Wer war Ulrich Wille? Ein Podium in Meilen liefert überraschende Antworten.
Der Jürg-Wille-Saal im «Löwen» in Meilen ist – man kann es nicht anders beschreiben – bis auf den letzten Platz besetzt. Der Gemeindepräsident Christoph Hiller (FDP) lässt die 400 Anwesenden zu Beginn der Veranstaltung am Donnerstagabend wissen, dass man Hunderte von weiteren Interessierten habe abweisen müssen, «aus feuerpolizeilichen Gründen».
Das Nachrichtenmagazin «10 vor 10» von SRF berichtet vor Ort. Ein Mann im Publikum sagt sichtlich zufrieden: «Es läuft etwas in Meilen.» Die erste Reihe vor der Bühne ist bedeutenden Personen vorbehalten: Der parteilose Sicherheitsvorsteher Mario Fehr gibt sich die Ehre, der SVP-Nationalrat Thomas Matter ist da, der Alt-Gemeinderat, -Kantonsrat, -Nationalrat und -Bundesrat Christoph Blocher und seine Frau Silvia ebenso. Der (SVP-)Historiker und «Weltwoche»-Redaktor Christoph Mörgeli muss etwas weiter hinten Platz nehmen.
Der wichtigste Gast des Abends wird von Personenschützern begleitet: Thomas Süssli, der Chef der Schweizer Armee, hat sich ebenfalls in Meilen eingefunden. Für ihn ist es eine willkommene Gelegenheit, dem Material-, Finanz- und Personalnotstand der bewaffneten Truppen wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Am Freitagmorgen musste sich Süssli in Bern bereits wieder kritischen Fragen der Medien stellen.
Meilen und die Willes – eine innige Geschichte
Doch in Meilen steht an diesem Abend jemand anderes im Zentrum. Die Gemeinde begeht den 100. Todestag ihres Ehrenbürgers: Ulrich Wille, der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg, starb am 31. Januar 1925 auf dem Landgut Mariafeld. Das Anwesen im Ortsteil Feldmeilen befindet sich seit über 170 Jahren im Besitz der Familie des Generals.
Meilen und die Willes, das gehört zusammen. Im Innenhof von Mariafeld finden im Sommer jeweils Konzerte des örtlichen Sinfonie-Orchesters statt. Jeder darf kommen, der Eintritt ist frei. In einem weiteren Gebäude des Landguts führt eine Theatergruppe ihre Stücke auf. Primarschulklassen werden regelmässig durch die Räumlichkeiten geführt, in denen Ulrich Wille aufgewachsen ist. Der Saal im «Löwen» ist nach einem Enkel des Generals benannt.
Die Witwe des 2009 verstorbenen Jürg Wille wird am Donnerstagabend vom Gemeindepräsidenten denn auch wie eine Verwandte begrüsst («Liebe Christine»). Weitere Vertreter der Familie dürfen dem Anlass ebenfalls in der ersten Reihe beiwohnen. Alle im Saal erheben sich, als die Militärmusik auf der Bühne den Schweizerpsalm intoniert.
«Viel zu lebhaft entwickeltes Rechtsgefühl»
Wer war Ulrich Wille? Was hat der «umstrittenste General der Schweizer Geschichte» uns heute noch zu sagen?
Der Sohn eines Schriftstellers und einer Hamburger Reederstochter studierte Recht in Zürich, Halle und Heidelberg. Er genoss das Leben. In Halle besuchte er nur eine einzige Vorlesung. In Heidelberg schaffte er es zum Dr. iur., mit 21 Jahren. Er bestand sogar mit einer glänzenden Note. Doch sein Doktorvater riet ihm, «die Juristerei so rasch wie möglich wieder zu verlassen. Sie haben ein viel zu lebhaft entwickeltes Rechtsgefühl.»
Dieser Wesenszug des späteren Oberbefehlshabers ist bis heute kaum beleuchtet worden. 100 Jahre nach seinem Tod scheint vielmehr festzustehen: Ulrich Wille verehrte Preussen und Kaiser Wilhelm II. Und, so zumindest das Narrativ in ebenso linken wie wenig informierten Kreisen: Er war ein jähzorniger Junker, der sich um die demokratischen Institutionen der Schweiz foutierte und 1914 am liebsten an der Seite Deutschlands in den Krieg gezogen wäre. Beim Generalstreik im November 1918 hätte er die protestierenden Arbeiter in Zürich am liebsten erschiessen lassen.
Dieses Wille-Bild kommt am Donnerstag nur beiläufig zur Sprache. Dabei hat es ebenfalls mit Meilen zu tun: 1987 gab es im Ortsmuseum eine Ausstellung über den General. Zu sehen waren auch Abschriften von Briefen des Oberbefehlshabers an seine Frau. Der Journalist Niklaus Meienberg schnappte sich den Band und liess die Texte heimlich fotografieren – im Wissen darum, dass die Willes ihm die Dokumente niemals zur Verfügung gestellt hätten. «Der Wille-Clan», schrieb Meienberg damals, «lässt nur solche Historiker an den Speck, die dem General prinzipiell günstig gesinnt sind.»
Das Enfant terrible der Schweizer Publizistik freilich dachte nicht daran, dem Oberbefehlshaber zu huldigen, wie dies Generationen von Historikern vor ihm getan hatten. Stattdessen schrieb er einen bitterbösen Bestseller («Die Welt als Wille & Wahn»).
Meienberg delektierte sich an den Tiraden des Generals. Die Bundesräte seien «Jammerkerle», die sich aufführten «wie ein histerisches Weib». Den Bundespräsidenten Schulthess habe er «heute auch in seine Schuhe stellen müssen». Wille ätzt gegen seinen Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg («Der muss immer an der Leine gehalten werden»), gegen die eigene Truppe («Mittag fahre ich nach Solothurn, um den Kerlen in der Etappe so recht tüchtig wüst zu sagen»), gegen den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson («Der Narr der!»), gegen Arbeiterführer («Schweinehunde») und die Romands («Die Hosen stramm ziehen und ein paar Tüchtige hinten auf»).
Und immer wieder thront in diesen – privaten – Textfetzen das Kaiserreich über allem. Am 20. Februar 1917 schrieb Wille an seine deutsche Frau, eine geborene Bismarck: «Ob wir noch erleben, dass die Welt erkennt und zugesteht, wie gross Deutschland in diesem grössten aller Kriege dasteht! Gross in Allem.»
Meienbergs Pamphlet ist unterhaltsam. Das Temperament des Generals kommt in dem Buch unverblümt zum Ausdruck.
Bild links: Ulrich Wille (Mitte) während der Kaisermanöver im September 1912. Bild rechts: Der General an seinem Schreibtisch im Hotel Bellevue Palace in Bern.
Mitfühlender Gnadenherr
Aber das ist nicht der ganze Wille. Das zeigt sich in der Podiumsrunde vom Donnerstag. Die Analyse von Rudolf Jaun ist klar: Vom Sturm der Entrüstung der späten 1980er Jahre sei nicht viel übriggeblieben, sagt der emeritierte Professor für Militärgeschichte, der zum 100. Todestag eine kurze Biografie publiziert hat («General Wille. Ein bekämpfter und verehrter Schweizer Offizier»).
Jaun weiss: «Wenn er schreibt, wird er gefährlich.» Wille, in vier langen Kriegsjahren ohne Feindberührung zu immer mehr Schreibtischarbeit in seinem Hauptquartier im Hotel Bellevue Palace in Bern verdammt, griff zur Feder und traktierte seine politischen und militärischen Gegner mit immer längeren Traktaten. Seine Prinzipien: Appell, Adresse, Erziehung. Drill bis zum Umfallen, keine halben Sachen.
In den ersten Kriegswochen 1914 standen die Soldaten der Schweizer Armee zwar an der Grenze. Aber dann passierte – nichts: kein Einmarsch der Deutschen, keine Invasion der Franzosen. «Willes Verdienst war es, die Armee zusammenzuhalten», sagt Michael Olsansky, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich. Und: Die hiesigen Streitkräfte hätten einem Einfall von Norden oder von Westen nie standgehalten. Stattdessen hätte man im Ernstfall den Vormarsch des Invasors zu verlangsamen versucht, bis Hilfe vom Feind des Feindes eingetroffen wäre.
Eine neue Seite des Generals lernen die Anwesenden schliesslich in den Ausführungen der Historikerin Lea Moltineri Eberle kennen. Wille war nicht nur Oberbefehlshaber, er war auch der oberste Gnadenherr der Militärjustiz. Gesuche verurteilter Soldaten landeten ebenfalls auf seinem Schreibtisch. Und Wille wollte es genau wissen: Er erteilte Aufträge, um herauszufinden, ob die Darstellungen der Eingebuchteten stimmten. Viele begnadigte er tatsächlich.
Auch das offenbarte einen emotionalen Menschen, der die Nöte seiner Soldaten und ihrer Familien verstehen konnte. Wille verfügte tatsächlich, wie sein Doktorvater fast 50 Jahre zuvor erkannt hatte, über ein (viel zu) lebhaft entwickeltes Rechtsgefühl.