Die Philosophin Theodora Becker kritisiert die Prostitutionsdebatte. Käuflicher Sex lasse sich weder auf Gewalt noch auf eine Dienstleistung reduzieren, sagt sie. Sie arbeitete selbst zehn Jahre im Gewerbe.
Frau Becker, Sie machen eine Ehrenrettung der Prostituierten. Warum muss die Prostituierte gerettet werden?
Die Prostituierte muss gerade nicht gerettet werden. Mit Ehrenrettung der Hure meine ich die Verteidigung einer Faszination, die in der heutigen Prostitutionsdebatte verlorengegangen ist oder geleugnet wird.
Das müssen Sie erklären.
In den Medien und der politischen Debatte wird die Prostituierte einerseits als Opfer von Gewalt und Ausbeutung dargestellt, das gerettet werden muss, indem man das ganze Gewerbe verbietet. Andererseits sieht man die Prostituierte als selbstbewusste Geschäftsfrau, die bloss eine sexuelle Dienstleistung anbietet. Aus dieser Perspektive sollte das Gewerbe weiter entkriminalisiert werden. Beide Sichtweisen finde ich unbefriedigend.
Stattdessen ergründen Sie in Ihrem Buch «Dialektik der Hure» das Skandalöse, das der Prostitution anhaftet. Was macht sie skandalös?
Die Prostitution war in der bürgerlichen Gesellschaft lange das Verfemte. Gleichzeitig machte das Verbotene sie attraktiv. Das kommt besonders gut in der Kunst und der Literatur um 1900 zum Ausdruck, aber auch in den damaligen öffentlichen Debatten.
In Frank Wedekinds Drama «Lulu» wird das Strassenmädchen Lulu als das «wahre, das wilde, schöne Tier» beschrieben, dessen Natur es sei, zu verführen und Unheil zu stiften. Was sagt dieses Bild aus?
Die bürgerliche Skandalisierung mit der Verdammung der Prostitution kennt zwei Sichtweisen: einerseits die Prostituierte als Verbrecherin an der Gesellschaft, weil sie die Moral untergräbt. Andererseits die Prostituierte als Opfer eines gesellschaftlichen Verbrechens, da man ihre Arbeit zulässt. Auf die Prostituierte werden Sehnsüchte, aber auch Zerstörungs- und Gewaltphantasien projiziert.
Ist das heute nicht mehr so?
Der Skandal macht sich nicht mehr am Sex, sondern an der Gewalt fest. Das verweist auf ein verändertes Verhältnis zu Sexualität: einer Liberalisierung, aber auch einer Banalisierung. Käuflicher Sex ist kaum mehr anrüchig, sondern selbstverständlich geworden. Weil man die Prostitution nicht mehr moralisch verurteilen kann, sind nun die Zwangsverhältnisse skandalös, die der Prostitution angeblich in jeder Form zugrunde liegen, und nicht mehr die Käuflichkeit selbst.
Aber man spricht inzwischen auch von «Sexarbeit», was seriös und nach einem normalen Beruf klingt. Ein Fortschritt?
Es war die Hurenbewegung, die ab den späten 1970er Jahren auf Prostitution als Arbeit bestanden hat. Das war einerseits wichtig, so wurden viele Rechte erkämpft. Andererseits aber schliesst diese Idee auch an eine bürgerliche Tradition an: von der Prostitution als einer sachlichen Verrichtung, die auf ordentliche Weise irgendwelche sexuellen Überschüsse und Triebenergien kanalisiert und damit unschädlich macht, und die deshalb gesellschaftlich notwendig ist. Wenn sie sich in die gesellschaftliche Ordnung einfügt, kann sie auch als Arbeit gelten – das scheint heute möglich zu sein.
Liegt nicht schon in der Kombination von Sex und Arbeit ein Widerspruch?
Sexuelle Lust ist dem, was wir unter Arbeit verstehen, entgegengesetzt, insofern haben Sie recht. In der Prostitution ist beides aber tatsächlich miteinander verknüpft. Mit der Sexualität ist mehr verbunden, als die Formulierung sexuelle Dienstleistung nahelegt.
Und das wäre?
Es ist zumindest komplizierter. Das Sexgewerbe braucht die Illusion, dass auch von der Seite der Prostituierten ein gewisses Begehren im Spiel ist. Andernfalls wird bezahlter Sex reduziert auf einen technischen Akt, eine erweiterte Masturbation. Dann könnte man die Prostituierte auch durch eine Puppe ersetzen oder gleich Pornos schauen. Der Freier will aber die reale Frau.
Sie sprechen von Begehren. Verklären Sie die Prostitution damit nicht?
Natürlich spielt auch das Begehren in der Prostitution eine Rolle. Kein Freier würde zu einer Prostituierten gehen, wenn da nicht irgendeine Form von Begehren wäre. Die Prostituierte spielt oder arbeitet damit. Das ist eine notwendige Voraussetzung. Nur so kann sie diesen Job erfolgreich verrichten. Wenn man nicht über das Begehren spricht, kann man nicht über Prostitution sprechen.
Aber eben, es ist bei der Sexarbeiterin ein vorgespieltes Begehren.
Klar, aber der Kunde muss dennoch darauf hereinfallen. Und das macht sie ja aus bürgerlicher Perspektive so suspekt: Die Prostituierte manipuliert den Kunden, indem sie sich scheinbar seinen Wünschen anschmiegt. Sie tut so, als würde sie ihn auch begehren, dabei geht es ihr um Geld.
An der Figur der Prostituierten veranschaulichen Sie die kapitalistische Widersprüchlichkeit: Sie verkauft etwas, das in Wahrheit nicht erhältlich ist. Sie nennen sie die perfekte Ware. Warum ist sie das?
Bei der Prostituierten werden Ware, Werbung und Verkäuferin ununterscheidbar. Um für ihre Ware zu werben, muss die Prostituierte für sich selbst werben und sich als begehrenswertes Objekt präsentieren. Die Prostituierte scheint sich zu verkaufen, dann verkauft sie sich aber auch wieder nicht, denn sie ist ja keine Sklavin, sondern bleibt Subjekt. Sie arbeitet mit der Suggestion, dass ihr Begehren käuflich ist, und dass ihr Freier nicht nur eine sexuelle Handlung erwirbt, sondern sie begehren kann, während er es in Wirklichkeit nur mit seiner Projektion zu tun hat.
Das, was die Prostituierte verkauft und der Freier kauft, ist also nicht dasselbe?
Die Prostitution beruht von Anfang an auf einem Scheinverhältnis: Es wird etwas beworben, was nicht zum Verkauf steht. Diesen Widerspruch kriegt die bürgerliche Gesellschaft nicht sortiert. Sie denkt: Es ist doch ein Skandal, da verkaufen Frauen sich selbst! Dann wieder erscheint ihr deren Tätigkeit als ein elaborierter Betrug.
Sie sagen oft «Hure». Das ist heute ein abwertender Begriff. Warum verwenden Sie ihn?
Prostituierte ist der bürgerliche Begriff. Sich zu prostituieren bedeutet, dass sich jemand verkauft und sich dabei entehrt und erniedrigt. Es ist eine moralische Abwertung, die den Unterschied zur ehrlichen Arbeit deutlich machen soll. Den Begriff «Hure» hat die Hurenbewegung in den 1980er Jahren rehabilitiert. Wir sind Huren, hiess es da plötzlich selbstbewusst. Der Begriff drückt einen Stolz aus: Wir stehen zu dem, was wir tun. Wir wollen gar nicht normal arbeiten wie die anderen. Im Entscheid für die Prostitution oder eben die Hurerei steckt auch etwas Rebellisches.
Hat die Prostituierte eine Berufsehre?
Damit meine ich einen gewissen Stolz auf das Stigma. Man sagt mit dieser Berufswahl auch: Ich durchbreche die Konventionen. Ich unterwerfe mich keinen Regeln. Deshalb nimmt mich die Gesellschaft nicht in ihrer Mitte auf. Das habe ich so gewählt, wie der Künstler, der sich bewusst gegen einen 9-to-5-Job entscheidet und damit unabhängig bleibt.
Befürworter eines Prostitutionsverbots weisen auf die fehlende Menschenwürde der Prostituierten hin. Was ist mit der Würde?
Es ist heuchlerisch, wenn es heisst, die Prostituierte müsse gerettet werden, da ihre Menschenwürde gefährdet sei in ihrem Beruf. Was macht man damit? Dann schickt man die Frauen dorthin zurück, wo sie herkommen. Im Zweifelsfall haben sie kein Einkommen mehr. Man fühlt sich legitimiert, die Prostituierte zum reinen Opfer zu machen, das externe Hilfe benötigt, anstatt anzuerkennen, dass der Beruf vielleicht nur eine schlechte Wahl ist, aber trotzdem noch die beste. Gut möglich, dass die Prostituierte selber darüber nachgedacht hat, warum sie dies tut.
Trotzdem könnte man Ihnen vorwerfen, dass Sie eine Tätigkeit, die Frauen aus Not wählen, romantisieren. Laut Studien prostituieren sich 80 bis 90 Prozent der Frauen nicht freiwillig. Was sagen Sie dazu?
Diese Studien sind unzuverlässig und methodisch höchst fragwürdig. Es liegt mir aber auch fern, das reale Elend zu verleugnen. Ich glaube nur nicht, dass man mit diesem moralischen Verbotsdiskurs weiterkommt. Dieser beschreibt nur eine Seite. Man glaubt zu wissen, was für alle Frauen richtig und gut ist. Solche Studien sollen belegen, dass Prostitution immer Gewalt, Ausbeutung und Erniedrigung der Frau bedeutet. Sie blendet aus, dass eine Prostituierte auch eine Machtposition einnehmen kann, die sie bewusst wählt und in der sie vielleicht sogar Lust empfindet.
Sexuelle Lust gegenüber dem Freier?
Solche Lust war früher unter professionellen Prostituierten verpönt. Auch das gehörte zur Berufsehre. Heute vermischt sich das zusehends, das Tauschverhältnis ist noch tiefer in Beziehungen eingedrungen, und es scheint auch kein Skandal mehr zu sein. Es gibt die Girlfriend-Experience, die Freundin zum Mieten, oder das sogenannte Sugar-Dating, wohlhabende Person mit junger Geliebter oder Geliebtem. Das alles sind Tauschverhältnisse. Prostitution ist nicht mehr klar abgrenzbar.
Dennoch ist die Zwangsprostitution noch einmal etwas anderes. Schweden hat seit 25 Jahren ein Sexkaufverbot. Dieses skandinavische Modell, bei dem sich nicht die Prostituierte, sondern nur der Käufer von Sex strafbar macht, wird auch in der Schweiz und in Deutschland diskutiert. Könnte man so nicht viel Elend vermeiden?
Schweden wird immer als Vorbild genannt. Dort ist die Prostitution aber nicht verschwunden. Das Verbot hat zu einer noch stärkeren Diffamierung und Diskriminierung der Frauen geführt, die trotzdem dieser Tätigkeit nachgehen. Es findet eine Remoralisierung der Gesellschaft statt. Wer für ein Prostitutionsverbot ist, will einen Aspekt der Sexualität verbannen, der einem schmutzig, unkorrekt, gewaltsam, gefährlich oder überschreitend vorkommt. Das Überschreiten von Normen ist nicht nur positiv, aber es ist ein Teil der Sexualität, der sich in der Prostitution gesellschaftlich auf sehr sichtbare Weise äussert. Man kommt nicht weiter, indem man sagt: Wir verbieten das jetzt einfach, und dann haben wir ein Problem gelöst.
Sprechen Sie eigentlich auch aus eigener Erfahrung?
Wenn Sie so direkt fragen: ja. Ich habe selber zehn Jahre als Prostituierte gearbeitet. In Deutschland, und auch in der Schweiz. In den Bordellen habe ich ganz unterschiedliche Frauen und ihre Realitäten und Motivationen kennengelernt.
Der Verlag schreibt nichts dazu, im Netz muss man die Information suchen. Warum sind Sie so zurückhaltend?
Ich habe keine Lust auf diese Standpunkt-Debatten. Es käme mir auch geschummelt vor, das Buch damit zu verkaufen, als wollte ich sagen: Ich war selbst Prostituierte, die Leute müssen mir also glauben. Das Buch muss für sich selbst sprechen. Es nervt mich, wenn man meint, dass man authentische Erfahrung in etwas braucht, um öffentlich darüber reden zu dürfen.
Theodora Becker: Dialektik der Hure. Von der «Prostitution» zur «Sexarbeit». Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2023. 591 S., Fr. 41.90.