Der früher nur im mündlichen Umgang verwendete Dialekt wird immer mehr verschriftlicht. Das zeigt ein Blick von aussen auf die Schweizer Sprachlandschaft.
In der Deutschschweizer Bevölkerung können die meisten sofort zuordnen, ob jemand Berner, Appenzeller, Basler, Walliser, St. Galler oder Bündner Dialekt spricht. Die Dialekte gelten als Festungen, die niemand einnehmen kann, denn sie gehören zur Deutschschweizer Identität.
Dass sich aber vieles bewegt und ändert, lässt sich mit einem Blick von aussen leichter feststellen als von innen. Diesen Blick von aussen wirft Marina Rumjanzewa, die vor dreissig Jahren aus Russland in die Schweiz eingewandert ist. Sie konnte bereits recht gut Deutsch, als sie während eines Sprachpraktikums in Moskau Aufnahmen auf St.-Galler-Deutsch abhören musste – und nichts, aber auch gar nichts verstand. Damals wusste sie noch nicht, dass sie dereinst einen Schweizer heiraten und nach Zürich ziehen würde. Dialekte, die sie damals fast zur Verzweiflung getrieben hatten, gehörten nun zum Alltag in der neuen Heimat.
Eltern verstehen Kinder nicht mehr
Marina Rumjanzewa hat über ihre «Expedition in eine unbekannte Sprache» ein gescheites, kenntnisreiches und unterhaltsames Buch geschrieben. Nach dem Moskauer Schock folgte nämlich der Zürcher Schock: Die Autorin und andere Mütter und Väter stellten plötzlich fest, dass ihre Kinder Chat-Nachrichten und SMS auf Dialekt schrieben. Die Kinder schrieben in der Schule Hochdeutsch, aber unter sich und mit der Zeit dann auch an die Adresse der Eltern Schweizerdeutsch.
Es war «fingered speech», wie der New Yorker Linguistikprofessor John McWhorter es nannte: Die Kinder benahmen sich wie im mündlichen Austausch, sie formulierten schnell, spontan, mit kurzen Einwürfen – und mit Rechtschreibefehlern.
Früher galt: Niemand spricht in der Deutschschweiz so, wie er schreibt, und niemand schreibt so, wie er spricht. Das Sprechen im Alltag war das Terrain des Dialekts, das Schreiben war dem Hochdeutschen vorbehalten. Jetzt, nach der Jahrtausendwende, bildete sich unter dem Einfluss des Internets eine «Zweischriftlichkeit» aus, wie die emeritierte Freiburger Linguistikprofessorin Helen Christen diagnostizierte.
Und zunehmend werden auch Videos in Dialekt untertitelt. Dafür ist eine Art Einheitsschweizerdeutsch nötig. Es gebe ein Bedürfnis nach Normen für die Dialektverschriftlichung, und deshalb beginne sich das schriftliche Schweizerdeutsch vom gesprochenen zu lösen, so Helen Christen. Zwar bleibt das Hochdeutsche in der Schweiz präsent, weil die Schweizerinnen und Schweizer in hohem Mass deutsche und österreichische Medien konsumieren und weil die Romands und die Tessiner, aber auch die Immigranten Deutsch gelernt haben, nicht aber Dialekt. Wobei für die Immigranten gilt, dass in ihrem Bewusstsein erst das Beherrschen des Schweizerdeutschen sie zu Schweizern macht.
Schweizerdeutsch als Landessprache
Die Standardsprache wird aber in einer Schweizer Version gesprochen, und Radio- oder Fernsehmoderatoren, die ein Bühnendeutsch sprechen, müssen umlernen. Da viele Schweizerinnen und Schweizer in ihrem Alltag überhaupt nie Hochdeutsch sprechen und da fast alle Eidgenossen glauben, die Standardsprache schlechter zu sprechen als die Deutschen, findet die Deutschschweizer Bevölkerung ihre Identität im Dialekt; er ist ihre Muttersprache oder, wie es der emeritierte Basler Germanistikprofessor Heinrich Löffler formulierte, «die fünfte inoffizielle Landessprache» – neben Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
Zunehmend dringt auch das Englische vor. Bereits 21 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz sprechen an ihrem Arbeitsplatz Englisch. So dass die Befürchtung, die der frühere Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz ausgesprochen hatte, immer realistischer wird: Die beiden Landessprachen der Schweiz seien «l’anglais et le Schwizerdütsch».
Marina Rumjanzewa: Schwiizerdütsch. Expedition in eine unbekannte Sprache. Dörlemann-Verlag, Zürich 2024. 175 S., Fr. 20.–.