Dienstag, Juni 17

Einer der grossen Pianisten des 20. Jahrhunderts macht sich seit langem rar. Auf neue Einspielungen von Krystian Zimerman muss man Jahre warten, die Zahl seiner Auftritte begrenzt er streng. Doch jetzt begeistert er in Zürich mit einem besonderen Programm.

Der Pianist schaut ungläubig. Hat er soeben wirklich diesen Kraftakt vollbracht, alle diese abertausend Töne gespielt, die das Klavier zeitweilig in ein ganzes Orchester verwandeln? Der polnische Pianist Krystian Zimerman, seit langem in der Schweiz beheimatet, staunt nach seinem Konzert in der Tonhalle sichtlich über sich selbst. Und er braucht sogar ein paar Augenblicke, um wieder in der Realität anzukommen.

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Denn Karol Szymanowskis Variationen über eine polnische Volksweise op. 10, die Zimerman zum Abschluss seines Zürcher Klavierabends in der Reihe «Meisterinterpreten» gespielt hat, sind ein einziger Tastenrausch, eine wilde Stilmischung aus Chopin, Liszt, Skrjabin und frühem Rachmaninow. Das Stück von 1904 gilt als technische Gratwanderung und steht entsprechend selten auf den Programmen. Doch Krystian Zimerman, der nächstes Jahr siebzig wird, hat sich mit dieser Musik noch einmal neu erfunden.

Von Chopin zu Szymanowski

Nach dem Gewinn des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 1975 war Zimerman lange auf die Musik seines polnischen Landsmannes festgelegt worden – wie vor ihm Maurizio Pollini und nach ihm Rafał Blechacz oder Yulianna Avdeeva. Als «Chopin-Experte» zu gelten, ist in der Welt des Klaviers geradezu ein Ehrentitel, aber Zimerman erkannte früh die Gefahr einer Verengung seiner Künstlerpersönlichkeit.

Er pflegt deshalb von jeher ein viel breiteres Repertoire – nur ist dies leider allenfalls in Ausschnitten dokumentiert, da der äusserst selbstkritische Künstler kaum noch Aufnahmen freigibt und einige ältere sogar zurückgezogen hat. Man begann bereits zu befürchten, dieser Ausnahmepianist werde schon zu Lebzeiten sang- und klanglos verstummen. 2022 konnte jedoch eine Einspielung mit Werken von Szymanowski vor seinem strengen Urteil bestehen; seither spielt er diese Musik auch live bei seinen mittlerweile fast ebenso raren Soloauftritten.

In Zürich spürt man, dass es Zimerman dabei um ein Herzensanliegen geht: Er will die Musikwelt daran erinnern, dass es im Schatten Chopins noch mindestens einen weiteren polnischen Komponisten aus der Spätzeit der Romantik gibt, der mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Um dies zu verdeutlichen, baut Zimerman sein Tonhalle-Programm sehr klug, beinahe didaktisch auf. Er beginnt, gleichsam als Referenz, mit drei Nocturnes von Chopin, in denen er das Farbenspektrum seines Anschlags und die hier geforderte Kantabilität eindringlich vorführt – ganz im Sinne von Chopins Idee, das Klavier so nuanciert singen zu lassen, wie es sonst nur die menschliche Stimme vermag. Die Wiedergabe – übrigens durchwegs nach Noten, die als Erinnerungsstütze im Instrument liegen – wirkt allerdings zunächst etwas nervös und im Bassregister bisweilen verschwommen.

Als harter Kontrast zum lyrischen Beginn folgt die 2. Klaviersonate von Johannes Brahms – ein ebenfalls selten zu hörendes Jugendwerk aus dessen Hamburger Zeit, in dem Brahms um 1852 noch spürbar mit dem übermächtigen Beethoven-Erbe, mit Schumann, aber auch mit dem Hypervirtuosentum jener Epoche ringt. Die Parallele zu Szymanowski, der fünfzig Jahre später ähnlich am Erbe Chopins und Liszts zu tragen hat, ist aufschlussreich und einer der vielen raffinierten Querverweise in Zimermans Programm.

Vom etwas vollmundigen, gelegentlich ins Hypertrophe ausgreifenden Kampf des jungen Brahms mit sich und der Welt lässt sich Zimerman dennoch nicht überwältigen. Er dämpft die erregte Dynamik immer wieder bewusst ab, um gezielt einzelne Höhepunkte zu setzen, die aber nie die Grenzen des Flügels sprengen. Es ist eine Lesart aus der Perspektive des reifen, später deutlich gemässigteren Brahms. Eine solche abgeklärte Sicht kann einem Jugendwerk die experimentelle Frische nehmen; hier aber vertieft sie das Stück.

Bis zur Verausgabung

Mit den wunderbar klangsinnlich gespielten «Estampes» von Claude Debussy zeigt Zimerman nach der Pause einen weiteren Strang der Musikgeschichte auf, mit dem sich Szymanowski zur selben Zeit, kurz nach 1900, auf seinem Weg in die frühe Moderne auseinandersetzen musste. Es ist verblüffend, wie der Seitenblick auf den Impressionismus das Ohr für die delikate Klanglichkeit der abschliessenden Szymanowski-Variationen schärft. In ihnen fliessen dann alle zuvor skizzierten Einflüsse stimmig zusammen. Das wirkt nicht bloss geistreich und ausgesprochen sinnfällig programmiert – es ist ein dezidierter Gegenentwurf zur fortschreitenden Verengung der Werkauswahl auf einige wenige Renommierstücke, die leider auch bei Klavierabenden um sich greift.

Zimerman hat sich von jeher dagegengestemmt. Aber vielleicht noch nie so energisch und mit so viel innerem Überzeugungswillen, der hier am Ende fast zur völligen Verausgabung führt. Das Publikum in der trotz Wolkenbruch-Wetter am Sonntag gut gefüllten Grossen Tonhalle feiert ihn dafür mit Ovationen.

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