Samstag, Dezember 21

Die Liberalen Nathalie Fontanet und Christelle Luisier präsidieren die Regierungen Genfs und der Waadt. Sie kritisieren die jüngste Sparrunde des Zürcher Medienkonzerns so scharf, dass auch Linke applaudieren.

Überall auf der Welt fusionieren und verschwinden klassische Tageszeitungen, neue Online-Medien entstehen. In der Westschweiz spart Tamedia erneut bei seinen Titeln, aber der «Blick» und «Watson» haben 2021 neue Redaktionen in Lausanne geschaffen. Wo ist das Problem?

Fontanet: Tamedia erwirtschaftet Gewinne und schüttet Dividenden an ihre Aktionäre aus. Der Konzern hat durch seine Struktur bewusst Unternehmen geschaffen, die Gewinne erwirtschaften, und andere, die Kostenstellen sind. Tamedia behandelt Medien wie ein gewöhnliches Konsumgut. Das sind sie aber nicht. Wir brauchen vielfältige, lokale Medien, die es der Bevölkerung ermöglichen, sich eine Meinung zu bilden.

Luisier: Da stimme ich sehr zu. Mir ist durchaus bewusst, dass die Medien sich verändern, insbesondere durch die Digitalisierung. Aber für uns zählt der Erhalt journalistischer Inhalte. Letztlich halten auch sie unsere Demokratie am Laufen. Der Entscheid von Tamedia führt zu einer weiteren Verarmung der Medienlandschaft in der Romandie, weil wir an lokaler Verankerung und publizistischer Vielfalt verlieren.

Tamedia will auch verstärkt Artikel aus der Deutschschweiz ins Französische übersetzen.

Luisier: Solche Inhalte beziehungsweise die Verweise darin sind oft nicht relevant für die Romandie. Wenn Interviewpartner beispielsweise ausschliesslich Deutschschweizer sind, fehlen die Besonderheiten der Romandie. Tamedia sagt, es werde auch vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Da sind wir wegen der bisherigen Erfahrung skeptisch, vor allem bei politischen Nachrichten.

Die «Tribune de Genève» wird praktisch mit den Lausanner Zeitungen «24 heures» und «Le Matin Dimanche» fusioniert. Aber Genf wird weiterhin zwei Tageszeitungen haben, «Le Temps» und «Le Courrier». Reicht das nicht?

Fontanet: Die «Tribune» wird nicht mit «24 heures» fusionieren. Es wird eine gemeinsame Chefredaktion in der Waadt geben, die Genfer Redaktion wird zu einem Ableger. «Le Temps» ist breiter und weniger genferisch als die «Tribune», «Le Courrier» ist von der Grösse her nicht vergleichbar. Genf hat eine Reihe von politischen Besonderheiten, auch durch das internationale Genf. Dafür brauchen wir die «Tribune de Genève». Wenn Tamedia den Titel nicht in gutem Zustand erhalten will, dann soll sie ihn abgeben oder verkaufen.

Sie fordern Tamedia auf, die «Tribune» notfalls kostenlos abzugeben?

Fontanet: Ich habe das bereits zu Tamedia gesagt: Wenn sie nicht in der Lage ist, die «Tribune» als Qualitätszeitung mit einer unabhängigen Redaktion und genügend Journalisten zu erhalten, muss die Zeitung kostenlos abgegeben oder verkauft werden.

Kennen Sie potenzielle Käufer?

Fontanet: Dafür ist es zu früh. Wir haben verschiedene Treffen geplant. Der Genfer Staatsrat ist natürlich nicht in der Lage, die «Tribune» zu übernehmen. Wir können lediglich Kontakte zu möglichen Interessenten herstellen.

Die Genfer Regierung ist Vermittler zwischen Tamedia und potenziellen Käufern?

Fontanet: Vermittler ist ein sehr grosses Wort. Wir wissen noch nicht, ob unsere Treffen zu Resultaten führen werden. Aber es ist uns wichtig, auf die Entscheidungen von Tamedia zu reagieren.

Frau Luisier, Tamedia will «24 heures» zum Medium für die Westschweiz machen. Ist das keine Aufwertung?

Luisier: Es gibt keine einheitliche Medienöffentlichkeit, die die gesamte Romandie umfasst. Ich glaube, es wäre sehr schwierig für eine Waadtländer Leserschaft, eine Walliser Zeitung zu lesen. Genauso schwierig wäre es für «24 heures», die Stimme der gesamten Romandie zu werden. Heutzutage können sich Zeitungen ja gerade durch lokale Nachrichten von der Konkurrenz abheben. Aber die Fusion der Redaktionen ist weit davon entfernt.

«24 heures» erhielt von 2021 bis 2023 vom Kanton Waadt eine Viertelmillion Franken an indirekter Presseförderung. Das werfe Fragen auf, sagten Sie kürzlich. Wollen Sie das Geld zurückverlangen?

Luisier: Nein. Tamedia erhielt 170 000 Franken hauptsächlich für die Veröffentlichung von Anzeigen. Es würde Fragen aufwerfen, wenn Tamedia weiterhin diese indirekte Hilfe erhielte, weil das Unternehmen Gewinne macht, aber Entlassungen vornimmt. Aber Tamedia hat im März von sich aus auf die Hilfe verzichtet.

Frau Fontanet, die linke Zürcher Zeitung «WoZ» hat Sie für Ihre scharfe Kritik an Tamedia gelobt. Sind Sie im Herzen links?

Fontanet: Ich freue mich, dass ich noch überrasche. Auch eine FDP-Frau in Führungsposition sorgt sich um die Zukunft, die Vielfalt und die Qualität der Medien. Dieses Thema betrifft uns alle. Wir lassen uns nicht in Schubladen stecken.

Frau Luisier, Sie kämpfen in der Wahrnehmung von Tamedia-Angestellten, mit denen ich sprach, weniger energisch für die lokale Presse als Frau Fontanet.

Luisier: Es gibt Dinge, die können wir als Staatsrat nicht tun: Tamedia ihr Verhalten vorschreiben oder gar selbst einen Titel aufkaufen. Aber wir können die Tamedia-Führung empfangen und auf sie einwirken, damit sie etwa das Arbeitsrecht respektiert, das Verfahren für Massenentlassungen. Und wir können für die Vielfalt der Medien kämpfen.

Sie fürchten, dass Tamedia sich nicht ans Arbeitsrecht hält?

Luisier: Sobald wir davon hörten, dass es Entlassungen geben könnte, haben wir die Tamedia-Geschäftsführung getroffen und ihr die verschiedenen Fristen für die Konsultation mit der Belegschaft erklärt. Wir haben auch interveniert, damit Tamedia diese Frist verlängert. Wir sind also präventiv vorgegangen.

Frau Fontanet, auch Sie haben die Tamedia-Geschäftsführung getroffen. Wie verlief Ihr Gespräch?

Fontanet: Es war etwas angespannt, weil wir uns ein paar Dinge zu sagen hatten. Aber wir gingen beruhigt aus dem Treffen. Und dann weckte die Ankündigung von Tamedia Mitte September wieder all unsere Ängste. An unserem Treffen war nie die Rede davon gewesen, die Redaktionen der «Tribune» und von «24 heures» in der Waadt zusammenzulegen und Genf zu einer Aussenstelle zu machen.

Fühlen Sie sich von Tamedia an der Nase herumgeführt?

Fontanet: Ich glaube, man wollte uns beruhigen. Wir waren ein wenig leichtgläubig und wollten vertrauen. Übrigens stellen wir auch fest, dass es in der Deutschschweiz weiterhin drei Redaktionen in Zürich, Bern und Basel gibt und dass niemand sie infrage stellt. Uns ist schon klar, wo Tamedia seinen Schwerpunkt setzt.

Frau Luisier, Sie haben mit Ihrer Regierung kürzlich beschlossen, die Papierversion des Waadtländer Amtsblatts einzustellen. Die Zeitung wird bei Tamedia in Bussigny bei Lausanne gedruckt und macht Gewinn. Wie können Sie in Ihrer Kritik an Tamedia glaubwürdig sein?

Luisier: Na ja, das sind keine Gewinne, vielmehr gibt der Staat eine Million für Anzeigen aus, die Gemeinden eine weitere halbe Million. Wir sind zusammen mit Appenzell Innerrhoden der letzte Kanton der Schweiz, der so arbeitet. Wir wollen auf ein digitales, kostenlos zugängliches Amtsblatt umstellen, indem wir uns der Plattform des Staatssekretariats für Wirtschaft anschliessen. Aber ich weiss, dass es eine schwierige Debatte ist. Wir werden mit den Kantonsrätinnen und -räten noch einmal darüber sprechen.

Tamedia will seine Druckerei in Bussigny im März schliessen. Was bedeutet das für die Romandie?

Luisier: Es geht viel Savoir-faire verloren, und natürlich die Arbeitsplätze. Die Konsequenz ist, dass Westschweizer Zeitungen in Bern gedruckt werden. Dadurch wird der Redaktionsschluss deutlich vorgezogen. Gewisse Nachrichten erscheinen nicht mehr am nächsten Morgen auf Papier, zum Beispiel die Ergebnisse von Fussball- und Eishockeyspielen. Das ist ein echtes Problem. Es macht auch Abonnements unattraktiver.

Genf ist noch weiter weg von Bern und hätte wohl einen noch früheren Redaktionsschluss.

Fontanet: Ja, am späten Nachmittag, wurde uns gesagt. Dadurch werden die Debatten des Grossen Rates und des Gemeinderats nicht mehr am nächsten Tag abgedeckt.

170 Persönlichkeiten aus der Westschweiz haben kürzlich einen Aufruf gegen die Sparpläne von Tamedia veröffentlicht, unter ihnen der Privatbankier Guy Demole, der Schriftsteller Joël Dicker und der Musiker Stéphane Eicher. Formiert sich in der Romandie breiter Widerstand, der Tamedia noch beeinflussen könnte?

Fontanet: Die Besorgnis ist gross. Ich freue mich, dass sie nicht nur von Linken geteilt wird, sondern weit darüber hinaus. Unser Grosser Rat hat Stellungnahmen dazu fast einstimmig, mit Ausnahme einer Fraktion, angenommen. Wird das die Position eines Grosskonzerns wie Tamedia verändern? Ich weiss es nicht. Die Gesamtstrategie ist schon älter, und sie hat zur heutigen Situation geführt.

Frau Luisier, könnten Mäzene oder Stiftungen eines Tages «24 heures» übernehmen?

Luisier: Der Titel steht derzeit nicht zum Verkauf. Ich hatte auch keinen Kontakt zu jemandem, der «24 heures» hätte übernehmen wollen.

Nicht nur Tamedia spart in der Romandie, auch die Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR, wegen der gekürzten Gebühren.

Luisier: Es besteht das Risiko, dass das Geschehen in der Romandie weniger gut abgedeckt wird. Ich möchte dazu betonen, dass ein Kanton allein nichts ausrichten kann. Wir müssen kohärent sein, insbesondere bei der indirekten Medienförderung und bei der Strategie für die SSR. Selbst der Gegenvorschlag des Bundesrates auf die SSR-Initiative sieht ja Einnahmenkürzungen vor.

Fontanet: Der Kanton Genf ist von den Kürzungen der SSR stark betroffen. Zwei Drittel der 55 eingesparten Vollzeitstellen fallen bei uns weg. Ausserdem wird die SSR ja ab 2025 vermehrt Aktivitäten in Ecublens bei Lausanne konzentrieren. Auch das beunruhigt uns sehr. Und zur Qualität der Medien: Es ist einfach, zu schimpfen und geringere Medienabgaben zu verlangen. Aber irgendwann verarmen wir in diesem Bereich. Wenn unsere Medien nicht in den Händen von Personen enden sollen, die deren Qualität und Unabhängigkeit nicht garantieren können, dann müssen wir sehr gut aufpassen.

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