Donnerstag, Oktober 10

Geschwister sind immer da, ob wir wollen oder nicht. Wie sehr sie uns prägen, wann sie zu Todfeinden werden und wie gefährlich es ist, wenn Eltern ein Lieblingskind haben, erklärt der Psychologe Jürg Frick im Gespräch. Teil 1 unserer fünfteiligen Serie «Geschwister».

Jürg Frick wundert sich immer wieder: Warum ich? Warum werde ich so häufig angefragt, wenn es ums Thema Geschwister geht? Eigentlich kennt er die Antwort. Im deutschsprachigen Raum ist er einer der wenigen Forscher, die untersuchen, wie sehr uns die Beziehung zu unseren Schwestern und Brüdern ein Leben lang prägt.

Der Schweizer Psychologe und emeritierte Professor an der Zürcher Fachhochschule weiss aus seinem Berufsalltag, welchen Einfluss unbewältigte Konflikte zwischen Geschwistern haben. Dennoch dominieren in der Literatur billige Ratgeber. Sie sagen horoskopartig die Zukunft voraus, je nachdem, in welcher Reihenfolge man geboren ist. Die gestressten Ersten würden Manager, heisst es etwa. Die gerechtigkeitsliebenden Zweiten Richterinnen. Und die verpeilten Jüngsten wählen einen Kreativberuf.

Der 67-jährige Jürg Frick will mit solchen Klischees aufräumen. Ein Gespräch über prügelnde Brüder, vergötterte Schwestern und den schwierigen Begriff «Einzelkind».

Herr Frick, wir alle haben klare Vorstellungen davon, wer wir als Kind waren: der dominante Erstgeborene, das schwierige Sandwichkind, das verwöhnte Nesthäkchen. Was waren Sie?

Ich war der Jüngere von zweien. Und ich war wohl der Bravere, mehr der Beobachter. Meine Schwester ist drei Jahre älter. Von ihr habe ich einiges gelernt, auch Verhaltensweisen.

Das Klischee besagt, dass Sie es als Nachzügler einfacher hatten. Dass Sie profitieren konnten von all dem, was Ihre Schwester schon erkämpft hatte. Und dass Sie somit weniger ehrgeizig sind im Leben. Stimmt das?

Nein. Ich hatte eher den Ansporn, meiner Schwester nachzueifern. Zum Beispiel in der Musik. Ich habe mich an meiner Schwester gemessen, wollte in einigen Bereichen besser sein als sie oder zumindest gleich gut. Sie sehen also: Die Klischees stimmen häufig nicht. Geschwisterbeziehungen sind immer sehr individuell. Das ist meine Hauptkritik an solchen Stereotypen: Sie können zutreffen, aber auch völlig falsch sein.

Dennoch zitieren Sie in Ihrem Buch eine Studie, die zu dem Schluss kommt, dass die Jüngsten sich gerne um Aufgaben im Haushalt drückten – und damit weniger gewissenhaft seien als ihre älteren Geschwister. Die Jüngsten sind eben doch die Faulen.

Ja, man kann sagen, dass dies tendenziell etwas häufiger vorkommt. Jüngere Kinder werden oft weniger streng erzogen. Zudem übernehmen ältere Geschwister bereits mehr Pflichten und Aufgaben innerhalb einer Familie. Die Frage aber ist: Nimmt das Jüngste diese Rolle überhaupt ein? Oder macht es das Gegenteil, ist es vielleicht besonders eifrig und versucht, bei Tätigkeiten im Haushalt übermässig zuverlässig zu sein?

Es kommt also nicht so sehr darauf an, ob ich Jüngster oder Ältester bin – sondern welche Rolle ich suche, finde und annehme.

Natürlich gibt es gewisse Verhaltensweisen, in welche Kinder hineingedrängt werden. Dass Ältere etwa auf die Jüngeren aufpassen sollen. Oder dass sie vernünftiger sein müssen. Wie aber ein Kind auf solche Erwartungen reagiert, ist sehr unterschiedlich.

Ist es am Ende eine Frage des Charakters, welche Rolle man annimmt?

Charakter ist nichts, was uns einfach genetisch eingebrannt ist. Er entwickelt sich durch die Beziehungen, in denen wir aufwachsen. Es gibt Jüngere, die die Älteren einholen wollen. Aber auch Jüngere, die die ausgetretenen Pfade der Älteren beschreiten. Wichtig ist, dass kleine Kinder das nicht bewusst machen. Es entsteht eher aus einem inneren, unbewussten Drang heraus.

Sie sagen also, es komme gar nicht so darauf an, ob man Nesthäkchen, Sandwichkind oder Ältester gewesen sei. Dennoch halten sich diese Stereotype hartnäckig. Warum?

Es ist eine menschliche Eigenschaft, überall nach Vereinfachungen zu suchen. Solche Klischees sind gut zu verstehen und einfach zu verbreiten. Aber sie sind – zum Glück – häufig falsch. Und wenn dann einer kommt und sagt, man müsse den Einzelfall anschauen, ist das natürlich weniger attraktiv.

Trotzdem: Im persönlichen Gespräch haben mir mehrere Sandwichkinder gesagt, wie schwierig diese Rolle für sie war: die Mittleren zu sein, dem Grösseren nachzueifern, die Konkurrenz von der Kleineren auf Abstand zu halten. Aufgerieben zu werden dazwischen. Sie haben damit das Stereotyp bestätigt.

Solche Gefühle gelten aber nicht nur für Sandwichkinder. Es gibt auch Jüngste, die denken, sie seien immer zweite Garnitur gewesen. Oder Älteste, die finden, sie seien immer vernachlässigt worden. Man kann an jeder Geschwisterposition leiden. Oder sie als das Beste bezeichnen, was man hatte.

Woran liegt es, dass es entweder auf die eine oder die andere Seite kippt?

Es hängt vor allem davon ab, welche Beziehung die Eltern zu jedem einzelnen Kind führten. Wenn Kinder merken: Meine Eltern lieben und wertschätzen mich so, wie ich bin, mit meinen Stärken und Schwächen – dann sind sie zufriedener mit ihrer Rolle innerhalb der Familie. Wenn die Eltern ihnen aber das Gefühl vermitteln, sie müssten so sein wie der Bruder oder die Schwester – und nur dann habe man sie gern –, dann führt das zu Problemen.

Ist das auch der Grund, warum Geschwister zu Todfeinden werden?

Ja. Wenn Sie als Bruder sehen, wie Ihre Schwester alle positiven Eigenschaften auf sich zieht und für Sie mehrheitlich nur negative übrig bleiben, dann wird Ihre Schwester zur Feindin. Wenn jede Leistung, die sie von der Schule nach Hause bringt, gelobt wird und Ihre Sachen nichts zählen, dann ist dies eine tiefe Kränkung, die Sie das Leben lang begleiten kann.

Die Schwester kann eigentlich nichts dafür.

Nein, aber die Eltern. Diese Herabsetzung endet bei manchen nicht einmal im Erwachsenenalter. Auch dann sagen noch einige Väter oder Mütter: «Du warst schon als Kind schwierig. Du hast deine Chancen nie gepackt. Schau mal deine Schwester an. Sie hatte es auch nicht einfach. Aber sie hat was aus sich gemacht.» Das sind tiefe Verletzungen.

Vor allem in den USA wird dieses Phänomen rege erforscht – unter dem Begriff «favoritism». Bei uns hingegen findet es weniger Gehör. Warum?

Es stimmt zwar, dass das Thema in der hiesigen Forschung weniger beachtet wird, dafür kommt es umso häufiger in Kinderbüchern vor. Das ist eigentlich gut, denn dort trifft es auf jene Menschen, die von «favoritism» direkt betroffen sind: die Kinder. Ich selbst habe in meinem Regal zahlreiche Bilderbücher, die solche Konflikte sehr gut thematisieren.

Wir haben gelernt: Wichtiger als die Geschwisterposition ist die Rolle, die man in der Familie einnimmt. Wie sehr hängen wir auch als Erwachsene noch an diesen Rollen fest?

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie und Ihr grosser Bruder fahren in zwei Fahrzeugen zu einem Restaurant. Ihr Bruder ist vorne, Sie hinten. Plötzlich merken Sie, dass der Bruder eine falsche Abzweigung nimmt. Doch anstatt richtig zu fahren, also weg vom Bruder, folgen Sie seinem Auto. Warum? Weil der grosse Bruder schon früher immer recht hatte. Und Sie sein Verhalten bis heute nicht infrage stellen – auch dann nicht, wenn Sie wissen, dass er falschliegt.

Wann wird es problematisch, wenn Jüngere die Älteren auf einen Sockel stellen und vergöttern?

Eine gewisse Zeit lang ist das kein Problem. Wenn es aber länger dauert, bis ins Jugend- oder sogar ins Erwachsenenalter, dann besteht die Gefahr, dass sich die eigene Identität zu wenig entwickelt. Man spricht dann von einer abgeleiteten Identität. Ich bin nur der Bruder meiner tollen Schwester. Nur das zeichnet mich aus. Ich kann kaum eigene Meinungen entwickeln, eigene Werthaltungen und Wesenszüge. Es gelingt mir auch nicht, mich vom anderen zu distanzieren und abzugrenzen.

Nur durch das grosse Geschwister bin ich jemand.

Ja, nur durch meine Bewunderung und durch einzelne Elemente, die ich vom Bruder oder von der Schwester übernehme. Man nennt das auch Krückenidentität. Die Persönlichkeit und das Selbstwertgefühl sind zurückgeblieben.

Auch manche Geschwisterbeziehungen können sich nicht von der Kindheit lösen. Warum schaffen sie es nicht, erwachsen zu werden?

Das Problem dahinter ist meist, dass sie ihre Rollen aus der Kindheit und die damit verbundenen Erfahrungen nicht verarbeitet haben. Grund dafür können eben tiefe Kränkungen sein: Das Gefühl, die Schwester sei bevorzugt worden. Das Gefühl, den Bruder habe man lieber gehabt. Da ist oft fundamentaler Groll vorhanden, eine tiefe Verletzung. Diese unaufgearbeiteten Konflikte brechen nicht selten im Erwachsenenalter wieder aus.

Bei Erbstreitigkeiten etwa.

Zum Beispiel, ja. Wenn Geschwister über unsinnige Sachen streiten, wie etwa über eine wertlose Vase. Dabei geht es gar nicht um diese Vase, sondern darum, dass sich jemand benachteiligt fühlt. Er sagt sich: «Immer komme ich zu kurz. Immer werde ich ungerecht behandelt. Jetzt muss ich mich wirklich mal wehren. Diese Vase gehört mir!»

Wie kann diese Kränkung in eine andere Bahn gelenkt werden, weg von der wertlosen Vase?

Dafür braucht es eine minimale Bereitschaft, die eigene Wahrnehmung zumindest ein bisschen zu hinterfragen.

Diese minimale Bereitschaft ist aber in jahrzehntelangen Konflikten eine maximale Herausforderung.

Das stimmt. Aber es gibt Leute, die schaffen das. Sie haben die Fähigkeit gefunden, auf den anderen zuzugehen. Es gibt aber auch solche, die bleiben bis ans Lebensende verbittert. Da fällt mir etwa ein Geschwisterpaar ein. Die zwei kamen zu mir, um einen Konflikt zu lösen, den sie bereits seit der Kindheit hatten. Ich war nicht ihr erster Psychologe . . .

. . . aber der letzte? Konnten Sie das Problem lösen?

Leider nein, auch mir ist es nicht gelungen, die beiden «weichzuklopfen». Dabei hat es anfangs gut ausgesehen. Ich habe Einzelsitzungen gemacht. Nach zwei, drei Terminen hatte ich das Gefühl, dass zumindest die eine etwas offener wäre.

Und dann?

Als dann die beiden wieder zu zweit in die Beratung kamen, gingen sie wieder wie kleine Kinder aufeinander los. Am Ende musste ich sagen: «Wenn ihr nicht bereit seid, wenigstens ein Stückchen aufeinander zuzugehen und eure Position zu hinterfragen, dann ist es schade um Zeit und Geld.» Auch ich war nicht bereit weiterzumachen. Ich widme mich lieber Patienten, die an sich arbeiten wollen.

Was ist aus den beiden geworden?

Ich habe sie zum Mediator geschickt. Es ging damals auch noch um finanzielle Dinge, die sie regeln mussten. Ich sagte ihnen: Das ist billiger für euch. Nach zwei Monaten habe ich bei der einen Person nachgefragt, wie es aussieht. Die Antwort: Es sei immer noch genau gleich schlimm wie vorher.

Tragisch.

Ja, das tut einem schon leid. Wenn man sich aufs Alter so das Leben vergällt. Beide wollten nur, dass der andere sich ändert. Aber in einem Konflikt sind immer zwei beteiligt.

Dann gibt es aber auch Geschwister, die trotz ihren Konflikten nicht voneinander loskommen.

Ja, einen solchen Fall habe ich auch erlebt: zwei Brüder im Pensionsalter. Sie wohnen zusammen. Und trotzdem streiten sie sich so heftig, dass sie sogar körperlich aufeinander losgehen. Sie sind alte Männer, aber sie zanken sich wie kleine Kinder.

Wie kann man so zusammenleben?

Diese massiven Konflikte gehen zurück auf ihre ungelösten Probleme aus der Kindheit. Das sind also Muster, die sie schon immer kennen. Und Muster, die man kennt, geben einem eine gewisse Vertrautheit, eine Sicherheit. Beide erleben es als existenzielle Bedrohung, die eigene Position zu hinterfragen.

Wie meinen Sie das?

Zu sagen, ich habe vielleicht in einem Punkt unrecht – dafür braucht es schon eine gewisse Portion Selbstreflexion und Selbstwertgefühl. Wenn man sich aber schwach fühlt, dann wird die Opferhaltung zum Lebensstil.

Gehen wir zurück zum Ursprung von solchen Konflikten: in die Kindheit. Warum nehmen wir als Geschwister überhaupt irgendeine Rolle ein?

Jedes Kind möchte als eigenständige Person wahrgenommen werden. Es versucht also, eine Rolle zu finden. Das erste Kind hat noch eine freiere Wahl. Es kann zum Beispiel das Freche oder das Fürsorgliche sein. Das nächste Kind muss sich dann – natürlich unbewusst – entscheiden: Soll ich dem Älteren die Rolle streitig machen? Oder besser einen anderen Part einnehmen?

Letzteres dürfte häufiger sein. Es ist der bequemere Weg.

Das kann sein, muss aber nicht. Es ist eher dann der Fall, wenn das erste Kind oppositionell ist, also häufig Nein sagt und mit den Eltern streitet. Das zweite Kind merkt dann: Aha, das gibt Probleme. Die Eltern reagieren ablehnend darauf, wütend. Die Jüngere wird dann häufig eher brav.

Genau das ist für Eltern schwer zu verstehen: Wie können zwei Menschen mit demselben Genmaterial so unterschiedlich sein?

Eltern haben natürlich die Vorstellung, dass ihre beiden Kinder mehr oder weniger gleich sein müssten. Schliesslich geniessen sie dieselbe Erziehung – allerdings nur theoretisch. Eltern behandeln ihre Kinder nie gleich, das ist gar nicht möglich. Aber das ist nicht der alleinige Punkt: Es geht um den Drang der Kinder, eine eigene, eigenständige Position innerhalb der Familie einzunehmen.

Geschwister verteidigen diese Rolle vehement. Ich kenne eine Familie, wo das Jüngste Schlagzeug spielen wollte – so wie der grosse Bruder. Das passte dem Älteren aber gar nicht.

Das kommt häufig vor. Der Ältere merkt: Aha, da ist Konkurrenz im Anmarsch. Er fühlt sich dann vom Jüngeren bedroht. Der Platz, auf dem er vorher brillieren konnte, weil er der einzige Schlagzeuger in der Familie war, ist in Gefahr. Und damit die Anerkennung und Wertschätzung der Eltern. Das kann teilweise zu interessanten Sinneswandlungen führen.

Welchen?

Dass der Ältere plötzlich sagt: Schlagzeug ist doof, ich will das nicht mehr spielen. Ich spiele jetzt lieber Saxofon. Er flieht also vor dem Konkurrenzkampf. Ein ähnliches Verhalten können Jüngere zeigen. Sie versuchen gar nicht erst, die Älteren einzuholen. Lieber wählen sie ein anderes Hobby. Sie grenzen sich bewusst ab, indem sie etwa sagen: Ich finde Musik eh blöd, ich mache lieber Sport. Auch damit kann man sein Selbstwertgefühl steigern.

Behalten wir unsere Kinderrollen ein Leben lang?

Manchmal, aber nicht zwingend. Es gibt kein «einmal so – immer so». Das ist mir sehr wichtig. Menschen können sich immer verändern. Die Frage ist vielmehr, was mit den Geschwisterrollen nach der Kindheit passiert, also dann, wenn das eigenständige Leben beginnt. Wenn man merkt, dass man eigentlich auch andere Seiten hat. Dass man nicht nur klein und schwach ist. Oder laut und unwirsch. Sondern im Beruf plötzlich eine andere Rolle entdeckt.

Was geschieht dann mit der Geschwisterbeziehung?

Es kann sein, dass Brüder oder Schwestern, die eine Kindheit lang ein schlechtes Verhältnis hatten, allmählich gut miteinander auskommen.

Man kann sich also von seiner eigenen Rolle emanzipieren?

Ja. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das mich sehr berührt hat. Ich war vor einigen Jahren eingeladen zu einem Talk im Radio. Eine Hörerin hat in die Sendung angerufen und geschildert, dass sie immer eine schwierige Beziehung zu ihrer kleineren Schwester gehabt habe. Im Erwachsenenalter ist die Anruferin schwer erkrankt. Sie hat erfahren: Wenn sie keine neue Niere erhält, stirbt sie. Ihrer Schwester aber hatte sie nichts davon erzählt.

Was ist dann passiert?

Die jüngere Schwester hat trotzdem davon erfahren und die ältere angerufen. Sie sagte: «Ich spende dir eine Niere.» Die Anruferin hat das völlig umgehauen. Das hätte sie nie erwartet. Seit der Nierentransplantation feiern die beiden die Wiedergeburt ihres neuen Geschwisterverhältnisses.

Eine wunderbare Geschichte.

Ja, und wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte, würde ich sie gar nicht glauben. Ich will damit sagen: Man kann nie sicher voraussagen, wie sich das Verhältnis verändern wird. Die Rollen, die wir als Kinder hatten, müssen nicht bestehen bleiben, sie können sich verändern. Man wird erwachsen, lernt einen Beruf, bekommt Kinder. All das verändert einen.

Nicht immer akzeptieren Familienmitglieder solche Veränderungen. Bei Zusammenkünften wird man in die alte Rolle hineingedrängt – weil diese Rolle alle von früher kennen. Dies kann zu Konflikten führen, im Sinne von: «Hört auf, ich bin jetzt anders.»

Das kommt recht häufig vor. Vor allem bei Familienanlässen wie Geburtstagen oder Weihnachten oder wenn die Familie nach langer Zeit wieder einmal in die Ferien fährt. Das Spielchen geht dann schnell los. Die Schwester sagt zum Bruder: Jetzt hast du schon wieder eine neue Protzkarre gekauft? Der Bruder antwortet: Was musst du schon wieder so giftig tun? Und die Mutter ruft: Jetzt hört doch mal auf, wir wollen keinen Streit!

Alles wie früher.

Ja, nur dass das gestandene, erwachsene Berufsleute sind, die sich wieder wie die Kinder von früher verhalten. Partnerinnen und Partner reagieren darauf manchmal perplex und sagen: Was ist denn mit dir los? Es ist letztlich ein Rückfall in unaufgearbeitete Familienmuster. Für Aussenstehende ist das teilweise skurril mit anzusehen.

Wie im Kindergarten.

Ja, aber das ist den Beteiligten gar nicht bewusst. Sie erkennen es erst, wenn Aussenstehende ihnen den Spiegel vorhalten.

Bringt das wirklich etwas?

Nur wenn man bereit ist, sich zu ändern. Wenn jemand Vertrautes wie der eigene Ehepartner es einem taktvoll und ohne Vorwürfe sagt, kann man vielleicht besser damit umgehen. Es kann aber auch gut sein, dass dann der Streit mit der Partnerin losgeht. Etwa so: «Was schlägst du dich auf seine Seite? Du hast ja keine Ahnung, wie mein Bruder damals war!»

Den Partner oder die Partnerin hat man sich aber nicht zuletzt auch wegen der Geschwister ausgesucht: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Brüder und Schwestern unsere Partnerwahl beeinflussen.

Ja, jede neue Liebeserfahrung als Jugendliche und Erwachsene knüpft an Liebeserfahrungen in der Familie an. An positive wie negative. So kann eine Frau die guten Seiten des geliebten Bruders in ihr unbewusstes Männerbild integrieren.

Gilt das auch umgekehrt?

Ja, alle Männer, die eine Ähnlichkeit mit dem schwierigen Bruder aufweisen, werden für die Schwester in kurzer Zeit unattraktiv oder sogar abstossend. Geschwister, die man geliebt oder gehasst hat, prägen das innere Bild über das andere Geschlecht mit. Meistens unbewusst.

Und wie sehr prägt der Altersunterschied die Beziehung unter Geschwistern?

Das ist die Lieblingsfrage der meisten Journalisten: Gibt es den perfekten Altersunterschied? Die einfache Antwort lautet: Nein, den gibt es nicht. Es gibt nur mögliche Vor- und Nachteile.

Welche?

Wenn Geschwister einen geringen Altersabstand haben, spielen sie häufiger miteinander. Sie haben eher die gleichen Interessen, arbeiten beide etwa an einer Lego-Burg. Das bedeutet aber auch: Es gibt mehr Reibung und Streit. Wer darf nun welches Bauklötzli nehmen?

Wie sieht es bei Geschwistern aus, die altersmässig weiter auseinanderliegen?

Solche Konflikte gibt es dort weniger. Während die Kleine mit Lego spielt, interessiert sich der Grosse nur für Fussball. Das heisst aber auch, dass sie weniger miteinander interagieren.

Was bedeuten diese Unterschiede fürs spätere Leben?

Im optimalen Fall unterstützen sich Geschwister mit geringem Altersabstand gegenseitig. Es entsteht eine grosse Vertrautheit, eine starke Verbundenheit. Aber wenn die Konkurrenz gross ist und ein Kind in den meisten Disziplinen besser abschneidet, kann das andere darunter leiden.

Wie können Eltern solche negativen Effekte abmildern?

Es ist normal und auch gut, dass es Konkurrenz und Streit gibt. Das fördert die Entwicklung. Die Frage ist eher: Wann wird ein gewisses Ausmass überschritten? Wichtig ist, dass Eltern ihre Rolle reflektieren – dass sie also auf keinen Fall eines der Kinder bevorzugen. Den Sohn mit der Tochter vergleichen, eines der Kinder als Vorbild hinstellen, im Sinne von: Hast du eine lange Leitung, dein Bruder checkt es schon lange.

Was also sollten Eltern machen?

Ihre Kinder mit ihrer ganzen Individualität nehmen, wie sie sind – mitsamt ihren Stärken und Schwächen. Sie akzeptieren. Damit wäre schon sehr viel gewonnen. Auch sich bei Auseinandersetzungen nicht vorschnell auf die eine oder andere Seite schlagen. Häufig gibt es Streit, und die Eltern sehen gerade noch, wie der Ältere dem Jüngeren eine herunterhaut. Der Jüngere weint und kommt zu Ihnen. Was machen Sie? Sie schimpfen mit dem Älteren. Leider haben Sie nicht gesehen, dass der Jüngere dem Älteren immer die Zunge herausgestreckt hat.

Bleiben wir bei dieser Situation. Wie würden Sie hier vorgehen?

Kurz: Ich würde moderieren, würde etwa sagen: «Jetzt wird es mir zu heftig, jetzt trenne ich euch beide, bevor es ‹Tote› gibt. Kühlt euch für einige Minuten in eurem Zimmer ab.» Das ist besser, als zu schreien: «Hört doch mal auf zu streiten! Jetzt ist Schluss!» Nicht aufheizen, sondern herunterfahren.

Über eine Rolle haben wir bisher nicht gesprochen: das Einzelkind. Was macht es mit einem Kind, wenn es keine Geschwister hat?

Das hängt von den Umständen ab. Untersuchungen zeigen, dass es dann ein Problem ist, wenn Einzelkinder isoliert aufwachsen. Mit wenig Spielgefährten, mit wenig sozialen Kontakten. Und dann, wenn Eltern ihr Kind zu sehr verwöhnen, auf sich beziehen lassen und es abschirmen.

Wie geht es besser?

Wenn man den Umgang mit anderen Kindern fördert. Wenn also Kinder zum Spielen vorbeikommen. Wenn viel Kontakt mit Gspänli entsteht. Es gibt Einzelkinder, die sagen: «Ich habe Freundinnen gehabt, ich hatte die Eltern für mich, es war eigentlich super.» Einzelkinder sind also nicht asozialer oder klüger, wie es das Klischee behauptet.

In Ihrem Buch aber schreiben Sie, Geschwister zu haben bedeute tiefe Gefühle, schöne Gefühle wie Nähe, Verbundenheit, Liebe – aber auch starke Emotionen wie Eifersucht, Ablehnung, Konkurrenz. All das fehlt Einzelkindern.

Ja, aber einen Teil dieser Gefühle hat das Einzelkind später auch – einfach nicht mit Geschwistern, sondern im Umgang mit anderen Kindern. Sei es in der Kita, in der Schule oder in der Freizeit. Ich habe sowieso ein Problem mit dem Begriff Einzelkind.

Warum?

Einzelkinder haben den Ruf, vereinzelt zu sein, also allein. Und allein zu sein, ist negativ besetzt. Der Begriff impliziert einen Makel, etwas Schlechtes. Das ist auch historisch bedingt. Einzelkinder hat man früher bedauert, bemitleidet. Es war wie ein Defekt in der Familie, wenn man nur ein Kind hatte. Das macht etwas mit Kindern. Dieses Gefühl, ein Fehler zu sein, weil man allein ist.

In meinem Umfeld stelle ich fest, dass es heute mehr Einzelkind-Familien gibt. Deckt sich dieser Eindruck mit der Forschung?

Ich weiss, dass es bei jenen Eltern nicht selten der Fall ist, wo beide Elternteile voll im Beruf stehen und weitere Kinder diesen Lebensweg stören. Weil Frauen heute nicht mehr allein zuständig sind für die Kinder, ist dieses Modell populärer geworden. Aber es gibt auch andere Faktoren, die dazu führen, dass Eltern nicht mehrere Kinder haben wollen.

Welche?

Die Ressourcen: In der Schweiz zahlen Eltern viel Geld für die Kinderbetreuung. Mehrere Kinder zu haben, ist schlicht zu teuer. Da sind wir noch stark in einem alten Denken verhaftet. Familie ist hier Privatsache. Die Eltern sollen selbst schauen, wie sie klarkommen. In Finnland beispielsweise ist das anders. Man könnte einmal über den Zaun blicken und schauen, was andere Länder hier besser machen.

Was denn?

Die Kinderbetreuung in der Vorschulerziehung gilt dort eher als Aufgabe der Gesellschaft. Sie ist für Eltern viel einfacher und kostengünstiger. Zudem ist sie flächendeckender geregelt: Eltern haben sogar die Wahlmöglichkeit zwischen einer Kita oder einer Betreuung in einer Familientagesstätte. Und das Ganze wird auch staatlich subventioniert.

Gehen wir zurück zu den Einzelkindern. Viele von ihnen haben Phantasiegeschwister, also erfundene Ersatzgeschwister. Können sie echte Geschwister ersetzen?

Nicht ganz. Sie dienen als Krücke, aber nicht als vollwertiger Ersatz. Und es ist übrigens nicht nur ein Phänomen von Einzelkindern. Ich kenne ein braves Mädchen, das sich nie direkt gegen die Eltern gewehrt hat. Es liess sein Phantasiegeschwister diese Rolle übernehmen – indem es sagte: «Der Lappo hat mir gesagt, ich müsse das nicht machen.» Eine unglaublich kreative Leistung.

Zum Schluss unseres Gesprächs fällt mir auf, wie Geschwister zwar in derselben Familie aufwachsen, aber gefühlt in völlig anderen Familien leben – je nach Rolle, die sie eingenommen haben. War das bei Ihnen auch so?

Ja, wenn meine Schwester und ich über unsere Kindheit sprechen, stellen wir fest, dass wir viele Einschätzungen und Erfahrungen gar nicht teilen. Dass sie manchmal sogar gegensätzlich sind. Das gilt auch für Erinnerungen. Dinge, die für sie wichtig waren, habe ich komplett vergessen – und umgekehrt.

Zum Beispiel?

Einmal kam meine Schwester zu spät nach Hause und musste ohne Nachtessen ins Bett. Ich habe ihr dann offenbar heimlich Essen ins Zimmer gebracht. Als sie mir das später einmal erzählte, konnte ich mich überhaupt mehr daran erinnern. Ich nahm hier offenbar die Rolle ein, die Erziehungsmassnahme meiner Eltern gegenüber meiner Schwester zu sabotieren.

Sie konnten sich vielleicht einfach früh von Ihrer Rolle des Braveren und Beobachtenden emanzipieren.

Offenbar war die Solidarität mit der Schwester grösser als der Gehorsam gegenüber den Eltern. Was mich natürlich nachträglich freut.

In unserer Serie «Geschwister» beleuchten wir die Beziehungen zwischen Schwestern und Brüdern und wie sie uns prägen. Das Interview ist Teil 1 von 5. Der zweite Teil folgt am 4. Mai.

Zur Person

scf. Jürg Frick unterrichtete viele Jahre angehende Lehrpersonen. Ab 2002 war er Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich und ab 2003 Professor an der Zürcher Fachhochschule. Seit 2021 ist er pensioniert, aber weiterhin beruflich tätig. Er führt eine eigene Beratungspraxis.

In diesem Jahr erschien sein Geschwister-Sachbuch in fünfter, überarbeiteter Auflage. Es trägt den Titel: «Ich mag dich – du nervst mich! Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben».

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