident Donald Tusk angekündigt, die schlesische Minderheit in Polen auch offiziell anzuerkennen und die Sprache zu schützen.
Risse in der Wirklichkeit
Twardoch schreibt auf Polnisch, «so wie der Pole Joseph Conrad auf Englisch geschrieben hat und der Rumäne Emil Cioran auf Französisch». Es ist kein Verrat der Herkunft, weil dieses Schlesien in den Romanen als Folie historischer Ereignisse immer präsent bleibt. Aus Mikrogeschichten der Unterdrückung den Blick aufs Grosse und Ganze zu öffnen, das kann Szczepan Twardoch genauso wie der Ungar Péter Nádas. Es ist Weltliteratur, die aus familienbiografischen Ereignissen gespeist ist. Von Plötzlichkeiten, die die Politik heute eine «Zeitenwende» nennt, bei denen aber in Wahrheit die Zeit stillzustehen scheint.
Im Januar 1945 überrannten die Russen das Dorf Przyszowice, auf Deutsch Preiswitz, ermordeten siebzig Bewohner und vergewaltigten die Frauen. Unter ihnen auch die Urgrossmutter von Szczepan Twardoch. Ein ganzes Bataillon fiel über sie her, es entstand ein Kind, das ganz selbstverständlich in die Familie aufgenommen wurde. «Wen hätte man anklagen, wo hätte man sich beschweren können?», sagt der Schriftsteller.
Ein Riss in der Wirklichkeit durchzieht die Romane Twardochs. Den «Boxer», «Drach», «Das schwarze Königreich», «Demut». Die apokalyptischen Welten des Hieronymus Bosch sind immer dabei. Ein Wüten, gegen das die zarten Seelen machtlos sind. Der Roman «Kälte» hat eine Rahmenhandlung. Ein Schriftsteller namens Szczepan Twardoch macht sich auf in die Einsamkeit Spitzbergens, wo er eine ältere Weltreisende und ihre Jacht kennenlernt.
Der Autor wird für einige Wochen zu ihrem Begleiter. Sie gibt ihm die Tagebücher des Konrad Widuch, diesem menschlichen Puzzle Twardochscher Familieneigenschaften. «Kälte» ist auch die Hommage an einen Menschenschlag, der sich trotz allem nicht kleinkriegen lässt. Eine Hommage an die lauten Minenarbeiter und die selbstbewussten Bauern. Widuch schreibt seine Notizen in einem sprachlichen Kauderwelsch, in einer trotzigen Internationale der Wörter.
Wenn Russlands Gewalt in der Ukraine heute unter rechten Parteien Europas paradoxe Sympathien geniesst, dann scheint der Schutzschild in Polen weit verlässlicher. Man habe die Erfahrungen des Kommunismus nicht vergessen, sagt Szczepan Twardoch, und man sei wahrscheinlich näher dran an den Berichten von der Front.
Bei Beginn des Krieges vor zwei Jahren habe er noch geglaubt, dass dieser nur ein paar Monate dauern werde. Jetzt rechne er mit fünf Jahren. Ein fiktives Datum, aber wie lässt sich das hochrechnen, was Twardoch «die russische Resilienz» nennt? Immer noch berühre der Krieg Moskau kaum, die Soldaten hole man sich aus den weiten Gegenden Russlands, für deren Bevölkerung sich sonst weiter niemand interessiere.
«Die Russen arbeiten mit einer Art menschlichem Radar», sagt der Autor. «Sie schicken schlecht ausgerüstete und unerfahrene Soldaten vor, um zu erkunden, wo der Feind steht. Die Linie der Leichen zeigt an, wo die Front verläuft.»
Es hat schon andere Zeiten gegeben in der Karriere des Szczepan Twardoch, der aussieht wie ein preussischer Offizier. Bei immer weiter wachsenden Erfolgen hat er die internationale Bühne in dandyhaften Tweedanzügen betreten. Der Autokonzern Mercedes hat das Gesicht des Schriftstellers bei seinen polnischen Werbekampagnen eingesetzt und ihm selbst dafür eine Luxuslimousine vor die Tür gestellt. Es ist zehn Jahre her, dass Szczepan Twardoch mit seinem S-Klasse-Mercedes durch Pilchowice und Gliwice fuhr. In zwei Wochen fährt er wieder mit seinem alten Toyota in die Ukraine.
Szczepan Twardoch: Kälte. Roman. Übersetzt aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2024. 432 S., Fr. 38.90.