Mittwoch, November 6

Unter dem Pseudonym Fabio Lanz veröffentlicht Martin Meyer, der ehemalige Feuilletonchef der NZZ, die dritte Folge seiner Sarah-Conti-Serie. Es ist ein Höllenritt durch die Kulturgeschichte des Weltenbrands.

Eine mörderische Klimawandel-Hitze sucht im August das Land heim. «Die Menschheit schafft sich selber ab», kommentiert einer der Protagonisten im dritten Zürcher Kriminalroman von Fabio Lanz alias Martin Meyer. Es ist nicht der einzige apokalyptische Moment im Pandämonium dieses Romans.

Am Abend des Tages, an dem jener Satz fällt, bricht ein elementares Gewitter herein, und dessen Folge ist ein Verbrechen, das in der symbolisch aufgeladenen Inszenierung des Täters seinesgleichen sucht. Als das Gewitter verrauscht ist, entdeckt man nämlich am Forch-Denkmal mit seiner Stufenpyramide und der fast zwanzig Meter hohen Opferflamme aus Kupferblech – zum Gedenken an die gestorbenen Soldaten des Ersten Weltkriegs – eine vollständig verkohlte Leiche. Sie war am Fuss der ehernen Flamme angekettet.

Zürich ist, so der Erzähler, «keine Stadt für laute Verbrechen». Zu sehr hat der Reformator Zwingli die mentale Welt der Zürcher «nach innen gelenkt», und man weiss sich zu benehmen und diskret zu sein. Wenn schon ein Mord, dann muss er wenigstens von Bildung zeugen. Schliesslich liest man das «Intelligenzblatt», die «Neue Zürcher Zeitung», und da macht man sich nicht auf ordinäre Weise die Hände schmutzig, auch wenn es um einen Mord geht.

Musikalische Detektivin

Die Detektivin Sarah Conti sieht sich ihrerseits als Künstlerin und spielt vorzüglich Klavier. Die einschlägigen Passagen des Romans zeigen, dass der Verfasser Experte ist; schliesslich hat er Mikhail Pletnev mit entdeckt, der auch einmal im Roman vorkommt. Ihrer musischen Seite zum Trotz durchbricht sie mit ihren Recherchen und Verhören, welche das Netzwerk der mit Sitte und Anstand übertünchten Kriminalität immer wieder zerreissen, ohne Rücksicht die wohlgehüteten Rituale der guten Gesellschaft.

In deren Klubs, Partys, Vernissagen und sonstigen Festivitäten, die der Roman ausführlich schildert, geht es oft nicht geheuer zu, Honoratioren und Edelverbrecher sind vielfach kaum zu unterscheiden. Doch das ist natürlich das fiktive Zürich des Romans, das mit dem wirklichen ebenso viel und ebenso wenig gemein hat wie das ungenannte Lübeck der «Buddenbrooks» mit dem realen.

Die «um die eigene Achse geschwungene Riesenflamme» des Forch-Denkmals, die sich nach oben verjüngt und in einer nadelhaften Spitze ausläuft, ist bei einem Gewitter die Einladung an jeden Blitz, hineinzuschlagen und jedes organische Leben, das sich da etwa anschmiegt, zu Asche zu verbrennen. Deshalb haben die Konstrukteure das Denkmal sachkundig geerdet. Das weiss auch der Mörder und hat die Erdung ebenso sachkundig auf die Kette umgeleitet, mit der das Opfer an die Flamme gefesselt ist, um es wahrhaft zum Opfer der vom Blitz durchzuckten Flamme werden zu lassen.

Doch wer tut so etwas? «Aus der Kriminalstatistik ging hervor», belehrt uns der Erzähler, «dass ein grösserer Teil der Morde rund um die Stadt Zürich von Menschen begangen wurde, die nach aussen bieder und anständig wirkten. Dabei hatte der Dämon bloss geschlummert. Zum Beispiel der Teufel der Rache.» Und dieser waltet hier mit einer mörderischen Phantasie, die den wirklichen Teufel vor Neid erblassen lassen könnte, wenn das seinem Rotgesicht anstünde. «Der Mord als schöne Kunst betrachtet», bemerkt Sarah Conti einmal ironisch.

Zug um Zug, Steinchen für Steinchen lässt die detektivisch-künstlerische Spurensuche Sarahs und ihres Teams das Mosaik des Opfers erstehen. Dessen Enthüllung interessiert den Leser – und die Detektivin selber – im Grunde mehr als die Suche nach dem Täter, so dass Sarah sich gar bei der Frage ertappt, ob es denn überhaupt wünschenswert sei, diesen Täter zu finden.

Rächer der geschundenen Seelen

Das Opfer ist ein renommierter Psychiater namens Meinrad Freyer, der, so stellt sich mehr und mehr heraus, ein Doppelleben in vielen Varianten führte, eine Art Doktor Jekyll und Mr. Hyde, der sich einerseits als Erlöser aufspielt, anderseits die Kranken zu willenlosen Objekten degradiert. Wie ein Raskolnikow fühlt er sich als «höherer Mensch», ja als «Übermensch», und trägt den Mörder bereits in sich selbst, dessen Opfer er schliesslich wird.

Dieser Mörder lässt ihm in grauenhaft gesteigerter Form das angedeihen, was er aus seinen Patienten machte, deren Eigenleben er bisweilen bis hin zum Selbstmord auslöschte. «Freyer gab den Erlöser und säte den Tod.» Der Mörder, den Sarah am Ende entlarvt und mit dem niemand gerechnet hat, ist mit seinem Team, das die von ihm ersonnene Tat logistisch durchführt, der Rächer all der geschundenen Seelen, vor allem der Frauen, die Freyer reihenweise mit seiner erotischen Magie verführt hat.

Die psychiatrische Klinik Bergblick, in der Meinrad Freyer der medizinische Star gewesen ist und die nicht nur an das Zürcher Burghölzli, sondern auch an den Berghof in Thomas Manns «Zauberberg» gemahnt, gewissermassen eine Mischung der beiden zu sein scheint, ist ein Musterbeispiel der Doppelbödigkeit der feinen Kreise des fiktiven Zürich. Hinter ihrer strahlenden Fassade, glänzenden Festen, Vernissagen und Konzerten sowie einer erlauchten und betuchten Patientenschar verbergen sich – zumal im Orkus der geschlossenen Abteilung mit den Unheilbaren und gemeingefährlichen Verbrechern sowie dem streng verschlossenen Archiv – Geheimnisse, «von denen niemand etwas wissen» soll, um den Ruf der Klinik nicht zu gefährden. «Im Vertuschen sind wir Zürcher gut», heisst es einmal. «Die Dämonie der Unauffälligkeit» nennt es der Erzähler.

Lange bevor Sarah den Täter entlarvt, macht sie sich ein Bild von ihm: Sie stellt sich ihn als Kreatur eines Frankenstein wie in Mary Shelleys Roman vor, als Golem und Monster, das sich schliesslich gegen seinen eigenen Erfinder wendet. «Hatte Freyer seinen eigenen Mörder erschaffen?» Erschreckt entdeckt die Künstler-Detektivin im Spiegel Freyers Züge an sich selbst. Gehört nicht auch sie in das Geschlecht jener ästhetischen Menschen, die sich wie der antike Bildhauer Pygmalion, der «Frankenstein der Schönheit», aus ihrem Leiden am Ungenügen der Wirklichkeit ihre eigenen Menschen bilden?

Der Psychiater wird brutal bestraft

Mehr und mehr projiziert Sarah mythische Bilder auf den Ermordeten: Empedokles, der sich in den Ätna stürzt, Ikarus, der vom Himmel herabsaust, da er der Sonne zu nahe kommt – er ist der Titelgeber des Romans –, schliesslich der gefallene Engel Luzifer: «Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz», heisst es im Lukasevangelium. Und Sarah fragt sich: «War Freyer einem Rächer anheimgefallen, der ihn für seine Gottähnlichkeit bestrafen wollte?» Eines steht für sie jedenfalls fest: «Er war der Ikarus, der seine Kräfte überschätzt hatte und der Sonne zu nahe gekommen war. Die Sonne war sein Jüngstes Gericht.»

Bei ihren Recherchen erfährt Sarah, Freyer «sei besessen gewesen von der Vorstellung der Erlösung», einer solchen freilich durch «Auslöschung der Existenz. Zum Beispiel in einem Feuer. In den Flammen, die alles verzehrten.» Freyer hatte «eine regelrechte Obsession für das Feuer», so wenn er im Klub der Psychologen ein Bild vom Brand Roms aufhängte oder Skrjabins spätes Klavierstück «Vers la flamme» hörte, an dessen Ende die Erlösung im Feuer steht.

Daher seine Faszination durch den Schamanismus, in dem die Reinigung der Seele durch Feuer eine wesentliche Rolle spielt. Die Bilder von James Ensor stellen sich Sarah beim Besuch einer Vernissage mit Werken des belgischen Bürgerschrecks als Spiegel der mentalen Welt des ermordeten Psychiaters dar. Wird doch das Feuer bei Ensor zum Weltenbrand, zum Symbol des Jüngsten Gerichts, zum «Beweis, dass die Zivilisation einer Epoche der Apokalypse entgegeneilt».

Der eigentliche Mörder – so im Grunde die Quintessenz des Romans – ist hier gar nicht der Täter, sondern das Opfer selbst. Es verstrickt sich in das tödliche Netz seiner Hybris und Selbstvergottung und wird mit den Waffen seiner eigenen Feuermystik geschlagen: von einem Täter, der sich gleich ihm, Spiegelung und Nemesis in einem, zum rächenden Gott aufspielt.

Fabio Lanz: Ikarus. Sarah Contis dritter Fall. Kriminalroman. Verlag Kein & Aber, Zürich 2024. 352 S., Fr. 29.90.

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