Der Norweger galt als fittester Athlet im Weltcup. Dann stürzte er am Lauberhorn, durchtrennte sich mit der Skikante die Wade und riss sich quasi die Schulter raus. Trotzdem sagt er, die Liebe zur Abfahrt sei das Risiko wert.
NZZ am Sonntag: Aleksander Kilde, Sie haben Bilder gepostet, auf denen man sieht, wie Sie in Ihre Skischuhe schlüpfen. Heisst das, dass Sie wieder mit dem Training angefangen haben?
Aleksander Kilde: Das ist nur Ski fahren für die Seele und für den Kopf. Ein bisschen herumkurven ist alles, was die Ärzte erlauben. Ich muss aufpassen, denn ich darf auf keinen Fall stürzen. Aber es ist ein wunderbares Gefühl, weil ich spüre, dass mein Körper wieder funktioniert. Ausser der Schulter.
Die Schulter sollten Sie im Herbst noch einmal operieren lassen . . .
. . . das ist noch nicht passiert. Ich muss warten, bis die Knochenstruktur gut genug ist. Irgendwann im Januar werden neue Scans und Bilder gemacht, dann sehen wir, ob wir den Wiederaufbau der Schulter angehen können.
Gehen wir zurück zum 13. Januar dieses Jahres. Sie stürzten im Ziel von Wengen schwer. Erinnern Sie sich noch, was Ihnen im Moment des Crashs durch den Kopf ging?
Alles, was mir bleibt, ist dieses Gefühl, dass mein Körper gegen Ende des Rennens völlig leer war. Man ist am Lauberhorn nach weit über zwei Minuten Fahrzeit immer müde, aber an diesem Tag war ich kaputt, ich brachte keine Kraft mehr auf die Ski. Und dann flog ich in die Netze. Das ging sehr schnell, aber ich erlebte es wie in Zeitlupe.
Als Sie danach auf der Piste lagen und eine grosse Hektik um Sie war – waren Sie da bei Bewusstsein?
Teils, teils. Es war, als hätte man das Licht aus- und wieder eingeschaltet. Ich erinnere mich daran, dass ich mit dem Gesicht im Schnee lag und starke Schmerzen in der Schulter hatte. Dann wurde es schwarz, und plötzlich lag ich auf dem Rücken, die Ski waren weg. Ich sah an mir runter, und da war überall Blut, Leute arbeiteten an meinem Bein. Und irgendwann war ich im Spital.
Waren Sie sich bewusst, dass Leute um Ihr Leben kämpften? Sie hatten sich mit dem Ski eine Arterie durchtrennt.
Ich versuchte, regelmässig zu atmen, mehr konnte ich nicht tun. Und ich sagte mir, dass ich in guten Händen sei. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich Angst um mein Leben – wohl auch, weil mich diese fürchterlichen Schmerzen in der Schulter völlig absorbierten.
In einem Video fasst ein Arzt Ihre Verletzungen zusammen: fünf Muskeln und Nerven im Bein durchtrennt, die Schulter regelrecht herausgerissen. Wie haben Sie auf diese Diagnose reagiert?
Es war wirklich hart. Ich lag da, mit Verbänden fast am ganzen Körper, und hatte keine Ahnung, was für ein Weg vor mir lag. In den ersten zwei Monaten war ich nicht sicher, ob ich je wieder auf Ski stehen würde. Aber ich glaubte daran, wieder auf die Füsse zu kommen und gehen zu können. Aber ob ich je wieder als Profi Rennen fahren werde, kann ich heute noch nicht sagen.
Abfahrer sagen immer, sie seien sich der Risiken bewusst. Aber glaubt irgendjemand wirklich, dass es ihn so übel erwischen könnte?
Ich glaube, ich hatte vor dem Sturz die richtige Denkweise, das ist wohl auch der Grund, weshalb ich zurückkehren will. Ich sagte stets zu mir: «Es kann passieren, das ist Teil des Spiels.» Wenn etwas passiert, liegt in der Regel der Fehler beim Fahrer – und genau so war es bei mir. Es hängt alles von dir ab, und die Konsequenzen können brutal sein. Aber ich liebe den Abfahrtssport, ich liebe das Gefühl, einen abgesperrten Berg nur für mich zu haben. Das werde ich immer höher gewichten als alles andere – sogar einen Crash.
2022 sind Sie in Kitzbühel mit über 140 km/h ins Netz gedonnert. Wenn so etwas gut geht – hat man dann das Gefühl, man sei unzerstörbar?
Jene Saison war erstaunlich, denn ich hatte das Gefühl, dass ich auf den Ski tun konnte, was ich wollte, und immer hatte ich noch etwas Reserve. Wenn du so im Flow bist, fühlst du dich tatsächlich unzerstörbar. In Kitzbühel habe ich mir bewiesen, dass ich selbst in extremen Situationen einen Ausweg finde. Wengen zeigte mir dann, dass das nicht immer geht.
In Wengen waren Sie leicht krank, es gab Trainings und drei Rennen. War die Abfahrt am Samstag das eine Rennen zu viel?
Es ist einfach, jetzt mit Ja zu antworten. Ich habe mir überlegt, ob es sinnvoll sei, aber ich fühlte mich gut und hatte an beiden Tagen zuvor einen Podestplatz erreicht. Was ich wohl falsch eingeschätzt hatte, waren die Auswirkungen dieser Woche auf meinen Körper. Ich sagte mir: «Ich bringe die Energie für zwei Minuten auf. In Beaver Creek war ich einmal in einer ähnlichen Situation und habe gewonnen.» Aber die Abfahrt in Wengen dauert nicht zwei, sondern zweieinhalb Minuten.
Wie kam es zu dieser falschen Einschätzung?
Beim Einfahren hatte ich mich noch gut gefühlt, aber kaum war ich im Rennen, fehlte mir die Kraft. Die beste Entscheidung in so einer Situation wäre, anzuhalten. Aber das machst du niemals. Das ist die Mentalität des Rennfahrers. Ich habe daraus gelernt. Nie wieder werde ich in Wengen oder Kitzbühel fahren, wenn ich mich nicht hundertprozentig fit fühle.
Ihre Freundin Mikaela Shiffrin kam zu Ihnen ins Spital in der Schweiz, drei Tage später gewann sie einen Slalom, aber zwei Wochen später erwischte es auch sie in Cortina. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Das ist Zufall. Beide Stürze können passieren. Die vergangene Saison war irgendwie verrückt. Es gab viele Rennen, das Programm war eng getaktet, und es gab viele Verletzungen. Mikaela ist ja diesen Winter auch wieder gestürzt. Das geschieht, wenn du pushst, wenn du unbedingt gewinnen willst.
Dass Sie und Ihre Freundin sich fast gleichzeitig verletzten, hat Ihnen Zeit verschafft für andere Dinge. Sehen Sie darin positive Aspekte?
Bei mir ist es schwierig, so etwas zu sagen, denn ich sass im Rollstuhl. Ständig mit Schmerzen zu kämpfen, ist hart. Aber ich konnte wenigstens Zeit mit meiner Familie verbringen. Ich konnte endlich mehr als eine Woche an einem Ort sein und musste nicht aus dem Koffer leben. Ich habe Kurse belegt, die mir im Leben nach dem Sport helfen können. Leute sagen: «Jetzt hast du Zeit für anderes.» Aber du nutzt die Zeit vor allem, um fit zu werden für das Comeback.
Sie galten als der fitteste Mann im Skizirkus. Was ist das für ein Gefühl, wenn man plötzlich nicht einmal mehr gehen kann?
Ein sehr seltsames. Ich lebe mit meinem Körper und zu einem grossen Teil von dessen Fähigkeiten. Plötzlich brauchte ich Hilfe, um aus dem Bett zu kommen, zu duschen, auf die Toilette zu gehen. Das war sehr, sehr hart. Ich wollte selbst etwas beitragen, aber ich konnte absolut nichts tun.
Brauchten Sie in dieser Situation auch mentale Unterstützung?
Ich redete mit einer Psychologin, das hat mir sehr geholfen. Nach gut acht Wochen spürte ich, dass sich alles in eine gute Richtung entwickelte. Jetzt arbeite ich mit einem Mentalcoach in der Schweiz. Er hat mir in den letzten Monaten geholfen, mich auf die richtigen Dinge zu fokussieren und Situationen auch einfach zu akzeptieren.
Stimmt es, dass Sie und Mikaela Shiffrin im vergangenen Sommer darüber nachgedacht haben, mit dem Sport aufzuhören?
Wir haben darüber gesprochen. Wir wollten das im Hinterkopf haben und uns bewusst sein, dass das Leben auch ohne den Rennsport gut sein kann. Das war eine Diskussion, die aus der Hitze des Moments heraus entstand, als wir beide das Gefühl hatten: «Vielleicht reicht es jetzt.» Aber wir spürten rasch, dass wir noch einiges erreichen wollten im Sport.
Aleksander Kilde
Der 32-Jährige ist Norwegens erfolgreichster Skirennfahrer der vergangenen Jahre. Er gewann 2020 den Gesamtweltcup und zweimal die Disziplinenwertungen in Abfahrt und Super-G. An WM und Olympischen Spielen errang er je zwei Medaillen. Im Januar 2024 stürzte er im Ziel-S der Lauberhornabfahrt und verletzte sich schwer. Kilde ist mit dem US-Skistar Mikaela Shiffrin verlobt.
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