Freitag, September 20

Gewalt, Armut, Unfähigkeit, Korruption: Auf über tausend Seiten schildert der deutsche Historiker Jörg Baberowski grandios den Untergang des Zarenreichs. Und hat dabei immer die Gegenwart im Blick.

Jörg Baberowski ist der Philosoph unter den Osteuropahistorikern. Wie selbstverständlich fliessen ihm Zitate von Platon über Thomas Hobbes bis zu Hannah Arendt in die Feder, wenn er die späte Zarenzeit auf mehr als tausend Seiten analysiert. Episch ist alles an diesem Buch: die Weitwinkeleinstellung, mit der Baberowski alle russischen Menschen vom Bauern bis zum Zaren im Mahlstrom der Geschichte verfolgt; die erschöpfende Quellensammlung, die über 500 Positionen umfasst; und schliesslich die Generalthese des Widerstreits des Staatsungeheuers Leviathan und des gewalttätigen Volkskörpers Behemoth.

Baberowskis Leitfrage ist, was das Zarenreich im Innersten zusammenhielt und welches die Gründe für seinen Zusammenbruch waren. Schon der Titel seines Buchs signalisiert, dass Baberowski mehr als Ereignisgeschichte im Sinn hat. «Der sterbliche Gott» ist der Zar, der seine Legitimation aus seinem Gottesgnadentum ableitete – bis zur bitteren Abdankung im März 1917.

Sterblich waren allerdings nicht nur die einzelnen Vertreter der Romanow-Dynastie, von denen jeder auf seine Weise an der gesellschaftlichen Wirklichkeit Russlands scheiterte, sondern auch die Institution der Autokratie, die nach der Revolution von 1905 in eine ernsthafte Krise geriet und schliesslich am Ende des Ersten Weltkriegs das Schicksal des deutschen Kaiserreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs teilte.

Europa wartet, denn der Zar fischt

Baberowski setzt mit seiner detaillierten Darstellung in jenem Moment ein, in dem sich das autokratische System unter Alexander II. liberalisierte. Nach dem Tod des autoritär regierenden Zaren Nikolai I. beugte sich Alexander II. der Einsicht, dass die Leibeigenschaft nicht mehr zu halten war, und entliess die Bauern in eine rechtliche Freiheit, die aber keineswegs das Ende feudaler Abhängigkeiten bedeutete. Glücklich war der Befreier-Zar jedoch nicht. Seinem Innenminister vertraute er an, dass er Russland eigentlich verachte.

Bald sah sich Alexander II. mit Mordanschlägen und Terrorakten konfrontiert. Wenn der Herrscher sein Reich bereiste, wurden mehrere Züge hintereinander abgefertigt – in welchem Zug sich der Zar aufhielt, war ein Staatsgeheimnis. Trotz allen Vorsichtsmassnahmen wurde Alexander II. 1881 Opfer eines Bombenattentats.

Sein grobschlächtiger und ungebildeter Sohn Alexander III. zog sich in seine Residenz in Gatschina zurück und regierte mit eiserner Faust. Um Diplomatie scherte er sich wenig. Als ihn ein ausländischer Botschafter sprechen wollte, liess er ihn stundenlang antichambrieren: «Europa wird warten können, wenn der Zar fischt.» Russlands letzter Monarch Nikolai II. war ein willensschwacher Mann, der sich mit Mikromanagement beschäftigte und darüber die Staatsgeschäfte aus den Augen verlor.

Baberowskis eigentliche Helden sind allerdings nicht die allzu menschlichen Herrscher Russlands. Seine wahre Aufmerksamkeit und Wertschätzung gilt den Staatslenkern, die eine strategische Verantwortung für die Regierung trugen. Sie heissen Michail Loris-Melikow, Pjotr Swjatopolk-Mirski, Pjotr Stolypin und – allen voran – Sergei Witte.

Epidemien, Korruption

Alle diese Minister waren Workaholics, die sich jedoch zwischen dem kapriziösen Willen des Zaren und den berechtigten Forderungen der liberalen Opposition aufrieben. Letztlich setzte jeweils ein Gewaltakt von oben oder von unten den Reformbestrebungen ein jähes Ende. Loris-Melikow kämpfte gegen Epidemien, Korruption und soziale Missstände. Er versuchte, durch eine gute Staatsführung die Herzen der Untertanen zu gewinnen. Seine Ära endete mit der Ermordung des Zaren 1881.

Pjotr Swjatopolk-Mirski setzte sich für eine Konstitutionalisierung der Monarchie ein, musste aber die Verantwortung für den Blutsonntag von 1905 auf sich nehmen, als Kosaken eine friedliche Demonstration blutig auflösten. Pjotr Stolypin arbeitete an einer vielversprechenden Agrarreform, wurde aber 1911 von einem Anarchisten erschossen.

Das Wirken dieser tragischen Lichtgestalten wird in Baberowskis Darstellung noch übertroffen von der hellen Sonne Sergei Wittes. Als politisches und administratives Universalgenie trieb er den Bau der Transsibirischen Eisenbahn voran, trat für eine kapitalistische Modernisierung der Wirtschaft ein und handelte nach der militärischen Niederlage im Krieg gegen Japan einen vorteilhaften Friedensvertrag für Russland aus. Allerdings manövrierte er sich durch seine Reformvorschläge, die dem Zaren zu weit und den Liberalen zu wenig weit gingen, schliesslich ins Abseits. Im Dezember 1905 hegte er sogar Selbstmordgedanken.

Die Gewalt des Staates

Man mag sich fragen, weshalb Baberowski einem traditionell anmutenden, ja sogar weitgehend abgeforschten Thema so viel Blut, Schweiss und Tränen akademischer Arbeit widmet. Die Antwort muss lauten: Baberowski ist mit seinem Buch ein grandioser Wurf gelungen. Er ist ein begnadeter Erzähler, der die Tragödie Russlands sowohl von oben als auch von unten auf überzeugende Weise schildert.

Er zeigt Momente auf, in denen auf beiden Seiten fatale Fehlentscheidungen getroffen wurden. Immer wieder übte der Staat seine Gewalt rücksichtslos aus. Als 1861 die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet wurde, trauten die Bauern im Dorf Besdna den Beamten nicht und behaupteten, sie hätten in Tat und Wahrheit das Land erhalten. Eine Kosakeneinheit feuerte schliesslich in die Menge. 51 Tote und 77 Verletzte waren zu beklagen.

Umgekehrt zeigten sich auch die Revolutionäre kompromisslos. Im Vorfeld der Krönungsfeierlichkeiten für Alexander III. 1883 unterbreitete der Hofminister der Revolutionärin Wera Figner ein Stillhalteangebot: Wenn die Narodowolzen sich vom Terrorismus lossagten, dann gäbe es eine Amnestie für die politischen Gefangenen und die Pressefreiheit würde gewährt. Figner lehnte ab, weil sie nicht mit dem Gegner paktieren wollte. Damit war aber der Weg zu einem sozialen Frieden verbaut.

Das Zarenreich und die Ukraine

Baberowski hält die versiegelte Epoche der Romanow-Monarchie gegen die unaufhaltsam nach vorne drängende Zeit der liberalen und sozialistischen Opposition. In diesem Spannungsfeld spielt sich das grosse russische Drama zwischen Staat und Gesellschaft ab. Der tiefste Grund für Baberowskis akribisches Interesse an der späten Zarenzeit liegt allerdings in seinen Fragen an die gegenwärtige russische Krise. Was war, dient ihm als Deutungsschema für das, was sein könnte.

Immer wieder hat sich Baberowski seit der Krim-Annexion mit kontrovers diskutierten Meinungsbeiträgen zu Wort gemeldet. Dabei forderte er Kompromisse, um Schlimmeres zu verhindern. So sprach er sich nach 2014 für eine Teilung der Ukraine aus, deren östliche Gebiete Russland zugeschlagen werden müssten. Bis heute warnt er vor den fatalen Folgen einer Rückeroberung der Krim: Hier seien Fakten geschaffen worden, die nicht ohne Blutvergiessen rückgängig gemacht werden könnten.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat ihn – wie viele andere Experten – überrascht. Anders als etwa der Kulturhistoriker Alexander Etkind, der sich einen Zerfall der Russischen Föderation wünscht, warnt Baberowski vor einem solchen Szenario. Wenn Russland auseinanderfalle, dann versinke es im Chaos. Als wichtigste Begründung dient ihm dabei der Untergang des Zarenreichs, der in einen blutigen Bürgerkrieg und die Errichtung der bolschewistischen Diktatur mündete.

Baberowski wendet die Grundopposition von Macht und Gewalt im Zarenreich auch auf Putins Regime an: Die staatliche Herrschaft, so ungerecht sie in ihrer Ausführung sein mag, hält aus seiner Sicht gewaltbereite Akteure in Schach. Diese prekäre Balance kann aber bei der Schwächung der Regierung kippen. Den narrativen Nachweis für seine historiosophische These führt Baberowski mit hohem Kenntnisreichtum und beeindruckender Sprachkraft.

Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 1368 S., Fr. 69.90.

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