Donnerstag, April 24

Schon seit dem Teenageralter kämpft Amine Kessaci für die Opfer des Drogenkrieges und gegen die Ignoranz der Politik. Nun will er selbst etwas in der Politik bewegen.

Amine Kessaci war 16 Jahre alt, als sein älterer Bruder Brahim Opfer einer Abrechnung unter Drogenbanden wurde. Am frühen Morgen des 29. Dezember 2020 entdeckte die Polizei Brahims Leiche unter einem Autobahnzubringer bei Les Pennes-Mirabeau, nördlich von Marseille. Zusammen mit einem Freund war er erschossen und in einem Auto verbrannt worden. Lokale Medien schrieben von einem «barbecue marseillaise», einer grausamen Methode der Spurenverwischung. Es dauerte fast eine Woche, bis die Polizei die verbrannte Leiche identifizieren konnte.

Brahim und Amine wuchsen mit vier Geschwistern in Frais-Vallon auf, einem berüchtigten Stadtteil in den «quartiers nord» von Marseille. Wie viele Einwanderer aus dem Maghreb fanden auch ihre Eltern hier eine neue Heimat, als sie aus Algerien in die Hafenstadt kamen. Die Viertel gehören zu den ärmsten in ganz Frankreich. Fast die Hälfte der über 350 000 Einwohner lebt unter der Armutsgrenze. In einigen Gegenden liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 70 Prozent.

Als Brahim getötet wurde, war er 22 Jahre alt und hatte bereits eine fast zehnjährige Laufbahn im Drogenmilieu hinter sich. Schon mit 13 Jahren verkehrte er mit den lokalen Dealern, brach die Schule ab und stieg in den Handel mit Cannabis und Kokain ein. Dann wurde seine Freundin schwanger und Brahim mit 20 Vater eines kleinen Mädchens. Wenig später überlebte er einen ersten Mordversuch, als Unbekannte neun Schüsse auf ihn abfeuerten. Brahim sei ins Kreuzfeuer geraten, weil er sich seiner Familie habe widmen und aus dem Geschäft habe aussteigen wollen, erzählt sein Bruder Amine im Gespräch. Doch das ist in Marseilles Drogengeschäft nicht vorgesehen. «Wer aussteigen will, endet entweder im Gefängnis oder auf dem Friedhof», sagt er.

Amine schlug einen anderen Weg ein. Die Eltern entschieden, den Jüngeren auf eine Schule ausserhalb von Frais-Vallon zu schicken. Er schloss die Matur mit Bestnoten ab und studiert nun Jura in Teilzeit. Hauptsächlich engagiert sich der inzwischen 20-Jährige aber mit seinem Verein «Conscience» für die Opferfamilien im Drogenkrieg von Marseille. Ihre Zahl wächst.

Die Zahl der Opfer in Marseilles Drogenkrieg steigt

Anzahl Morde im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen von Drogenhändlern in Marseille, seit 2012

Sein Bruder war 2020 eine von 21 Personen, die in Marseille im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen rivalisierender Banden getötet wurden. Im vergangenen Jahr kam es in der zweitgrössten Stadt Frankreichs zu 49 sogenannten «narchomicides». Die Zahl der Verletzten stieg im Vergleich zum Vorjahr fast um das Dreifache. Selbst das historische Zentrum von Marseille, eine wohlhabendere Gegend, bleibt nicht mehr verschont. Auch dort können Unbeteiligte ins Kreuzfeuer minderjähriger Kleindealer geraten, die mit Sturmgewehren um sich schiessen.

Amine Kessaci kennt ihre Geschichten genau. Der junge Mann sitzt an diesem Morgen in einem spärlich eingerichteten Büro im Nordosten Marseilles, nur wenige Autominuten von den Plattenbauten von Frais-Vallon entfernt. Das Gebäude, das früher einmal eine Schule war, ist nun der Hauptsitz von «Conscience».

Die Jugendlichen, die auf Marseilles Strassen töten und sterben, seien nur die kleinen Handlanger. «Die eigentlichen Drahtzieher und grossen Bosse lenken die Geschäfte aus Thailand, Dubai oder Marokko», schimpft er. Zurück bleiben die Angehörigen der Opfer – und die Frage, wer die Bewohner der Stadt vor dem Terror der Kartelle schützt.

Nördliche Arrondissements

Zwischen Ignoranz und Stolz

Auf den Staat sei dabei kein Verlass, meint Kessaci. Das hat er Präsident Macron auch gesagt, als dieser die Mittelmeermetropole im September 2021 besuchte. Videos von dem Gespräch der beiden schafften es landesweit in die Nachrichten. Vor einem Grossaufgebot an Presse und Polizei hatte Macron zuvor seinen Plan «Marseille en grand» präsentiert.

Er versprach, fünf Milliarden Euro in die Renovierung maroder Schulgebäude, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und weitere Infrastruktur zu investieren. Besonderes Augenmerk lag auf der Stärkung des Sicherheitsapparat in der Stadt. Fast 440 Polizisten wurden neu eingestellt, drei Einheiten der schwerbewaffneten Spezialkräfte CRS-8 sind ständig in der Stadt. Sie führen regelmässig Einsätze in den «quartiers nord» durch, um Drogendealer zu vertreiben. Diese Repressionsstrategie ist nicht neu. Sie wurde in Marseille schon in den siebziger und achtziger Jahren angewandt.

Macrons Pläne beeindruckten Kessaci schon 2021 nicht: «Es bringt nichts, mit einem Plan, den Sie in Paris oder im Flugzeug ausgearbeitet haben, hierherzukommen», sagte der Teenager zu einem fleissig nickenden Macron. Der Präsident müsse mehr mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten, denn nur sie wüssten, was wirklich vor sich gehe.

Macron hat Kessaci danach noch zweimal zum Gespräch gebeten – einmal sogar im Pariser Élysée-Palast. Auch wenn sich Kessaci Mühe gibt, dies scheinbar beiläufig zu erwähnen: Seinen Stolz kann er nicht ganz verbergen. Die Botschaft sei jedes Mal dieselbe gewesen, erzählt er. Doch der Präsident wolle viel reden, höre aber kaum richtig zu.

Die Enttäuschung und die Wut darüber schlummern bei dem 20-Jährigen unter der Oberfläche und kommen bisweilen unvermittelt in einem Schwall präzise formulierter Tiraden zum Vorschein. Der sanfte Eindruck, den Kessaci mit seiner leicht untersetzten Statur und dem runden, jugendlichen Gesicht zunächst macht, verfliegt dann sofort.

Allein wieder auf die Beine

Kessaci wirkt aber keineswegs entmutigt, sondern vielmehr entschlossen, die Dinge eigenhändig zurechtzubiegen. Schon vor dem Tod seines Bruders gründete er den Verein «Conscience». Der Teenager wollte damals primär die Lebensbedingungen in seiner Nachbarschaft verbessern. Er organisierte Aktionen zum Abfallsammeln, versorgte Bedürftige mit Essen und vermittelte Handwerker für dringend benötigte Reparaturen.

Dann wurde sein Bruder getötet. «Niemand hat uns in dieser Zeit geholfen», sagt Kessaci. Zwar verbreitete sich die Nachricht von den zwei verbrannten Leichen schnell im Quartier, es vergingen jedoch mehrere Tage, bis die Polizei die Familie erstmals kontaktierte. Danach passierte lange nichts. Der Justizapparat in Marseille ist notorisch überlastet und kann mit der Bewältigung der Morde und Mordversuche kaum mehr Schritt halten.

Die Mörder seines Bruders wurden nach einigen Monaten in Marokko gefasst, doch für Kessaci blieb die bittere Erkenntnis: Angehörige werden im Drogenkrieg oft alleingelassen. Entsprechend baute er die Arbeit im Verein aus. «Conscience» kümmert sich nun auch um Opferfamilien. Wann immer Kessaci von einer Tragödie erfährt, trifft er zusammen mit dem Psychologen und dem Anwalt der Organisation die Angehörigen der Opfer. Der Verein organisiert Essen, bietet Trost und unterstützt bei den bürokratischen Herausforderungen, die im Zusammenhang mit dem Tod auftreten können, einschliesslich der Identifizierung der Leiche und der Organisation des Begräbnisses. Über 120 Familien waren das in den letzten drei Jahren. Manchmal, sagt Kessaci, erschrecke er selbst darüber, wie sehr der Ablauf nach einem Mord für ihn inzwischen zur Gewohnheit geworden sei.

In den letzten drei Jahren wuchs sein Verein stark, inzwischen zählt «Conscience» über 3000 Mitglieder. Die Organisation lebt von Spenden, Stiftungsgeldern und dem freiwilligen Engagement ihrer Mitglieder. In Kessacis Büro gehen sie ein und aus, eine Frage da, eine Unterschrift dort, daneben ein ständig klingelndes Handy. Der junge Mann wirkt selten entspannt. Und doch mag er es nicht, wenn Entscheidungen an ihm vorbei getroffen werden. Das bekommt an diesem Tag auch ein Mitarbeiter zu spüren, den er am Telefon mit deutlichen Worten zurechtstutzt. Dazu erklärt Kessaci schlicht: «Dass ich jung bin, heisst nicht, dass ich dumm bin.»

Trotzdem wäre ohne die Mütter und Grossmütter, die den Verein hauptsächlich tragen, kaum etwas möglich. «Sie sind es, die diese Gemeinschaft zusammenhalten.» Und die Väter? Er verschränkt seine Arme und reagiert schmallippig. Sein eigener Vater wurde nach Algerien abgeschoben, als Kessaci noch ein kleiner Junge war. Wie viele Frauen im Quartier war Amines Mutter danach alleinerziehend.

Um ihre Familien zu unterstützen, müssen oft schon die Kinder eine Arbeit suchen. Auch da versucht der Verein zu helfen. Regelmässig telefoniert Kessaci bei Unternehmen und fragt, ob sie Jugendlichen eine Ausbildung oder Arbeit bieten können. Es ist sein Versuch zu verhindern, dass sie ins Drogengeschäft abrutschen.

Schwerbewaffnete Polizisten beeindrucken kaum

Der Drogenhandel bleibt der präsenteste Arbeitgeber in den Plattenbauten. An den lukrativsten Handelsplätzen der Stadt werden laut Polizeiangaben täglich 50 000 bis 80 000 Euro umgesetzt. Auch in Frais-Vallon sind die Umschlagplätze unübersehbar. Dabei, erklärt Kessaci, als er das Auto unweit von einem der Plätze abstellt, gehöre Frais-Vallon noch zu den besseren Siedlungen. «Bei uns ist nur ein Hochhaus wirklich unbewohnbar.»

Das Viertel mit seinen rund 8000 Einwohnern hat eine Metrostation. Es ist die einzige in allen nördlichen Arrondissements. Nicht weit vom Eingang entfernt zeigen Graffiti den Weg zum nächsten Deal-Punkt und listen auf, was zu welchem Preis zu kaufen ist. Etwas Cannabis kostet hier rund 15 Euro, wenig mehr als ein Päckchen Zigaretten an einem Kiosk. In Frankreich macht Cannabis 80 Prozent des Gesamtkonsums aller Drogen aus, mit ungefähr 10 Millionen Konsumenten. Unter ihnen geben rund 3 Millionen an, regelmässig oder täglich zu konsumieren.

Den Kundenservice haben die Dealer längst digitalisiert. Sie bieten einen Lieferservice an und informieren ihre Kunden, wenn durch die anrückende Polizei Verkaufsunterbrüche entstehen. Die schwerbewaffneten Sicherheitskräfte fahren auch an diesem Nachmittag mit sieben Einsatzfahrzeugen vor. Vermummte Beamte umstellen ein Gebäude, durchsuchen den Treppenaufgang und notieren Nummernschilder der Autos auf dem Parkplatz. Dann ziehen sie wieder ab. Das Vorgehen beeindruckt die Dealer kaum. In einem ihrer Telegram-Kanäle heisst es schlicht: «CRS vor Ort, wir sind später wieder zurück.»

Die Banden haben überall sogenannte «guetteurs», Späher, die warnen, sobald die Ordnungshüter im Anmarsch sind. Schmierestehen ist der Einstiegs-Job für Jugendliche, die kaum älter als 12 Jahre sind. Auch Brahim Kessaci rutschte so in das Geschäft. Für ihre Dienste erhalten Späher täglich zwischen 100 und 150 Euro. So steht es in den Stellenanzeigen in den sozialen Netzwerken, wo die Kartelle um Mitarbeiter werben. Sie bieten Aufstiegschancen, ein Zimmer im Quartier und «etwas zu rauchen». Schnell werden die Minderjährigen so abhängig vom Kartell.

Cannabislegalisierung und Rückkehr zur Quartierpolizei

Dass sich die Drogenbanden in den Vierteln derart sicher fühlen, dafür macht Kessaci auch die Abschaffung der Quartierpolizei verantwortlich. 2003 entschied der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy, die sogenannte «police de proximité» abzuschaffen. Diese war 1998 landesweit eingeführt worden, um die Beziehungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei zu stärken. Doch das Verhältnis zwischen den Einsatzkräften und den Anwohnern war Sarkozy als Verfechter einer strikten Sicherheitspolitik zu eng geworden.

Polizisten seien keine Sozialarbeiter. Ausserdem koste die Quartierpolizei zu viel, beschied er und baute die Stellen sukzessive ab. Ein kapitaler Fehler, sagt heute nicht nur Kessaci, denn das Verschwinden einer ständigen Polizeipräsenz sei ein weiteres Zeichen dafür gewesen, dass der Staat die «quartiers nord» aufgebe. Nun fehlen die Einsatzkräfte überall, neue Polizisten zu rekrutieren, dauert lange und ist schwierig.

Die Quartierpolizei müsse zurückkehren, fordert Kessaci. Ausserdem ist für ihn klar: «Wir haben den Kampf gegen Cannabis verloren.» Die Regierung solle die Droge deshalb legalisieren. Das würde dem Staat Einnahmen und den Konsumenten Sicherheit bezüglich der Reinheit des Stoffs bringen, argumentiert er. Es sind Massnahmen, die er mit seiner Vereinsarbeit nicht durchsetzen kann. Dafür braucht es die Politik.

Kessaci hat deshalb den nächsten Schritt gewagt. Er ist den Grünen beigetreten und kandidiert bei der Europawahl im Juni. Eine nachhaltige Lebenswelt sei schliesslich nicht nur etwas für «bobos», also wohlhabende Städter, sagt er. Die Partei befürwortet aber auch die Cannabislegalisierung und eine Rückkehr der Quartierpolizei. Sollten die Grünen ihr Ergebnis von 2019 wie erwartet halten können, ist Kessaci ein Sitz im Strassburger EU-Parlament gewiss. Frais-Vallon wird er auch dann nicht verlassen. «Ich bin hier zu Hause, das ist mein Quartier», sagt Kessaci, und in seiner Stimme klingt Stolz mit.

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