Die amerikanische Autorin Ayana Mathis zeichnet mit «Am Flussufer ein Feuer» nicht zuletzt ein Bild afroamerikanischer Eigenverantwortung.
Die amerikanische Autorin Ayana Mathis beginnt ihre Geschichte in der Hoffnungslosigkeit. 13 Jahre alt ist der Junge, der mit einem Rucksack auf den Schultern und einem Glassplitter in der blutigen Wange über die Ephraim Avenue in Philadelphia stolpert. Der Vater ist tot, die Mutter im Gefängnis, die Grossmutter viele Kilometer und eine fast vergangene Welt entfernt. Von dem Haus, in dem das Kind, dessen Name Toussaint Wright ist, zuletzt eine Familie hatte, steht nur noch der verkohlte Rumpf.
In Toussaints Rucksack liegen Briefe von seiner Grossmutter Dutchess und seiner Mutter Ava. Als trage der Junge mit den geschriebenen Zeilen auch das Vermächtnis dieser beiden vorangegangenen Generationen auf den Schultern.
Ein Griff ins Leere
Elf Jahre nach ihrem Debütroman, «Zwölf Leben», liefert Mathis mit «Am Flussufer ein Feuer» mehr als einen Familienroman. Sie macht afroamerikanische Geschichte sicht- und fühlbar; gerade jetzt, wo die Geschichtsbücher besonders in republikanisch geprägten Gliedstaaten immer weisser werden. Etwa, indem Bücher über Sklaverei, Apartheid und Rassismus in manchen Bibliotheken nur noch beschränkt zugänglich sind und im Unterricht zum Teil nicht mehr behandelt werden.
Dem Verdrängen setzt Mathis ihr detailliertes, manchmal mahnendes und zuweilen schmerzhaftes Erzählen entgegen. Drei Figuren, drei Generationen, die die USA von Süd bis Nord zu begreifen versuchen. Eine Grossmutter, so unverblümt, dass sie wie ein Sammelbegriff für ihre gesamte Generation erscheint. Eine Mutter, so unfassbar, dass Identifikation und Nähe weder ihrem Sohn noch ihrer eigenen Mutter und auch nicht der Leserin gelingen. Und schliesslich der Sohn, der eigentliche Protagonist, der mit beiden Händen Heimat, Bedeutsamkeit, Zugehörigkeit – irgendetwas – fassen will und doch meist ins Leere greift.
Im Süden die Geschichte
Mathis erzählt von Dutchess, die in einer afroamerikanischen Kooperative in den amerikanischen Südstaaten lebt. In Bonaparte gibt es einige Häuser und Traditionen, eine Post und ein Zutrittsverbot für Weisse. In einer Zeit, in der in Amerika die Busse und Toiletten noch nach Hautfarbe getrennt waren, hing vor dem Gemischtwarenladen ein Schild, auf dem «Nigger willkommen» stand.
Dieser Zeit trauert Dutchess nach. Weil ihre Tochter sie damals noch brauchte und ihr Mann noch nicht von Weissen erschossen worden war. Weil Bonaparte sich selbst genügte und seine Kinder nicht das Bedürfnis hatten, im segregierten amerikanischen Süden ihr Glück ausserhalb der Kooperative zu suchen.
Weil also die Fronten klar waren und die Leute wussten, wie und wofür sie kämpften: gemeinsam gegen Rassentrennung und für Gleichberechtigung. Die Bürgerrechtsbewegung hatte klare Ziele. Sie teilweise erreicht zu haben, war ein Triumph und gleichzeitig ein Verlust dessen, was die afroamerikanische Community im fiktiven Bonaparte zusammengehalten und angetrieben hatte.
Im Norden die Zukunft
Nun, Mitte der achtziger Jahre, ist das Schild vor Bonapartes Gemischtwarenladen längst weg, ebenso die Jungen, die ihre Zukunft lieber im Norden vorantreiben als im rückständigen Süden. In Philadelphia oder New York sollen mehr Arbeit, mehr Geld, mehr Gleichberechtigung und – darauf hoffen am Ende ja doch immer alle – das Glück warten.
Auch Ava gehört zu denen, die gingen. Ava, über die Dutchess sagt: «Sie ist auch nicht der fürsorgliche Typ. Kann sich kaum selbst versorgen. Es ist, als ob sie sich ständig selbst im Weg steht.» Ava sucht ihr Glück an vielen Orten und in einigen Menschen.
Bei den Black Panthers fand sie anstelle ihres Willens zum Kampf für Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit einen Mann. Schwanger wurde sie mehr, um ein Stück des Mannes für immer bei sich behalten zu können, und weniger, um eine Mutter zu sein. Geheiratet hat sie schliesslich einen anderen Mann, in der Hoffnung auf Ruhe und eine Alltäglichkeit, die sie eigentlich verabscheut.
Auch Ava führt Mathis im Moment bodenloser Hoffnungslosigkeit ein. Ihr Sohn Toussaint ist mittlerweile elf Jahre alt. Seinen Vater und seine Grossmutter kennt er nur aus Erzählungen. Avas neuer Mann übt psychische Gewalt gegen sie und Toussaint aus, bis sie schliesslich ins Mutter-Kind-Heim fliehen, wo Ava vor lauter Verletzungen, an der Psyche und am Stolz, beinahe vergeht.
So sehr ist Ava mit ihren Sorgen beschäftigt, dass für den Sohn nur wenig Aufmerksamkeit bleibt. Die Mutter in Alabama könnte helfen. Doch ihr verschweigt Ava alles: das Kind, die Gewalt und das ganze Unglück. Dann kommt Toussaints Vater zurück. Cass bringt Ideen, Sinn und eine Ahnung von Heimat ins Leben von Ava und Toussaint. Erst mal.
Die Nacht, in der die Cops kamen
Cass, einst Mitglied der Black Panthers, ist der Anführer der afroamerikanischen Kommune «Ark». Als Arzt will er kostenlose Gesundheitsversorgung für die schwarzen Menschen im Quartier anbieten. Arks Mitglieder sollen vegetarisch leben, Gemüse aus dem Garten essen statt verarbeitete Lebensmittel und sich so vom weissen, kapitalistischen Lebensstil emanzipieren und heilen. Die Kinder sollen von der Natur und den anderen Mitgliedern lernen, statt zur staatlichen Schule zu gehen. Lange vor Ava spürt Toussaint, dass die Kommune mehr Kult als Familie ist, Cass mehr Diktator denn Vater.
Wie einst in Bonaparte ist auch für Cass der Rassismus Übel und Mittel zugleich – denn er gibt Ark seinen Sinn und presst die Mitglieder mit eisernem Griff zur Gemeinschaft zusammen.
Schliesslich gipfeln die Ablehnung der Nachbarn und der Rassismus der Polizei in einer nächtlichen Hausdurchsuchung, bei der menschenverachtend mit den Mitgliedern von Ark umgegangen wird. «Die Cops stiessen Ava an die Wand gegenüber den Erkerfenstern. Toussaint sass mit Handschellen auf dem Fussboden, keinen halben Meter von ihr entfernt. Handschellen an ihrem Jungen, der kaum vierzig Kilo wog, der zierlich war, mit schmalen Schultern und einem Kindergesicht. Die anderen Jungen standen beim Fenster, auch sie in Handschellen.»
Ein schwerer Rucksack
Während Ava und Toussaint im Norden sich selbst zu verlieren drohen, steht Dutchess im Süden vor dem Verlust ihres Grund und Bodens. Sie kämpft gegen einen behördlich arrangierten Landraub: Grundeigentum wird von schwarzen auf weisse Menschen übertragen, neue Steuerpflichten werden eingeführt, und Schulden tauchen auf, von denen die Hausbesitzer in Bonaparte noch nie etwas gehört hatten, die aber auf der Stelle mittels Geld oder Landbesitz beglichen werden müssen.
Mathis erzählt die beiden Geschichten, jene in Philadelphia und jene in Alabama, aus wechselnden Perspektiven. Einmal spricht Dutchess, dann wieder fokussiert ein namenloser Erzähler auf Toussaint oder blickt in Avas Gedanken, bevor die Sichtweise einer Randfigur ins Zentrum gerückt wird. Damit gelingt Mathis eine vielschichtige Erzählung über die Ereignisse rund um Ark und Bonaparte und deren Bewohner.
All das packt Mathis in schnörkelloser Sprache – von Susanne Höbel in ein ebenso nüchternes Deutsch übersetzt – in Toussaints mentalen Rucksack. Da ist der Wunsch hinzuzugehören, an einem Ort, zu einer Familie und als vollwertiges Mitglied zu einer Gesellschaft. Daneben die Forderung nach Eigenverantwortung, der Mathis Aufruhr und Ablehnung von Weissen entgegensetzt, die immer dann auftreten, wenn schwarze Menschen sich tatsächlich für ein selbstbestimmtes Leben entscheiden. Sie packt dem Kind auch einen Schmerz auf den Rücken, ein Sehnen, von dem weder Mutter noch Grossmutter wussten, wie es zu stillen sei. Rassismus, die Black-Panther-Bewegung, Polizeigewalt, familiäre Enttäuschungen und psychische Gewalt kommen nebeneinander zu liegen. Und während Bonaparte selbstverwalteten afroamerikanischen Gemeinschaften nachempfunden ist, spiegelt Mathis mit Ark die 1985 schliesslich auf behördliche Anordnung zerstörte Kommune «MOVE».
Toussaints metaphorischer Rucksack ist schwer. Doch am Ende ist er alles, was ihm bleibt. Damit zeichnet Mathis auch ein Bild afroamerikanischer Eigenverantwortung. Denn was Toussaint mit dem Inhalt seines Rucksacks, zu dem auch ein Packen Hoffnung gehört, macht, bleibt ihm überlassen.
Ayana Mathis: Am Flussufer ein Feuer. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Höbel. DTV, München 2024. 428 S., Fr. 33.90.