Der deutsche Historiker Jörn Leonhard hat die Gewaltgeschichte der Menschheit durchstreift. Und sucht nach Wegen aus dem Krieg.
Ukraine. Gaza. Wie kommt man da wieder heraus? Wann und vor allem wie soll der Krieg enden? Jörn Leonhard hat dazu eine Art Bedienungsanleitung verfasst – nicht im engeren, aber im weiteren Sinne. Dies stellt der Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau selbst klar. Bereits im Klappentext seines neuen Buchs weist er darauf hin, dass Geschichte sich nicht wiederhole und auch keine Konzepte für die Probleme der Gegenwart liefere. Aber er zieht aus der Gewaltgeschichte wertvolle Erkenntnisse, wie und warum Kriege geendet haben.
Bei Leonhards Streifzug durch die Kriegsgeschichte werden Muster und Raster sichtbar, die zeitlos wirken und daher den Rahmen bilden könnten auch für heutige Wege zu einem Kriegsende. So stellen sich die meisten historischen Pfade zum Frieden als verschlungen dar – sie wurden immer wieder verzögert oder unterbrochen. Und je länger ein Krieg dauerte, je mehr Opfer er kostete, desto unübersichtlicher und widersprüchlicher verliefen sie in Leonhards Wahrnehmung.
Ein zentraler Befund dabei: Wann und wie ein Krieg ende, dieser Prozess lasse sich nicht auf den Moment beschränken, in dem Sieger und Besiegte einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag unterzeichneten. Dahinter stehen nach Leonhards Analyse vielmehr meist komplizierte Verläufe: von einer ersten Waffenruhe über einen stabilen Waffenstillstand, einen Vorfrieden bis zu einer internationalen Friedenskonferenz und einem schliesslich ratifizierten Friedensvertrag.
Frieden ohne Aussöhnung?
Auch die Fragen, die hierbei aufgeworfen werden, wirken zeitlos. Sie werden heute genauso gestellt wie bereits vor Jahrhunderten: Wodurch endet ein Krieg? Kündigt sich sein Ende bereits mit der aus Verlusten und Opfern gewonnenen Erkenntnis gegenseitiger Erschöpfung von Ressourcen an, aus der die Einsicht in die Notwendigkeit von Frieden folgt und sich ein Fenster für Diplomatie öffnet? Oder entsteht Frieden erst mit einem allmählich nach Jahren und Jahrzehnten wieder belastbaren Vertrauen zwischen ehemaligen Gegnern?
Kann es einen stabilen Frieden ohne die Aussöhnung zwischen Individuen, Familien, Gemeinschaften, die Anerkennung von Opfern und Verbrechen, von Schuld und Schulden zwischen ganzen Gesellschaften geben? Und ab wann steht verlässlich fest, ob ein Vertrag wirklich Frieden schafft oder ob es sich dabei lediglich um einen temporären Waffenstillstand handelt, eine taktische Atempause, um neue Ressourcen zu mobilisieren und den Krieg dann umso entschiedener fortzuführen?
Mit Blick auf die gegenwärtige Lage in der Ukraine und die im Westen regelmässig erhobenen Forderungen nach Friedensverhandlungen mit Russland scheint besonders aktuell, was Leonhard aus historischer Erfahrung über die besonderen Schwierigkeiten berichtet, ein erstes Zeichen auszusenden, das Friedensbereitschaft signalisiert.
Die Schwäche des Gegners
Friedenssondierungen unterlagen nach seiner Untersuchung schon immer einer komplexen Psychologie: Die Erschöpfung der eigenen Ressourcen habe ein Ende des Krieges nahelegen mögen, aber der Gegner habe in einem solchen Schritt genau jene Schwäche erkennen können, die aus seiner Sicht für eine Fortsetzung des Krieges gesprochen habe.
Hinzu kommt nach Leonhards historischer Empirie: Jedes Signal in Richtung einer grösseren Konzessionsbereitschaft habe sich auch so interpretieren lassen, dass der Gegner noch schwächer sei als man selbst. Die eingestandene Friedensbereitschaft einer Seite habe so die Hoffnung der anderen bestärken können, die eigenen Ziele doch noch militärisch zu erreichen. In einem solchen Fall führte dann der vermeintlich erste Schritt in Richtung Frieden in Wirklichkeit zur Fortsetzung des Krieges – ein Phänomen, das auch die Szenarien eines Umgangs mit Putins Russland im Westen prägt.
Ebenso mit Bezug auf den heutigen Nahen Osten dürfte gelten, was Leonhard bereits mit Blick auf die Vergangenheit des Dreissigjährigen Krieges in Europa erkennt: So mancher Konflikt musste nach langen Gewaltphasen erst einmal langsam ausbrennen, damit Diplomatie überhaupt eine Chance hatte. Sollte sie dann auch noch erfolgreich sein, war dafür in vielen Fällen die Einsicht der Akteure in die Erschöpfung der eigenen Ressourcen und Handlungsoptionen notwendig. Erst wenn der Glaube an die Möglichkeit eines eigenen Sieges erodiert war, wuchs die Chance einer Friedenssondierung.
Verrat an den Opfern
Angesichts der hohen Verluste in der Ukraine auf russischer wie auf ukrainischer Seite sollte man sich dort auf ein Szenario einstellen, das Leonhard ebenfalls aus der Gewaltgeschichte der Menschheit zitiert: die Verlängerung des Krieges durch sich selbst. Als Ursache dafür führt er an, dass in vielen Kriegsgesellschaften angesichts der zahlreichen Opfer und Lasten jede scheinbar vorzeitige Konzession, jede Friedensbereitschaft wie Defaitismus und Verrat wirke.
So zeigen Leonhard gerade die Endphasen vieler Kriege im 20. Jahrhundert, in denen Politiker und Militärs begannen, die Begrenztheit ihrer Ressourcen zu verstehen und die Fragilität der eigenen Kriegsgesellschaft realistisch einzuschätzen, dass ebendies häufig Anlass war, die Gewalt noch einmal zu intensivieren.
Es ging dann darum, für absehbare Friedensverhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition zu erlangen und dem Gegner die eigene Handlungsfreiheit vorzuführen. Zum Weg in den Frieden gehört für Leonhard folglich nicht allein die schmerzvolle Einsicht in die gegenseitige Erschöpfung, sondern immer auch die Bereitschaft zum taktischen Einsatz von Gewalt.
Das politische Überleben
Für die kriegerische Gegenwart Europas wagt Leonhard auf Grundlage seiner historischen Studien eine Prognose, die überaus wirklichkeitsnah erscheint: Angesichts der dokumentierten Fähigkeit der Ukraine, mithilfe westlicher Waffen Territorien zurückzuerobern, seien dort die Erwartungen gestiegen, dass es gelinge, den Krieg erfolgreich fortzusetzen. Dahinter werde derzeit keine politische Führung in Kiew zurücktreten können, ohne die eigene Legitimation zu beschädigen – auch wenn die Erfolge auf dem Schlachtfeld sich nicht so einstellen sollten wie erhofft.
Demgegenüber erkennt Leonhard in Putins Entscheidung, mit der Mobilisierung den Krieg und seine Opfer mitten in die russische Gesellschaft hineinzutragen, eine erhebliche Risikobereitschaft – nach innen wie nach aussen. Denn im Wissen darum, dass die Verluste im Kontext der sowjetischen Intervention in Afghanistan ab 1979 massgeblich zur Erosion der Sowjetunion beigetragen hätten, gehe es für Putin um das eigene politische und sogar physische Überleben. Und so dürfte sich auch für den russischen Präsidenten zunehmend die Frage stellen: Wie kommt man da wieder heraus? Wann und vor allem wie soll der Krieg enden?
Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen. Verlag C. H. Beck, München 2023. 208 S., Fr. 22.50.